„Rajoy darf Spanien nicht ins Mittelalter zurückwerfen!“ Mit erhobenen Fäusten protestierten im Frühjahr 2014 Hunderttausende Frauen auf den Straßen Madrids – und erreichten, wovon Liberale in Polen nur träumen durften: Sie kippten nicht bloß einen Plan zur rigiden Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, sondern erzwangen auch den Rücktritt des zuständigen Justizministers Alberto Ruíz Gallardón. Seine Partei, der konservative Partido Popular, war erst im Krisenjahr 2011 durch einen aggressiven Anti-Abtreibungs-Wahlkampf an die Macht gekommen.
Wie hängen die erstarkenden Auseinandersetzungen um Frauenrechte in Europa mit der ökonomischen Krise von 2008/2009 zusammen? Das hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) in elf Länderstudien zu Austerität, Geschlechterungleichheit und Feminismus nach der Krise untersucht. Als Autorinnen firmieren Soziologinnen in EU-Staaten wie Spanien, Irland, Griechenland und Kroatien sowie in der Ukraine, Litauen und Russland. Auch die Situation von Frauen im als „Krisengewinner“ geltenden Deutschland wurde untersucht. Welche Folgen hatte die Krise für die Positionen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt? Für die gesellschaftliche Organisation von Erziehung, Bildung und Gesundheit? Und eben: Wie hängt der jüngst erstarkende Antifeminismus mit Krise und Austerität zusammen?
Die Beobachtungen sind spannend: So traf die Krise zunächst nicht die Frauen, sondern vor allem Männer. Die Arbeitslosigkeit stieg anfangs im Bausektor und in der Industrie, männlich dominierten Bereichen also, und erst später im weiblich dominierten Dienstleistungssektor. Die überraschende Folge: formale Geschlechtergleichheit. Die Beschäftigungslücke zwischen den Geschlechtern verkleinerte sich in den Anfangsjahren der Krise in Irland, Kroatien und Spanien deutlich. In Spanien halbierte sie sich sogar, die Arbeitslosenrate unter Männern und Frauen war zwischen 2007 und 2010 beinahe gleich hoch. Selbst der Gender Pay Gap nahm ab: Lag die Lohnlücke 2002 in Spanien noch bei rund 17 Prozent, fiel sie bis zum Jahr 2012 auf 8,5 Prozent.
Waren Frauen – zu Beginn – also Krisengewinnerinnen? So einfach ist es nicht. Denn hinter der scheinbaren „Gleichstellung“ in den zwei ersten Krisenjahren steckt eine rapide Verschlechterung der Lebensbedingungen von Männern – aber keine Besserstellung von Frauen. In den späteren Krisenjahren relativiert sich die Annäherung der Geschlechter in der Beschäftigung zudem: einerseits, weil weiblich dominierte Felder wie der Einzelhandel oder die Gastronomie als Folge der Wirtschaftskrise schwächelten. Andererseits, und das ist die zweite zentrale Erkenntnis dieser Studien, weil erst die als „Anti-Krisen-Maßnahme“ deklarierte Sparpolitik die soziale und ökonomische Situation von Frauen massiv verschlechterte.
Arbeitslosigkeit für alle
Die EU forderte gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds im Rahmen der „Sparpolitik“ das Kürzen der Sozialausgaben für Arbeitslosengeld, Gesundheit und Pflege und im öffentlichen Dienst. All diese Reformen „haben Frauen stärker getroffen als Männer, weil sie stärker für formelle und informelle Pflege- und Erziehungsarbeiten zuständig sind“, sagt Inés Campillo Poza, Autorin der spanischen Studie: „Frauen sind die Hauptangestellten des Sozialstaats.“
Diesen kürzten die EU-Staaten im Rahmen der Haushaltskonsolidierung massiv zusammen. In Irland setzte die Regierung die stärksten Kürzungen im Gesundheitssystem durch (80 Prozent der Beschäftigten sind hier Frauen), danach in der Primärbildung (85 Prozent Frauen) und in der Sekundärbildung (62 Prozent Frauen). Es wurden Stellen gestrichen, Löhne und Prämienzahlungen gekürzt, Überstunden nicht mehr bezahlt. In der Folge verdiente eine irische Grundschullehrerin, die nach 2011 eingestellt wurde, nur noch 28,09 Euro in der Stunde – zuvor waren es 31,21 Euro.
Noch härter wurden die Kürzungen in Griechenland durchgesetzt. Das Budget für staatliche Krankenhäuser wurde um 50 Prozent gekürzt, sodass das öffentliche Gesundheitssystem völlig zusammenbrach. Auch diese Kürzungen betreffen vor allem Frauen: 40 Prozent aller beschäftigten Frauen in Griechenland arbeiteten vor der Krise im öffentlichen Dienst und machten dort 60 Prozent der Angestellten aus.
Die Studienautorinnen stellen fest, dass der politischen Krisenbewältigung das Modell des männlichen Familienernährers zugrunde lag, dessen Arbeitsplatz gerettet werden sollte. Gegen die Prekarisierung und die später einsetzende Arbeitslosigkeit von Frauen wurde nichts unternommen – sie wurde im Gegenteil durch die Kürzungen im Staatsdienst zusätzlich verschärft. Die Folge: In den EU-Staaten nahm die weibliche Erwerbslosigkeit nach der Krise deutlich langsamer ab als die männliche.
Auch von Sozialkürzungen im Gefolge von Austerität sind Frauen besonders betroffen. In vielen EU-Ländern wurde das Kindergeld gekürzt – in Irland um ein Drittel, zusätzlich wurde das Elterngeld besteuert. In Deutschland wurde im Rahmen des „Sparpakets“ 2010 das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger gestrichen und für mittlere Einkommen gekürzt. In Spanien wurde der einmalige „Baby-Check“ von 25.00 Euro abgeschafft und die beschlossene Verlängerung der Väterzeit von 13 auf 28 Tage über Jahre zurückgestellt. Der „Plan ecuca3“ von 2008, der bis 2012 300.000 Kita-Plätze schaffen sollte, wurde auf Eis gelegt. Ob beabsichtigt oder nicht: Wenn sich der Staat nicht mehr um die Erziehung der Kinder kümmert, führt das dazu, dass die Arbeit an den Müttern hängen bleibt.
Gleichstellungspolitiker hätten womöglich etwas gegen diese einseitige Abwälzung der Krisenlasten eingewandt – wären sie nicht gleich mit gekürzt worden. Bereits mit dem ersten Maßnahmenpaket der spanischen Regierung im Mai 2010 wurde die Abschaffung des frisch eingesetzten Gleichstellungsministeriums beschlossen. Das 2007 verabschiedete Gleichstellungsprogramm wurde nicht mehr umgesetzt, regionale Programme gestoppt.
Die Folge der gigantischen Kürzungswelle, die durch die Sozialsysteme in Europa rollte, wird unter feministischen Wissenschaftlerinnen als „Care-Krise“ bezeichnet: Aus der Finanzkrise wurde eine Wirtschaftskrise, dann eine Haushaltskrise, schließlich eine Krise in der Pflege- und Sorgearbeit. „No es una crisis – es una estafa!“, lautete daher der Slogan der spanischen Bewegung gegen die Krisenpolitik: „Das ist keine Krise – das ist Betrug!“
Dieser „Betrug“ zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass zuvor staatlich organisierte Sorgearbeit wieder privat geleistet werden muss – und zwar von Frauen. In den Länderberichten der RLS werden hierzu verschiedene Studien zitiert: 73 Prozent der Pflegebedürftigen werden in Deutschland 2015 zu Hause gepflegt, 67 Prozent durch Angehörige – davon 65 Prozent durch Frauen. In Spanien kommt eine Studie zu dem Schluss, dass Frauen 2016 rund das Doppelte an Hausarbeit übernahmen. Und in Kroatien zeigt eine Untersuchung von 2017 auf, dass Frauen 60 Stunden pro Woche, Männer aber nur 40 Stunden für Erziehungs-, Pflege- und Hausarbeit aufbringen. „Nur in Situationen, in denen der Mann arbeitslos wurde und die Frau Vollzeit arbeitete, hatte dies einen Effekt auf die Verteilung von Sorgearbeit zu Hause“, konstatiert die Soziologin Campillo Poza. Ein genereller Umverteilungstrend sei nicht auszumachen.
80 Prozent Teilzeit
Um Kindererziehung, Pflege von Angehörigen und Hausarbeit zu leisten und trotzdem auf dem Arbeitsmarkt zu bleiben, müssen Frauen seit der Krise verschärft schlecht bezahlte Teilzeitarbeit und unbezahlte Sorgearbeit verbinden. Über 65 Prozent der Beschäftigten im spanischen Niedriglohnsektor sind Frauen, genauso in Irland. In Deutschland ist nur ein Drittel aller Vollzeitstellen durch Frauen besetzt, aber 80 Prozent der Teilzeitstellen. „Im Gegensatz zum Verlauf anderer Wirtschaftskrisen hat diese Krise, geschichtlich einmalig, Frauen nicht aus der Arbeit zurück in die Familien gedrängt“, halten mehrere Autorinnen als Fazit fest: „Sie müssen dafür nur härter arbeiten als zuvor.“
Die Doppelbelastung von Frauen ist keinesfalls nur temporär, der staatliche Rückzug aus der sozialen Verantwortung ist dauerhaft. „Die Vorstellung, dass das Wohlbefinden der Bevölkerung und ihr Lebensstandard Güter sind, die vom Staat garantiert werden sollten – die Basis europäischer Sozialstaaten –, ist nicht länger common sense“, schreibt Campillo Poza.
Welche Folgen haben diese Krisenerfahrungen für das Geschlechterverhältnis im Privaten? Gibt es eine Verbindung zwischen Arbeitslosigkeit und patriarchaler Gewalt? Dazu bieten die Studien keine Antwort. Noch fehlen statistische Erhebungen zu Gewalt an Frauen in den jeweiligen Staaten. Die polizeilichen Kriminalitätsstatistiken geben über die Entwicklung der Gewaltrate kaum Auskunft, da sie lediglich jene Taten erfassen, die zur Anzeige gebracht wurden. Darüber hinaus wird die Beziehung zwischen Tatverdächtigen und Opfern in Deutschland erst seit 2011 erfasst, in anderen europäischen Staaten teils überhaupt nicht. Die Studie zu Irland hält jedoch fest, dass die Zahl der in Frauenhäusern Schutzsuchenden während der Krisenjahre um 43 Prozent zunahm und das Budget für Frauenhäuser um 40 Prozent gekürzt wurde. Es wird zudem darauf verwiesen, dass Frauen in prekären ökonomischen Situationen patriarchaler Gewalt stärker ausgeliefert sind.
Die eingangs erwähnte Kernfrage der Studien – ob und wie die Zunahme des Antifeminismus in Europa mit der ökonomischen Krise zusammenhängt – konnten die Autorinnen jedoch nicht beantworten. Der rechte Wunsch nach einer Retraditionalisierung der Geschlechterrollen könnte eine Antwort auf die Doppelbelastung durch prekäre Lohnarbeit und unbezahlte Sorgearbeit, auf männliche Krisenerfahrung oder den Rückzug des Sozialstaates sein. Aber das bleiben Vermutungen.
Konkreter wird es in den Länderberichten, wenn es um feministische Lösungen für die Care-Krise geht. Die politischen Konzepte, die aus verschiedenen europäischen Staaten zusammengetragen werden, ähneln sich: Vorgeschlagen wird die Reduzierung der Arbeitszeit für Männer und Frauen auf 20 bis 25 Stunden, die Förderung von Elternzeit für Väter und massive staatliche Investitionen in Bildung, Gesundheit und Pflege. Gehör für diese Forderungen verschafften sich auf Spaniens Straßen zuletzt 5,3 Millionen Menschen beim Frauenstreik im März dieses Jahres. Solche Investitionen aber würden eine Abkehr von der Austeritätspolitik bedeuten, die nicht in Sicht ist. SPD-Bundesfinanzminister Olaf Scholz hält eisern an der Politik der schwarzen Null fest – kein Wunder, dass von 100.000 in Deutschland benötigten Pflegestellen nur 13.000 geschaffen werden sollen. Pflegerinnen, Partnerinnen und Töchter werden das schon auffangen, wie sie es seit Jahren tun. Oder? Das Motto des spanischen Frauenstreiks war: „Wenn Frauen streiken, steht die Welt still.“
Quelle: Der Artikel erschien zuerst im der Freitag::https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/kueche-kinder-krise und wird hier mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Redaktion gespiegelt : http://www.freitag.de Bild: cco pixabay