Deutsche Geheimdienste sprechen, ohne Beweise zu präsentieren, von weitreichenden hybriden Angriffen Russlands in Deutschland und fordern größere rechtliche Handlungsspielräume für die Konfrontation mit Moskau.
Die deutschen Geheimdienste – Militärischer Abschirmdienst (MAD), Bundesnachrichtendienst (BND) und Verfassungsschutz – warnen vor sogenannten hybriden Angriffen Russlands in Deutschland und fordern in diesem Zusammenhang von der Politik größere rechtliche Handlungsspielräume. Um die Befugnisse des MAD auszuweiten, hat Verteidigungsminister Boris Pistorius bereits einen Gesetzesentwurf vorgelegt. Dieser sieht auch eine Ausweitung der Befugnisse der Militärpolizei auf den zivilen Bereich und eine Beschleunigung der Sicherheitsüberprüfung von Rekruten vor. Die Präsidenten der Geheimdienste räumen dabei ein, dass die „hybriden Angriffe“, für die sie Russland verantwortlich machen, sich gerade dadurch auszeichnen, dass die verantwortlichen Akteure nicht eindeutig zu bestimmen sind. Umgekehrt drohen Kritiker der Ukraine-Politik der Bundesregierung unter Generalverdacht gestellt zu werden, Agenten der russischen hybriden Kriegführung zu sein. Mit dem Diskurs um die „hybride Kriegsführung“ verwischen Geheimdienstler, Medien und Politiker nicht nur die Grenze zwischen Kritikern der deutschen Regierung und Agenten Russlands, sondern auch die Grenze zwischen Krieg und Frieden.
Warnungen vor Russland
Die Bundesregierung will die rechtlichen Befugnisse vor allem des Bundeswehr-Geheimdiensts (Militärischer Abschirmdienst, MAD), aber auch der Militärpolizei – der Feldjäger – ausweiten. Die geplanten Gesetzesänderungen begründet sie dabei mit einer „zunehmenden Bedrohung“ durch Aktivitäten „fremder Staaten“, beispielsweise durch „von Russland staatlich gelenkte Desinformation“.[1] Es komme „beinahe täglich“ zu „ weitreichenden Sabotage- und Spionageangriffen“, erklärt Verteidigungsminister Pistorius. Deutsche Soldaten stünden – auch im Inland – „im Visier“.[2] Die Präsidentin des MAD, Martina Rosenberg, fordert „weitere Anpassungen der rechtlichen und operativen Spielräume“ der Geheimdienste. Es bestehe weiterhin „erheblicher“ „Reformbedarf“. Deutschland müsse sich auf eine weitere „Zunahme von hybriden Bedrohungen, von Cyberangriffen und Desinformation“ einstellen.[3]
„Schon heute im Feuer“
Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages wiederum berichtet von einem „deutlichen Anstieg von Zwischenfällen hybrider Kriegsführung“, die „nach Auffassung westlicher Nachrichtendienste mehrheitlich Russland zuzurechnen“ seien.[4] Die „hauptsächliche Bedrohung“ gehe heute „von Russland aus“, äußert auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer. Deutschland befinde sich „in einem Zustand, der nicht mehr ganz Frieden, aber auch noch nicht ganz Krieg“ sei.[5] Diese Einschätzung teilt ebenfalls Verfassungsschutzpräsident Sinan Selen; Deutschland sei demnach „primäres Ziel für russische Aktivitäten in Europa“ und befinde sich bereits „jetzt“ in einer Konfrontation mit Russland. Deutschland stehe „schon heute im Feuer“, warnt BND-Präsident Martin Jäger. Die Lage könne „jederzeit in heiße Konfrontation umschlagen“. Auch Verfassungsschutz und BND beanspruchen in diesem Zusammenhang eine Ausweitung ihrer rechtlichen Handlungsspielräume. Je besser die Geheimdienste „die Bedrohungslage darstellen, desto besser wird es uns gelingen“, die erhobenen Forderungen nach mehr rechtlichen Spielräumen „dann auch tatsächlich so vermitteln zu können“, dass sie in neue „Befugnisse münden“, erläutert Selen.
Mehr Befugnisse für den MAD
Die strategische Ausrichtung der deutschen Streitkräfte auf eine Konfrontation mit Russland setzt die Bundesregierung mit dem Gesetzesentwurf „zur Stärkung der Militärischen Sicherheit in der Bundeswehr“ nun auch im nachrichtendienstlichen Bereich fort. Im Fokus der Gesetzesänderungen steht nach Angaben der Bundesregierung die Befähigung des MAD zu nachrichtendienstlichen Aktivitäten im Ausland, insbesondere im Zusammenhang mit dem ersten permanenten deutschen Militärstützpunkt jenseits der deutschen Grenzen, dem Stützpunkt in Litauen [6] – und zwar in enger Zusammenarbeit mit dem BND und den litauischen Sicherheitsbehörden. Eine komplette MAD-Stelle habe bereits nach Litauen verlegt, erklärt Rosenberg – „erstmalig in der Geschichte des MAD“. Auch der Handlungsspielraum des MAD in Sachen Cyberkrieg soll erweitert werden. Zudem beinhaltet der Gesetzesentwurf „neue Befugnisse“ für die Militärpolizei, also die Feldjäger, „zum Anhalten und Überprüfen von Personen“ – und zwar „auch außerhalb von militärischen Bereichen“. Nicht zuletzt „ vereinfacht und beschleunigt“ der Gesetzesentwurf die Sicherheitsüberprüfung von Rekruten und Soldaten. Das derzeitige Verfahren „hemmt und verlangsamt“ den „dringend notwendigen personellen Aufwuchs der Streitkräfte“, erläutert Pistorius.[7]
Im Zweifel Russland
Dabei lasten die Geheimdienste sogenannte hybride Angriffe auch dann Russland an, wenn eine Beteiligung des russischen Staates nicht nachzuweisen ist. Verfassungsschutz-Präsident Selen macht Russland etwa für Drohnenüberflüge verantwortlich, „auch wenn die Aufklärung noch anhält“, wie er selbst einräumt. BND-Präsident Jäger, der vor seinem Amtsantritt mehr als zwei Jahre lang als deutscher Botschafter in der Ukraine tätig war, äußert dazu, Russlands angebliche Versuche, auf die deutsche Innenpolitik Einfluss zu nehmen, zeichneten sich gerade dadurch aus, dass sie „sehr schlecht zurechenbar“ seien. Für das vergangene Jahr konnten Wissenschaftler der Universität Leiden für ganz Europa 44 Ereignisse zählen, die sich eindeutig Russland zuordnen lassen.[8] Selen bezeichnet Russland dennoch als „Hauptverursacher für die Vorbereitung und Umsetzung von Sabotageakten in Deutschland“. Jäger lässt sich durch mangelnde Beweise gleichfalls nicht davon abhalten, Moskau zu unterstellen, es betreibe einen hybriden Krieg mit dem Ziel, Europa – „von Furcht und Handlungsstarre gelähmt“ – in die „Selbstaufgabe“ zu treiben. Anschließend wolle Moskau seine „Einflusszone nach Westen auszuweiten und das wirtschaftlich vielfach überlegene Europa in die Abhängigkeit“ von sich bringen. Verfassungsschutzpräsident Selen vollendet die Projektion und unterstellt Russland „revanchistische Ziele“.
Generalverdacht
In diesem Klima einer diffusen Bedrohungslage meist ohne Beweise, dafür aber mit einem klaren Gegner hat die pauschalisierte Umdeutung von Regierungskritikern zu Agenten des Feindes längst begonnen. So initierten das Bundeskriminalamt (BKA) und der Verfassungsschutz gemeinsam die Kampagne „Kein Wegwerf-Agent werden“, deren Zielgruppe laut Selen explizit Personen waren, „die sich kritisch mit dem Ukraine-Konflikt“ oder auch einfach nur „mit Russland befassen“. Es gebe in Deutschland eine „Szene der Unzufriedenheit“, die eine „ganz entscheidende Zielfläche für russische Einflussnahme“ sei, behauptet der Verfassungsschutzpräsident. Denn „Unzufriedenheiten“ und Meinungen, die „Kritik an den bestehenden Systemen“ beinhalteten, böten „Angriffspunkte“ für „russische Narrative“. Dabei räumt Selen ein, dass „russische Narrative“ sich nicht immer dem russischen Staat zuordnen lassen, sondern eben auch von alleine „wachsen“. Wichtiger als die Frage nach der Verantwortung des russischen Staates sei die Frage, wie die Geheimdienste auf diese abweichenden Sichtweisen reagierten. Selen plädiert für eine Überwachung und ein Screening der digitalen Plattformen „auf entsprechende Narrative“ und fordert „bessere Sanktionsmöglichkeiten“. Jäger behauptet, auch „Migranten, Flüchtlinge“ seien „politische Waffen“, die Russland gezielt einsetze, um den Westen zu destabilisieren. Laut Rosenberg hätten zuletzt etwa Aktionen von „Rheinmetall entwaffnen“, einer Kampagne von Kriegsgegnern, die Notwendigkeit von Ausweitungen der Befugnisse des MAD gezeigt.[9]
Schleichender Kriegseintritt
Die Linie, die Deutschland von einem Krieg mit Russland trenne, sei „zunehmend verwischt“, erklärt BND-Präsident Jäger. „Die Übergänge werden fließend sein“, urteilt Selen. Der BND müsse befähigt werden, „auch unter den Bedingungen eines bewaffneten Konfliktes mit direkter deutscher Beteiligung agieren“ zu können, um die Bundeswehr „in einer solchen realen Kriegssituation“ mit „Informationen und Dienstleistungen“ unterstützen zu können. Deutschland sei nicht zuletzt deshalb Zielfläche hybrider Aktivitäten Russlands, weil es „bei der Unterstützung der Ukraine“ eine „führende Rolle einnehme“, erklärt Jäger. Wer das zum Anlass nimmt, eine andere Russland- bzw. Ukrainepolitik einzufordern, läuft nach Auffassung des Verfassungsschutzes bereits Gefahr, ein russischer Agent zu werden.
Anmerkungen:
[1] Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Militärischen Sicherheit in der Bundeswehr. Deutscher Bundestag, Drucksache 21/1846. Berlin, 29.09.2025.
[2] 31. Sitzung vom 09.10.2025, TOP 22: Rede von Boris Pistorius. bundestag.de 09.10.2025.
[3] 9. Öffentliche Anhörung der Präsidentin und Präsidenten der Nachrichtendienste des Bundes durch das Parlamentarische Kontrollgremium. verfassungsschutz.de.
[4] „Krieg gegen den Westen“ – Deutlicher Anstieg von Zwischenfällen hybrider Kriegführung. Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste. Aktueller Begriff Nr. 05/25. Berlin, 26.02.2025.
[5] Der General und die Zeitenwende. NDR-Doku vom 13.10.2025.
[6] S. dazu Eine neue Ära.
[7] 31. Sitzung vom 09.10.2025, TOP 22: Rede von Boris Pistorius. bundestag.de 09.10.2025.
[8] Bart Schuurman: Russian operations against Europe since the 2022 invasion of Ukraine. The Hague 2025.
[9] S. dazu Wohin ein solcher Wahnsinn führt.
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