Als die Aktivisten, die Mitte der 1970er Jahre in der „Ausländerarbeit“ Bildungsangebote für die „Gastarbeiterkinder“ machten, das Buch von Marios Nikolinakos zur „Politische Ökonomie der Gastarbeiterfrage“ in die Hände bekamen, waren sie gezwungen ihre Arbeit zu überdenken, sich mehr an den Gewerkschaften auszurichten und in den neu gegründeten Arbeitskreisen zum Erfahrungsaustausch deutscher und ausländischer Gewerkschaftsmitglieder mitzuarbeiten.
Die Gewerkschaften waren damals noch geschockt von dem Streik bei Ford in Köln, bei dem vor allem die türkischen Beschäftigten dem Unternehmen, aber auch der IG Metall mächtig Druck machten und von dem raschen Ansteigen des Organisationsgrades bei den Arbeitsmigranten, der damals schon 27 Prozent betrug.
Eine Neuausrichtung bzw. Rückbesinnung würde auch derzeit den Gewerkschaften gut anstehen, da die Bundeskanzlerin und die Unternehmerverbände im Jahr 2015 für offene Grenzen warben und auch heute noch dabei sind, das Angebot an Arbeitskräften stetig zu vergrößern.
Nach wie vor ist das Verlangen der deutschen Unternehmen nach einem Überangebot an möglichst gut ausgebildeten Arbeitskräften vorhanden. Der alte Grundsatz gilt immer noch, dass, je höher das Arbeitskräfteangebot ist, desto größer wird die Konkurrenz unter den Anbietern der Arbeitskraft, desto niedriger ist der Lohn.
Hier bieten sich derzeit die geflüchteten Menschen an, deren Flucht auch durch die deutsche Politik der letzten Jahre erst mit verursacht wurde.
Da die Unternehmen schon immer die „Nebenkosten“ für die eingewanderten Arbeitskräfte wie Anlernen, Wohnen und Transferleistungen auf die Gesamtgesellschaft abwälzen konnten, sind auch die Lohnkosten für die zugezogenen Flüchtlinge niedriger. Um die Familienangehörigen kümmert sich die öffentliche Infrastruktur mit dem Wohnungs-, Verkehrs- und Bildungssektor, dem Gesundheitswesen und den Bereichen Kommunikation und Erholung.
Aber zurück zu Marios Nikolinakos.
Seine Ausführungen waren damals auch für viele Gewerkschafter neu und wurden eifrig diskutiert.
Er stellte nicht die Frage, ob die Beschäftigung der Migranten einen Gewinn oder eine Belastung für die deutschen Wirtschaft bedeutet, sondern er fragte nach den Gründen für den Import der Arbeitskräfte.
Er prognostizierte 4 Phasen der Zuwanderung von Arbeitskräften und sollte Recht behalten:
- Erste Phase: Die Arbeitsmigranten rekrutieren sich aus den südeuropäischen Ländern ersten Grades, wie Italien, Spanien, Portugal und Griechenland.
- Zweite Phase: Die o.g. Länder integrieren sich zunehmend in das Wirtschaftssystem Westeuropas und werden von den peripheren Ländern zweiten Grades, nämlich durch Jugoslawien und der Türkei ersetzt.
- Dritte Phase: Die ökonomische Entwicklung der europäischen Industrieländer erfordert eine zunehmende Nachfrage nach Arbeitskräften. Als Lieferanten kommen die peripheren Länder dritten Grades, die arabischen Länder Nordafrikas in Frage.
- Vierte Phase: Die Arbeitsmigranten rekrutierten sich aus Arbeitskräften aus den Gebieten südlich der Sahara.
Bereits Ende der 1960er Jahre zeichneten sich mehrere wirtschaftliche Tendenzen ab, deren Einflüsse und Auswirkungen heute noch von Bedeutung sind:
- Mit der zunehmenden Konzentration des Kapitals ging eine Zunahme der staatlichen Tätigkeit einher. Der Staat sah eine wichtige Aufgabe darin, die Gesellschaft vor der zerstörerischen Macht des Marktes zu schützen. Im Rahmen von der sogenannten korporatischer Steuerung wurden Auseinandersetzung zwischen Staat, Unternehmen und Gewerkschaften geregelt.
- Der Außenhandel der Bundesrepublik dehnte sich bei gleichzeitiger Intensivierung der Außenhandelsbeziehungen aus.
- Der Bedarf an Arbeitskräften verlangte von den Unternehmen eine neue Personalstrategie. Neben der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte behalf man sich mit den sogenannten Schließungsprozessen. Auch in den Bereichen mit gering qualifizierter Arbeit bot man ungelernten Arbeitskräften eine langfristige Beschäftigungsperspektive an, die mit betrieblichen Qualifizierung- und Aufstiegsmöglichkeiten begleitet wurden, im Tausch gegen betriebliches Erfahrungswissen und ihrer Loyalität dem Betrieb gegenüber, sich nicht abwerben zu lassen.
- Der technische Fortschritt in der Nachkriegszeit hatte eine schnell steigende Arbeitsproduktivität und eine Massenproduktion zur Folge. Diese Massenproduktion verlangte nach größeren Absatzmöglichkeiten der Waren und nach kaufkräftiger Nachfrage in der Bundesrepublik, da der Binnenmarkt damals noch eine viel größere Rolle spielte als heutzutage.
- Auf dem Binnenmarkt war aber die kaufkräftige Nachfrage der Beschäftigten selbst ein wichtiger Faktor, der auch durch die steigende Arbeitsproduktivität ermöglicht werden konnte und die wiederum für recht große Einkommenszuwächse bei den Beschäftigten und gleichzeitig höheren Profiten für die Unternehmen sorgte.
- Das Tempo des Wirtschaftswachstums verlangsamte sich dann aber wieder mit dem Ende der Rekonstruktionsperiode der Nachkriegszeit und den Änderungen des Produktionsapparates, bedingt durch den technologischen Fortschritt. Das geschah zu einer Zeit, in der die Ausländerbeschäftigung zunahm.
- Um überhaupt ein Wachstum des Sozialproduktes zu gewährleisten, brauchte es immer mehr Investitionen, die neue Arbeitsplätze schafften und die Nachfrage nach Arbeitskräften erhöhte.
- Diese Beschäftigungseffekte erfolgten einmal direkt aus der primären Durchführung der Investitionen und zum anderen aus den multiplikatorischen Einwirkungen, die weitere Beschäftigung auslösten. Die Quelle der Akkumulation ist nach wie vor die Steigerung des Arbeitspotentials.
- Die Akkumulationsbedingungen sind wiederum günstiger, je größer das vorhandene Arbeitspotential ist und je stärker das Lohnniveau abgesenkt werden kann.
- Es ist daher kein Widerspruch, dass die rapide Steigerung der Ausländerbeschäftigung mit einer Verlangsamung des Wachstumstempos einherging.
Die ausländischen Arbeitskräfte hatten in den 1960er Jahren bei großen Veränderungen der Rahmenbedingungen den weiteren Akkumulationsprozess erst ermöglicht.
Auch der Preisauftrieb, der Anfang der 1970er Jahre zu beobachten war, war dadurch bedingt, dass die Unternehmen zur Steigerung der Profitrate die Lohnkosten auf die Preise abwälzten. Die damalige Phase der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte fand im Rahmen eines, wenn auch mäßigen, Preisauftriebs statt. Man kann einen Zusammenhang der inflationistischen Wirkungen mit der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte erkennen.
Steuerung der Zuwanderung
Damit nichts dem Zufall überlassen wird und die Akkumulationsbedingungen immer günstig bleiben, wurden die Abläufe der Zuwanderung von den Aufnahmeländern immer schon gesteuert, denn es entstehen höhere Kosten, wenn mehr Arbeitskräfte kommen, als es einen Bedarf für sie gibt.
Bis zu einem gewissen Grad ist das Überangebot an Arbeitskräften für den Druck auf die Löhne ja erwünscht.
Als Steuerung hatte sich in der Bundesrepublik die gezielte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte bis zum Anwerbestopp 1973 für die Unternehmen als erfolgreich erwiesen. Danach gab es immer wieder eine bedarfsgerechte Zufuhr an Arbeitskräften in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarktes z.B. Krankenschwestern aus Südkorea oder viele türkische und marokkanische Frauen, die als Alleineinreisende für bestimmte Sparten angeworben wurden.
Die Anwerbung hatte für die Unternehmen noch den Vorteil, dass die Menschen schon im Herkunftsland ärztlich untersucht wurden und so Arbeitskräfte kamen, die in ein Sozialsystem passten, in dem die Sozialpolitik mit ihrem Arbeits- und Gesundheitsschutz garantierte, dass ein ausreichendes Angebot an gesunden Arbeitskräften bereitstand.
Die ausländischen Arbeitskräfte trafen auf einen Arbeitsmarkt, auf dem Flexibilisierung und Deregulierung noch nicht so ausgeprägt waren wie heute. Im Jahr 1970 handelte es sich bei 84 Prozent der Arbeitsplätze um Normalarbeitsverhältnisse, auf den verbleibenden 16 Prozent der Arbeitsplätze arbeiten Frauen und Migranten. Rund 80 Prozent der Beschäftigten unterlagen einem Tarifvertrag.
Die direkte Konkurrenz mit den einheimischen Beschäftigten wurde in der Vergangenheit oft überbewertet, doch füllten die ausländischen Arbeitskräfte meist nur die Lücken auf dem Arbeitsmarkt, die durch die berufliche und soziale Mobilität oder durch die regionale Immobilität der deutschen Arbeitskräfte entstanden waren.
Als Binsenweisheit gilt heute, dass die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte erst den sozialen Aufstieg der deutschen Beschäftigten ermöglichte und der Etablierung und Stabilität der Normalarbeitsverhältnisse diente.
Änderungen der Rahmenbedingungen
Für die Beschäftigung von Migranten haben sich die Rahmenbedingungen immer wieder verändert.
So ist z.B. die Rotation der ausländischen Arbeitnehmer (nach einiger Zeit werden die Arbeitskräfte durch neue ersetzt) heute zur Steuerung kein Thema mehr, da die Rotation von Beschäftigung und Erwerbslosigkeit auf dem prekären deutschen Arbeitsmarkt selbst stattfindet bzw. durch die temporäre Arbeitsmigration aus den EU-Staaten ersetzt wurde.
Wichtige Voraussetzung für die temporäre Arbeitsmigration war die Deregulierung des Arbeitsmarktes mit den sogenannten Hartz-Reformen und die Dienstleistungsfreiheit in der EU. Die Menschen arbeiten in diesem Bereich vor allem in Dienstleistungssektor als Saisonarbeitskräfte, Scheinselbständige und grenzüberschreitende Leiharbeiter für einige Wochen oder ein paar Monate im Jahr.
Wir befinden uns seit einigen Jahren in einer Überproduktionskrise mit geringem Wirtschaftswachstum, in der vordergründig weitere Arbeitskräfte nicht gebraucht werden, sogar eher überflüssig sind. Darüber täuscht auch nicht das Märchen von dem Fachkräftemangel hinweg, das erzählt, dass Fachkräfte im Pflege-, Hotel- und Gasstättenbereich durch die Arbeitsmigration eingestellt werden können. Dabei sind dies genau die Bereiche, in denen die schlechtesten Lohn-, Arbeits- und Arbeitszeitbedingungen vorherrschen und deshalb auch nicht mit den einheimischen Fachkräften zu besetzen sind, die von ihrem Arbeitsplatz nicht mehr leben können.
Die Arbeitsmigration hat an dieser Stelle die wichtige Funktion, diese klassischen Niedriglohnsektoren zu stabilisieren und mit Arbeitskräften zu versorgen, die die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen in Kauf nehmen müssen um überhaupt existieren zu können.
Deutschland verspricht sich von der Zuwanderung junger mobiler Menschen einen großen wirtschaftlichen Vorsprung vor den anderen EU-Ländern, als Voraussetzung für den weiteren Ausbau der Wirtschaftsmacht und der Arbeitskräftereserve, bei möglichst freiem Waren- und Personenverkehr. Politik und Unternehmerschaft berücksichtigen dabei, dass es in der EU keinen einheitlichen Arbeitsmarkt gibt, der auch Schutzfunktionen bieten würden, wie z.B. gleiche Arbeitsgesetze und soziale Sicherungen, starke Gewerkschaften und einheitliche Lohnstrukturen und dass auf dem EU-Arbeitsmarkt der freie Personenverkehr für die Beschäftigten nur bedingt gilt. Arbeit finden sie nur in den wirtschaftlich stärkeren Regionen in der EU, in denen zumindest die Aussicht besteht, dass auch höhere Löhne gezahlt werden können, als in den Randzonen.
Die Profiteure von dem freien Personenverkehr sind, wie schon beim freien Warenverkehr, vor allem die deutschen Unternehmen.
Die bundesdeutsche Migrationspolitik sah im vergangenen Jahr vor, dass viele Einwanderer in die EU hineinkommen, sie in der EU verteilt werden, um innerhalb der EU eine Auswahl der Menschen treffen zu können. Gleichzeitig sollte die EU-Außengrenze möglichst geschlossen und der Personenverkehr in der EU möglichst frei sein.
Das hat aber nicht ganz so geklappt, wie gedacht, denn die große Mehrheit der EU-Staaten schottete sich gegenüber den Einwanderern ab und schränkte den freien Personenverkehr ein.
Wie mit den Einwanderern in der EU umgegangen wird, wird mittlerweile fast nur noch in den einzelnen Nationalstaaten entschieden und die wichtigen Entscheidungen fallen nur in den mächtigen EU-Staaten.
Unter dem Strich ist Deutschland der größte Profiteur dieser Entwicklung, auch wenn dies ein großer Teil der Bevölkerung derzeit anders sieht.
Einen einheitlichen EU-Arbeitsmarkt gibt es nicht
Ob ein oft geforderter europäisch einheitlicher Arbeitsmarkt unter den derzeitigen Bedingungen überhaupt anstrebenswert ist, sei einmal dahingestellt.
Jedenfalls laufen die Entwicklungen in eine gegensätzliche Richtung. Niemand aus der deutschen Regierung und Unternehmerschaft hat derzeit ein Interesse daran, europaweit die Lohnkonkurrenz abzubauen, verbindliche kollektive Lohnverhandlungen einzuführen, die Tarifbindung und die Mindestlöhne durchzusetzen und die Lohnentwicklung wieder an der gesamtwirtschaftlichen Produktionsentwicklung auszurichten.
Die reale europäische Krisenbewältigung sieht im Gegenteil so aus, dass z.B. die südeuropäischen und südosteuropäischen Mitgliedsstaaten ganz massiv bedrängt werden, auf Lohnsenkungen und den Abbau von Rechten der Beschäftigten zu setzen. Und man setzt nach wie vor auf die Arbeitsmigration zur Aufrechterhaltung der Lohnkonkurrenz, bei der die Herkunftsländer der Migranten ihre Arbeitskräfte verlieren und förmlich ausbluten.
Als Anfang des Jahrhunderts der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) die EU-Osterweiterung ablehnte bzw. einer Erweiterung nur zustimmen würde, wenn das Lohnniveau in den östlichen Staaten 60 Prozent des österreichischen Niveaus betragen würde, wurde der ÖGB hart angegangen und der Ausländerfeindlichkeit bezichtigt. Die Forderung wurde fallen gelassen.
Die höheren Löhne bei den östlichen EU-Aspiranten hätten dazu geführt, dass in der Folge z.B. in Deutschland die Arbeitsmigranten besser bezahlt worden wären.
Seitdem gab es keine ernstzunehmenden Vorschläge mehr, die Unterschiede in den Lohnniveaus in der EU zu verringern, viel mehr wurde der Arbeitsmarkt weiter geteilt, die Löhne auch in den mächtigen EU-Ländern nach unten gedrückt und die Arbeits- und Sozialrechte geschleift.
Die Gewerkschaften müssen sich positionieren
Unsere Gewerkschaften sind immer noch vorrangig auf die Betriebsrätearbeit in den Großbetrieben ausgerichtet, deren Standortpolitik den massiven Warenexport weiterhin gewährleisten soll und kümmern sich kaum um die prekär Beschäftigten und die erwerbslosen Menschen.
Kurzfristig ist hier vor allen anderen die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di gefragt. Ihr Organisationsbereich hat am stärksten unter der Deregulierung und den Einsparungen gelitten, bietet aber für eine veränderte, konfliktorientierte Gewerkschaftsarbeit die besten Voraussetzungen.
Eine radikale Arbeitszeitverkürzung auf die 30-Stunden-Woche mit vollem Lohn und Personalausgleich sollte die zentrale Forderung, als Ausgangspunkt für eine soziale Bewegung in den nächsten Jahren sein und die Konkurrenz auf dem zersplitterten Arbeitsmarkt beenden.
Es ist ein Arbeitsmarkt mit Normalarbeitsplätzen zu schaffen, der auch Zuwanderung nicht nur verträgt, sondern wie geschildert, von dieser profitiert, Arbeitsplätze sichert und neue Arbeit schafft.
Lassen wir zuletzt noch einmal Marios Nikolinakos zu Wort kommen:
„Letzten Endes ist dieses Buch dem Arbeiter im Kapitalismus gewidmet. So ist es wahr, dass jeder Arbeiter im kapitalistischen System ein Gastarbeiter ist. Sollte es dieser Schrift gelungen sein, auch den einheimischen Arbeitern in den westeuropäischen Ländern klar zu machen, wie ihre Arbeitsplätze durch die Beschäftigung ihrer ausländischen Kollegen gesichert werden können und dann könnt ich sagen, dass wir einen Schritt vorwärtsgekommen sind“.
Quellen: Marios Nikolinakos, Politische Ökonomie der Gastarbeiterfrage, ro ro ro aktuell,1973, ÖGB, Hans Böckler Stiftung