IMI-Standpunkt: Ukraine und der „Nahen Osten“ – Die Entlarvung der „regelbasierte Ordnung“

Von Bernhard Klaus

Die „Zeitenwende“ als Ausnahmezustand niedriger Intensität

Nur drei Tage nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 in seiner historischen Rede vor dem Bundestag eine Zeitenwende an. Sie läutete in Deutschland eine Art Ausnahmezustand niederer Intensität ein. Ein Beispiel hierfür auf juristischer Ebene ist das von der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse ausgenommene Sondervermögen für die Bundeswehr. Eine derart umfangreiche Nettokreditaufnahme sah das Grundgesetz nur „im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“, vor. Dass der russische Angriff auf die Ukraine bzw. die vermeintliche Unterfinanzierung der Bundeswehr als solche klassifiziert werden könnte, ist in mehrfacher Hinsicht zweifelhaft. Deshalb hatte Scholz schon in seiner Rede eine Verfassungsänderung angekündigt, die dann recht schnell und reibungslos vom Parlament abgesegnet wurde – obwohl es sich dabei um „ein verfassungsrechtliches Novum“ handelte (Hanno Kube).

Auch sonst lässt man seit der Ausrufung der Zeitenwende gerne mal fünfe gerade sein.

Das gilt im juristischen bzw. exekutiven Bereich vor allem in den ersten Monaten z.B. für die weitgehende Tolerierung offener Rekrutierungsbemühungen für die ukrainische Armee und der offensichtlichen Diskriminierung russischer Staatsangehöriger bis hin zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten (vermeintlicher) russischer Oligarchen und deren Angehörigen.

Juristisch nicht anfechtbar und im politischen Betrieb keineswegs neu, aber doch mit erstaunlicher Offenheit und Eindeutigkeit war die Abkehr mehrerer Regierungsparteien von eindeutigen Wahlversprechen und Festlegungen in deren Partei- und Wahlprogrammen. „Wir … wollen mit einer restriktiven Ausfuhrkontrolle europäische Rüstungsexporte an Diktaturen, menschenrechtsverachtende Regime und in Kriegsgebiete beenden“, hieß es etwa im Bundestagswahlprogramm der Grünen und weiter: „Für die Reduktion von europäischen Rüstungsexporten wollen wir eine gemeinsame restriktive Rüstungsexportkontrolle der EU mit einklagbaren strengen Regeln und Sanktionsmöglichkeiten“. Im „Zukunftsprogramm“ der SPD kündigte man gar eine „abrüstungspolitische Offensive“ an und versprach: „Für uns ist eine restriktive Rüstungsexportpolitik zentral“. Gut drei Monate nach der Vereidigung des Kabinetts am 8. Dezember 2021 wurden die Weichen in die exakt entgegengesetzte Richtung gestellt. Wie gesagt, justiziabel ist das nicht, stellt aber in dieser Offenheit doch wesentliche Grundannahmen des Parlamentarismus in Frage.

Besonders spürbar wurde jedoch ein diskursiver Ausnahmezustand im Zuge der Zeitenwende. In Windeseile wurde es zum kaum hinterfragbaren Allgemeinplatz, dass dieser Konflikt nur mit militärischer Gewalt zu „lösen“ sei und Waffen „Leben retten“. Wer sich anmaßte auch nur darauf hinzuweisen, dass Waffen v.a. Tod und Zerstörung bringen und hierzu hergestellt werden, sah sich schnell dem Verdacht ausgesetzt, dem erklärten Feind das Wort zu reden. Für den deutschen Kontext besonders eklatant war die Heroisierung und Würdigung ukrainischer Militäreinheiten, die zumindest in der Vergangenheit eine klar faschistische Prägung aufwiesen und die Hofierung des bekennenden Bandera-Anhängers und ehemaligen ukrainischen Botschafters in Berlin, Andrij Melnyk, als willkommener Gast und Stichwortgeber in Politik und Medien. Für hiesige Verhältnisse wurde die Kritik jüdischer Verbände und israelischer Vertreter damals ziemlich lange ignoriert, bis sie letztlich doch zu seiner Abberufung nach Kiew führte – von wo aus er aber weiter als Stichwortgeber fungiert. Ganz beiläufig wurden Begriffe wie „Vernichtungskrieg“, „Überfall“ und „Annexion“, die zuvor nahezu ausschließlich für das deutsche Handeln im Zweiten Weltkrieg Anwendung fanden, wenig reflektiert auf das russische Vorgehen angewandt und damit gewissermaßen auch entsorgt.

Verteidigung der „regelbasierten Ordnung“

Als zentrale diskursive Figur, um diesen Ausnahmezustand niedriger Intensität und die Infragestellung bisher geltender Normen zu rechtfertigen, fungiert die „Verteidigung der regelbasierten Ordnung“. Diese umfasst verschiedene Elemente und Narrative. Eines davon besteht in der damals vielfach aufgestellten Behauptung, dass Putin nun erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa eine Grenze durch Gewalt verschieben wolle. In Scholz‘ Zeitenwende-Rede formulierte dieser das etwas eleganter: „Er [Putin] zertrümmert die europäische Sicherheitsordnung, wie sie seit der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte“. Richtiger ist das trotzdem nicht, wie z.B. die (unumstrittene) Existenz Kroatiens und die (umstrittene) Existenz des Staates Kosovo auf Anhieb veranschaulichen.

Eine weitere Spielart der Verteidigung der regelbasierten Ordnung besteht in der Erzählung, dass nun ein globales Bündnis der Demokratien einem mächtiger werdenden Bündnis der Autokratien gegenüberstehe und sich militärisch behaupten müsse. Die Substanz dieser vermutlich durchaus wirkmächtigen Erzählung – die gewisse Ähnlichkeiten zu Bushs „Achse des Guten“ aufweist – ist dünn. Schließlich gehören demnach auch die Türkei, Marokko und Saudi Arabien zum Bündnis der Demokratien, bei denen zweifelhaft ist, warum diese als demokratischer gelten sollten, als Russland oder gar Südafrika. Besonders eklatant war beispielsweise auch der Widerspruch zwischen diesem Narrativ und der rasant ausgebauten Zusammenarbeit Deutschlands z.B. mit der PIS-Regierung in Polen während der ersten Monate des Krieges in der Ukraine.

Weitgehend unbestritten ist, dass der russische Einmarsch in die Ukraine ein eklatanter Bruch des Völkerrechts ist. Es ist beileibe nicht der erste. Zur „Verteidigung der regelbasierten Ordnung“ gehört jedoch in diesem Falle das weit verbreitete Narrativ, dass man Putin „damit nicht davonkommen lassen dürfe“, weil sonst der Bruch des Rechts zur Norm werde. „Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf“, so Scholz in seiner Zeitenwende-Rede. Um diese Frage ging es nicht, als die Regierung Bush 2003 den Irak angriff und auch nicht, als er bereits zuvor vor den Augen der Weltöffentlichkeit die außergerichtliche Folter und Verschleppung von Terrorverdächtigen – nahezu ausschließlich arabischer Abstammung und muslimischen Glaubens – abgesegnet hatte.

Allerdings ist es ein grundsätzliches Missverständnis, unter dem, was mit der regelbasierten Ordnung gemeint ist, das Völkerrecht oder anderes Recht zu verstehen. Der Begriff fand zunächst Anwendung in der US-Außenpolitik, wurde in NATO-Strategiedokumenten und transatlantischen Thinktanks übernommen und hat es mittlerweile zunehmend in alltägliche außenpolitische Stellungnahme von deutschen Regierungsverteter*innen und Kommentare geschafft. Zwar wird in offiziellen Dokumenten gerade in Deutschland oft ein Bezug zur Charta der UN hergestellt und das Völkerrecht vage als Teil der „regelbasierten Ordnung“ dargestellt. Wenn beide allerdings deckungsgleich wären, bräuchte es keinen neuen Begriff. Was die regelbasierte Ordnung neben und über das Völkerrecht hinaus umfasst, ist allerdings vage. Im entsprechenden Beitrag der deutschsprachigen Wikipedia heißt es aktuell entsprechend ganz treffend, es handle sich mehr um einen „politische[n] Begriff für Konzepte teils entgegengesetzter Auffassungen ohne klare Definition. […] Der Begriff wird politisch genutzt, um Staaten zur Einhaltung von Regeln aufzufordern, denen sie nicht zugestimmt haben und die daher für sie nicht bindend sind“. Der Wikipedia-Eintrag orientiert sich eng an einem Beitrag des Center for Security Studies (CSS) der ETH Zurich, in dem der Autor Boas Lieberherr schreibt, die regelbasierte Ordnung umfasse aus US-amerikanischer Sicht „auch die US-amerikanische globale Vormachtstellung einschließlich ihrer Militärbündnisse im Asien-Pazifik sowie Regeln und Normen, die sich mit der Zeit weiterentwickeln“. Indien verstehe den Begriffe als etwas, das sich erst noch herausbilden müsse – und meint damit sicher nicht die US-amerikanische Vormachtstellung.

Die (Un-)Ordnung im „Nahen Osten“

Während die deutsche Positionierung im Ukrainekrieg das – vermutlich nicht unerwünschte – Missverständnis stützen kann, mit der regelbasierten Weltordnung sei v.a. das Völkerrecht gemeint, so sieht die Sache im sog. „Nahen Osten“ deutlich komplizierter, sozusagen realistischer aus. Die engsten Verbündeten Deutschlands in dieser Region sind das NATO-Mitglied Türkei und Israel, dessen „Sicherheit“ erklärtermaßen „deutsche Staatsräson“ ist. Die Türkei hält mit Afrin Teile des syrischen Staatsgebietes besetzt und unterstützt islamistische Rebellen in der Region Idlib, wo das türkische Militär auch „Beobachtungsposten“ unterhält. Auch die USA unterhalten in Syrien zahlreiche (von bis zu 24 wird berichtet) Militärstützpunkte ohne Zustimmung der syrischen Regierung, oft nahe Ölfeldern, die von ihren Verbündeten kontrolliert werden. Israel führt seit Jahren immer wieder Luftschläge auf syrischem Gebiet aus, die vermutlich der iranisch unterstützten Hisbollah gelten, immer wieder aber auch syrische Soldaten und Zivilisten töten und Infrastruktur zerstören. Auch der Norden des benachbarten Irak ist immer wieder Ziel türkischer Luftangriffe und Militäroperationen. Auch hier unterhalten die USA Stützpunkte gegen den erklärten Willen der amtierenden Regierung und des Parlaments. Und auch die Bundeswehr ist hier seit Jahren stationiert, um bewaffnete Gruppen auszubilden und zu unterstützen, die nicht der Regierung und der irakischen Armee unterstehen. Dieser Einsatz ist nicht nur völkerrechtlich hoch problematisch, sondern verstößt auch klar gegen das Grundgesetz, weil er nicht im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit erfolgt.

Israel hält Teile des Westjordanlandes besetzt und hat Ostjerusalem sowie umliegende Teile des Westjordanlandes annektiert. Der seit Beginn des Jahrtausend erfolgte Bau einer Sperranlage wurde mehrfach vom internationalen Gerichtshof für völkerrechtswidrig erklärt, v.a. weil er in Teilen auf dem Gebiet der Autonomiegebiete verläuft, die Grundlage des Staates Palästina sind bzw. sein sollen. 138 von 193 Staaten (darunter die NATO-Mitgliedsstaaten Island, Türkei, Tschechische Republik, Slowakische Republik, Polen, Bulgarien, Rumänien und Montenegro sowie die Republik Kosovo, die demgegenüber „nur“ von 115 Staaten anerkannt ist) haben diesen bereits anerkannt. Klar gegen das Völkerrecht verstößt der israelische Siedlungsbau inmitten der palästinensischen Autonomiegebiete, der durch die israelische Militärpräsenz im gesamten Westjordanland ermöglicht und durchgesetzt wurde. Seit dem Abzug des israelischen Militärs aus Gaza gilt dieses Gebiet nicht mehr im klassischen Sinne als besetzt, aber auch keineswegs als souverän, da Israel die Land- und Seezugänge einschließlich des Luftraums sowie die Versorgung mit Strom und Trinkwasser kontrolliert. Weder Gaza noch das Westjordanland werden von der UN in ihrer Liste als Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung geführt.

Das Völkerrecht und die aktuelle Eskalation

Aus der komplizierten völkerrechtlichen Lage ergibt sich auch eine schwierige Bewertung der Rechte und Verpflichtungen im Krieg, wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einem Gutachten vom Juni 2021 schrieb: „Der Nahostkonflikt […] lässt sich mit den herkömmlichen Begrifflichkeiten des humanitären Völkerrechts nicht ohne weiteres fassen“. Freilich steht das Selbstverteidigungsrecht Israels außer Frage. Dasselbe würde z.B. auch für Syrien gelten, wenn es sich gegen die regelmäßigen Luftschläge aus Israel – und nun auch durch die USA – zur Wehr setzen würde. Ähnliches gilt für den Libanon, auch wenn sich bei diesen Angriffen wiederum Israel auf sein Selbstverteidigungsrecht berufen kann, wenn es von dort von der nicht-staatlichen Hisbollah-Miliz angegriffen wird. Über ein Selbstverteidigungsrecht der Palästinenser insgesamt, des Staates Palästina oder der Hamas als de-facto-Regierung im Gaza-Streifen wird hierzulande hingegen kaum diskutiert, obwohl in der Westbank regelmäßig israelische Militärs eindringen und Menschen verhaften oder töten und in Gaza immer wieder Luftangriffe durchgeführt werden. Im Prinzip ließe sich solch ein Selbstverteidigungsrecht moralisch wie völkerrechtlich durchaus argumentieren.

Ganz klar dem humanitären Völkerrecht widerspricht natürlich das Vorgehen der Hamas bei ihren Angriffen am 7. Oktober 2023, v.a., weil dabei offensichtlich nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterschieden wurde. Die Begriffe „Massaker“ und „Terror“ scheinen hier durchaus angebracht, ein Exzess der Gewalt gegen völlig Unbeteiligte, teilweise sogar Aktivist*innen gegen die israelische Siedlungspolitik. Ob es sich um einen militärischen Angriff im völkerrechtlichen Sinne handelt, ist hingegen schon etwas zweifelhafter, kann aber angenommen werden. In jedem Fall müsste Israels Reaktion verhältnismäßig sein. Auch jeder einzelne Angriff, bei dem mit Verlusten von Menschenleben in der Zivilbevölkerung zu rechnen ist, muss in einem angemessenen Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen. Das ist – erklärtermaßen(!) – nicht der Fall. Am 10. Oktober verlautbarte der Armeesprecher der IDF, der Schwerpunkt der „Hundert Tonnen Bomben“ liege „auf Beschädigung, nicht auf Genauigkeit“. Der israelische Verteidigungsminister Gallant verkündete prominent und vermutlich wohl kalkuliert: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend“. Letzteres erfolgte gemeinsam mit der Ansage, man werde den Gaza-Streifen abriegeln: „Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff. Alles ist geschlossen.“ Das alles sind Kriegsverbrechen mit Ansage – selbstbewusst vorgetragen vor der sog. internationalen Gemeinschaft. Die Aufforderung an über eine Millionen Bewohner*innen im nördlichen Gazastreifen, diesen unter anhaltenden Luftangriffen und Blockade Richtung Süden zu räumen, stellt einen weiteren, ernsten Verstoß gegen das Völkerrecht dar. Zusammengenommen handelt es sich um Kriegsverbrechen, die vielem, was Russland und russische Truppen vorgeworfen wird, in nichts nachstehen – außer, dass Russland diese nicht in dieser Form offen angekündigt hat.

Die deutsche Reaktion

Bereits in den vergangenen Jahren haben die kontinuierlichen und tw. eklatanten Verstöße der israelischen Regierung gegen das Völkerrecht die Bundesregierung nicht davon abgehalten, Israels „Sicherheit“ zur „deutschen Staatsräson“ zu erklären. Im Wortlaut klingt das vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und ihres Anteils an der Lage im „Nahen Osten“ erstmal durchaus nachvollziehbar, vielleicht sogar geboten. Die Art ihrer Proklamation allerdings hat etwas vor-demokratisches. In der Praxis war und ist damit v.a. die uneingeschränkte Solidarität mit der und Kritiklosigkeit gegenüber der jeweiligen israelischen Regierung gemeint. Dass die Politik einer Regierung jedoch nicht unbedingt den Interessen und der Sicherheit ihrer Bürger dient, erscheint evident, auch hier mögen Russland und die Ukraine als Beispiele dienen. Allerdings hätte auch jedes andere Verständnis des abstrakten Begriffs der „Sicherheit“ Israels als deutsche Staatsräson bizarre Züge tragen können, z.B. wenn sich die Bundesregierung mit diesem Ziel in den vergangenen Jahren vehement und auch gegen die jeweilige israelische Regierung für die Zwei-Staaten-Lösung eingesetzt hätte.

So jedoch steht diese Staatsräson in einem eklatanten Widerspruch zum Völkerrecht. Sie steht auch in einem Widerspruch zum Narrativ des Bündnisses der Demokratien, denn Israel verletzt zumindest im Umgang mit Palästinenser*innen bereits seit Jahrzehnten systematisch Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit. An der demokratischen Gesinnung des Ministerpräsidenten und Legitimität der aktuellen Notstandsregierung sind Zweifel angebracht.

Eklatanter noch ist der Widerspruch zwischen Staatsräson und Völkerrecht in der aktuellen Eskalation. Aus Deutschland gab es keine Kritik an den völlig illegitimen, frühen israelische Luftangriffen auf syrische Flughäfen und Ziele im Libanon. Auf die angekündigten Kriegsverbrechen, der kollektive Bestrafung und Vertreibung einer ganzen Bevölkerungsgruppe wurden vonseiten der Bundesregierung damit reagiert, militärische Unterstützung zu leisten, anzukündigen und vorzubereiten. Ein erster Schritt bestand darin, der israelischen Armee jene bewaffnungsfähigen Aufklärungsdrohnen zur Verfügung zu stellen, die bislang von der Bundeswehr aus Israel hinaus genutzt wurden – zuletzt v.a. für Ausbildungszwecke. Es gab Solidaritätserklärungen und demonstrative Schulterschlüsse und – obwohl die Bundeswehr ja angeblich „blank“ ist und nur durch ein Sondervermögen „verteidigungsfähig“ gemacht werden kann – die Ankündigung, Munition und andere Rüstungsgüter zu liefern. Außerdem erfolgte, das UN-Mandat für die UNIFIL-Truppe arg strapazierend, eine Verstärkung der deutschen Truppenpräsenz vor den Küsten des Libanons und die Stationierung deutscher Spezialkräfte für Evakuierungsoperationen auf Zypern. All dies geschah ohne Beteiligung des Bundestags – dessen Zustimmung jedoch in seiner aktuellen Zusammensetzung wohl kein Problem dargestellt hätte.

Vermutlich war die Bundesregierung sogar erleichtert, aktuell nicht im UN-Sicherheitsrat vertreten zu sein, wo ihre Verbündeten alle Resolutionen gegen die Gaza-Blockade und für eine Waffenruhe verhindert haben. Eine Kritik hieran gab es nicht, im Gegenteil. Selbst innerhalb der EU versuchte die Bundesregierung eine entsprechende Formulierung zu verhindern. Zugespitzt könnte man auch sagen, dass die Bundesregierung versucht, ihre auf dem Holocaust basierende Staatsräson nun auf die ganze Europäische Union zu übertragen. „Es sei schwer zu vermitteln, dass die EU die russischen Bombardements und Blockaden in der Ukraine regelmäßig verurteilt, die israelischen Militäraktionen und die ‚totale Blockade‘ in Gaza jedoch nicht einmal erwähnt“, zitierte aus diesem Anlass die taz einen Diplomaten. Auch andernorts werden die doppelten Standards durchaus wahrgenommen. Jordaniens König Abdullah II. sagte etwa laut New York Times: „Das Leben der Palästinenser ist weniger wichtig als das der Israelis. Unser Leben ist weniger wichtig als das Leben anderer. Die Anwendung des Völkerrechts ist fakultativ, und die Menschenrechte haben Grenzen. Sie machen halt an Grenzen, halt an Rassen und halt an Religionen“.

Die regelbasierte Ordnung im Widerspruch zum Völkerrecht

Das Zitat des – sicher nicht demokratischen und tendenziell pro-westlichen jordanischen Königs – offenbart einiges an Sprengkraft, was die regelbasierte Ordnung und v.a. ihre Legitimität hierzulande angeht. Die USA stehen aktuell vor der Entscheidung, wie sie ihre Munitionslieferungen aus bereits drastisch reduzierten Beständen zwischen der Ukraine und Israel aufteilen. Ähnliches gilt für Deutschland. Im einen Falle gilt die vermeintliche „Solidarität“ einem Land bzw. seiner Regierung, das sich auf seinem eigenen Staatsgebiet gegen einen tendenziell überlegenen militärischen Gegner verteidigt, im anderen Fall einer technologisch überlegenen, mehrfach traumatisierten Nation, die auf einem benachbarten, von ihr weitgehend kontrollierten Territorium die Zivilbevölkerung bombardiert und zugleich an der Flucht hindert. In beiden Fällen wird von der Bundesregierung umfangreiche militärische Unterstützung angeboten und werden Rufe nach einem Waffenstillstand abgeblockt.

Es ist nicht so, dass die doppelten Standard neu wären. Sie offenbarten sich bereits in der Frühphase des Ukrainekrieges, als Deutschland, EU und NATO zugleich jene Staaten unterstützten, die bereits seit Jahren einen Angriffskrieg gegen den Jemen führten – unter Führung eines deutlich größeren und mächtigeren Nachbarstaates im Norden, der mit dem jüngsten Regierungswechsel in seinem kleineren, südlichen Nachbarstaat nicht einverstanden war. Doch der Jemenkrieg spielte in der deutschen Aufmerksamkeit kaum eine Rolle – auch hier sei noch einmal an das Zitat von König Abdullah II. erinnert. Mit Israel und Palästina ist das anders. Hier zeigt sich alltäglich in den Abendnachrichten, wie sich die Bundesregierung auf die Seite stellt, die mit „Macht das Recht brechen darf“ – und das schon jahrzehntelang tut.

Die regelbasierte Ordnung – von der feministischen Außenpolitik ganz zu schweigen – offenbart sich als Anspruch, die Regeln selbst zu definieren und sich selbst nicht an diese halten zu müssen. Für ein Land wie Deutschland zeugt dies von einer gefährlichen Selbstüberschätzung und der latente Ausnahmezustand ist nur ein Symptom davon. Die Repräsentationskrise und der weitere Aufstieg einer extrem rechten Partei ein weiteres.

Die Regierungsparteien hätten sich schwierige Diskussionen erspart, wenn sie ihre Wahlversprechen eingehalten und Waffenexporten in Kriegsgebiete generell ausgeschlossen hätten. Aber sie wollte ja schon lange nicht mehr die Außenpolitik „von der Seitenlinie aus kommentieren“, sondern aktiv mitmischen. Nun steht sie mitten im Getümmel – mit allen Konsequenzen und Widersprüchen, einschließlich einer wachsenden Entfremdung von der UN, dem Völkerrecht und dem, was gemeinhin als FDGO abgekürzt wird – und u.a. die Demonstrationsfreiheit auch für Andersdenkende und Minderheiten umfasst.

 

 

 

 

 

Quelle: https://www.imi-online.de/
Bildbearbeitung: L.N.