Trotz weiterhin steigender Arbeitslosenzahlen, die sich seit Monaten der Millionengrenze nähern, leistet die neoliberal- und marktradikale Arbeitsmarktpolitik nahezu einen Offenbarungseid, wenn sie in den monatlichen Arbeitsmarktberichten der Öffentlichkeit die Ursachen der Arbeitslosigkeit zu erklären versucht. Dann müssen entweder der „verhaltene Start der Herbstbelebung,“ die „Wintermonate“ oder ein „saisonüblicher“ Anstieg der Arbeitslosenzahlen dafür herhalten, dass zigtausende von Menschen nicht nur ihren Arbeitsplatz verlieren, sondern aufgrund der völlig unzureichenden Sozialleistungen, ob mit Arbeitslosengeld des SGB III oder mit Bürgergeld des SGB II, in finanzielle Notlagen gestürzt werden. Für den aktuellen Arbeitsmarktbericht wird eine weitere Erklärung für das arbeitmarktpolitische Versagen präsentiert, nämlich eine schwache konjunkturelle Entwicklung des Arbeitsmarktes“, ohne dass deutlich wird, was denn „schwieriger“ geworden ist und welche Ursachen dafür angeblich verantwortlich sind. Die Umsatz- und Gewinnzahlen der deutschen Großindustrie sprechen nämlich eine deutlich andere Sprache. So berichtet u.a. das Manager-Magazin, dass die 100 größten Familienunternehmen (VW, Aldi, etc.) 2023 einen addierten Umsatz von 1,6 Bio. € erzielt haben und damit 100 Mrd. oder 6% mehr als im Vorjahr. Die Süddeutsche überschreibt ihren Beitrag von März 2024 mit „Die Konzerne verdienen so viel wie nie.“ Dass die mediale Sprachregelung aber diese Tatsachen systematisch verschweigt und die Bevölkerung auf einen Rezessionskurs einstimmen soll, dient in erster Linie der Vorbereitung einer neuen Entlassungswelle (s. VW, ThyssenKrupp, etc.), die angeblich alternativlos ist, um den jeweiligen Standort zu retten. Und die offizielle Arbeitsmarktpolitik in Gestalt der Bundesagentur für Arbeit und ihre Regionaldirektionen stützt jederzeit bereitwillig diese beständige Täuschung der Öffentlichkeit, wie wir der aktuellen Presseerklärung der Regionaldirektion entnehmen können (s.o.).
Darüberhinaus verschleiern die sog. offiziellen Zahlen Monat für Monat, dass die tatsächliche Arbeits- bzw. Erwerbslosigkeit in NRW mit 967.697 Tsd. Personen in einem Bereich liegt, der auch nicht ansatzweise Anlass zur Euphorie geben sollte. Denn damit liegt die tatsächliche Arbeitslosigkeit um 28.440 arbeitslose Menschen höher als im Vergleichsmonat des Vorjahres. Dies veranlasst die neoliberalen Akteure der NRW-Arbeitsmarktpolitik jedoch in keiner Weise, entschiedene Maßnahmen für eine deutliche Kursänderung zu ergreifen. Im Gegenteil, sie verbreiten auch weiterhin Durchhalteparolen und einen unbegründeten Zweckoptimismus, wenn der Geschäftsführer der Regionaldirektion NRW, Roland Schüßler, zu den aktuellen Arbeitslosenzahlen zwar einräumt, dass „deutlich weniger Menschen eine neue Arbeit“ fänden, um dann aber wieder in den Erfolgsmodus zu wechseln und mit stolzer Brust verkündet, dass „der Arbeitsmarkt trotz des etwas schwierigeren wirtschaftlichen Umfeldes noch stabil (bleibt) und eine für die Jahreszeit übliche Entwicklung“ zeige. Man könnte schon fast von Realitätsverweigerung sprechen, aber es gehört erfahrungsgemäß zur neoliberalen Propaganda, schlechte Verhältnisse schönzureden, um die deutsche Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik im europäischen Kontext weiterhin als vorbildlich und erfolgreich darzustellen.
So verbleiben die Langzeitarbeitslosigkeit und die Zahl der Menschen, die gezwungen sind, von völlig unzureichenden „Bürgergeld“-Sätzen zu leben (aktuell mehr als 1,6 Mio. in NRW), nach wie vor auf einem erschreckend hohen Niveau. So ist die Teilnehmerzahl beim Projekt „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ sogar zurückgegangen, während der sog. „Abgang“ in Erwerbstätigkeit nur 13.464 Personen von 533.878 Tsd. im SGB II-System registrierten arbeitslosen Menschen ausweist und damit sich lediglich ca. 2,4 % (!) in die Erwerbstätigkeit abmelden. Und dabei heißt es doch so schön in nahezu allen Stellungnahmen der Arbeitsagentur, dass der Arbeitsmarkt sich weiter „robust“ gezeigt habe. Ja, stabil im Interesse der NRW-Großkonzerne, deren Gewinne nahezu explodieren, aber desolat, wenn man die zunehmende Verarmung in NRW zum Maßstab machen würde.
Zu den Zahlen im einzelnen:
Die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit wird mit lediglich 773.115 Personen angegeben, während damit 194.582 (!) Personen unterschlagen werden, weil sie nach neoliberaler Terminologie nicht zu den „Arbeitslosen“ gerechnet werden. Diese unterschlagene Zahl setzt sich im einzelnen aus 158.964 Personen im SGB II-Bezug („Bürgergeld“) und 35.503 Personen im SGB III-Bezug (ALG 1) zusammen. Sie befinden sich entweder in sog. Trainings- oder Weiterbildungs-Maßnahmen, gehören zu Alleinerziehenden oder sind kurzfristig arbeitsunfähig erkrankt. Alle von ihnen sind zwar bei den Arbeitsagenturen und Jobcentern arbeitslos gemeldet, werden aber zur Bereinigung der Statistik als arbeits- bzw. erwerbslose Menschen nicht berücksichtigt. Die neoliberale Arbeitsmarktpolitik hat dafür den vernebelnden Begriff der „Unterbeschäftigung“ erfunden.
Der Anstieg der offiziell registrierten Arbeitslosigkeit um 47.954 Personen seit August 2023 beruht allerdings zu einem nicht geringen Teil darauf, dass zum Stichtag (15. August 24) in NRW ca. 40 Tsd. aus der Ukraine geflüchtete Menschen arbeitslos gemeldet waren. Da diese seit dem 01.06.22 von den Jobcentern erfasst und damit SGB II-leistungsberechtigt sind, waren ca. 146.000 Leistungsanträge für Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit bei den Jobcentern abgegeben worden. Darunter fast ca. 46.000 Kinder und Jugendliche. Die eklatante Schieflage der neoliberalen Arbeitsmarktpolitik zeigt sich insbesondere auch bei den Ukraine-Flüchtlingen, die nur zu 25% in den Arbeitsmarkt integriert sind, während es z.B. in Dänemark gelungen ist, diese Flüchtlinge zu 75% zu beschäftigen. Und dies nicht vorrangig im Niedriglohnsektor, sondern in halbwegs gut bezahlten Arbeitsverhältnissen zu integrieren, so dass der größte Teil der Flüchtlinge nicht auf Sozialleistungen angewiesen ist.
Von den offiziell registrierten Personen sind 420.287 Männer (54,4%) und 352.828 Frauen (45,6%). 72.609 als arbeitslos registrierte Personen sind zwischen 15 bis unter 25 Jahre alt (7.835 mehr als im Vergleichsmonat des Vorjahres). 255.777 (33,1%) sind älter als 50 Jahre. Und obwohl „Ausländer“ (offizielle Kategorie) an der Gesamtbevölkerung nur ca. 12% ausmachen, liegt ihr Anteil mit 40,0% (309.071) weit über ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Die relativ hohe Differenz von 18.414 Personen im Vergleich zum August 2023 beruht, wie bereits ausgeführt, hauptsächlich auf dem Zuzug von ukrainischen Flüchtlingen, denen im Verhältnis zu allen anderen (Kriegs-)Flüchtlingen ein sofortiger SGB II-Leistungsanspruch eingeräumt wurde.
Auch die Langzeitarbeitslosigkeit liegt mit 309.289 Personen um 11.522 höher als im August 2023 und nach wie vor auf einem mehr als hohen Niveau. Trotz eines vor ca. fünf Jahren vollmundig propagierten Programms zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit („Teilhabe am Arbeitsmarkt“) sind von diesem arbeitsmarktpolitischen Instrument in NRW aktuell gerade einmal 9.342 Personen (2.921 weniger (!) als im August 2023) in einem geförderten und sozialversicherten Arbeitsverhältnis (jedoch ohne Arbeitslosenversicherung), also nur ca. 4,5 % der Menschen, die dringend in den Arbeitsprozess integriert werden müssten.
Im Gegensatz zur offziellen Propaganda, die den Eindruck erzeugt, die Arbeitsmarktpolitik tue alles, um die arbeitslosen Menschen zu fördern (O-Ton: „Die Qualifizierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sehe ich als zentralen Schlüssel für den Arbeitsmarkt der nahen Zukunft“), sprechen die Zahlen eine deutlich andere Sprache. Obwohl von den arbeitslosen Menschen im Bürgergeld-Bezug ca. 65% (!) ohne berufsqualifizierenden Abschluss sind, erhalten nach aktuellem Stand lediglich 13.234 von ihnen eine berufliche Weiterbildung, also gerade einmal ca. 3% (!) werden beruflich gefördert. Deutlicher kann sich die neoliberale Propaganda eigentlich nicht selbst entlarven.
Bei der arbeitsmarktpolitischen Förderung („Weiterbildung“) springt insbesondere ins Auge, dass die Arbeitslosen, die ALG I beziehen, eine erheblich qualifiziertere und kostenaufwändigere Förderung erhalten, als die im SGB II-System erfassten Personen. Während von 26.826 ALG I-Leistungsbeziehenden (diese Zahl erfasst Personen, die „nah“ am Arbeitslosenstatus sind) 19.003 Personen, also ca. 70 %, an einer beruflichen und abschlussbezogenen Weiterbildung teilnehmen, sind es bei den „Bürgergeld“-Beziehenden lediglich ca. 12,7 % (13.234 von 101.167 Personen, die nach neoliberaler Lesart „nah“ am Arbeitslosenstatus sind), was das Zwei-Klassensystem in der Arbeitsförderung mehr als deutlich zum Ausdruck bringt. Und obwohl doch von der Förderung gerade diejenigen profitieren sollten, die besonders darauf angewiesen sind: Menschen ohne Hauptschul- bzw. berufsqualifizierenden Abschluss.
Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in NRW war im Juni 2024 (letzter statistisch erfasster Monat) geringer als im Vormonat und betrug 7.333.900 Mio. Personen, wovon jedoch allein ca. 30 % (ca. 2.16 Mio.) in Teilzeit arbeiten. Dass jedoch selbst eine sozialversicherte Beschäftigung seit vielen Jahren häufig nicht mehr zur Finanzierung des Lebensbedarfs reicht, kommt sehr deutlich bei den im Bürgergeld-System erfassten Menschen zum Ausdruck: von 233.810 Menschen mit aufstockenden Leistungen arbeiten gerade einmal 110.567 sozialversicherungspflichtig, wovon lediglich 20.965 in Vollzeit und 86.586 im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung arbeiten (Faktencheck des DGB NRW Stand Mai 2024).
Die regelmäßig von der offiziellen Berichterstattung nahezu unterschlagenen Menschen im Bürgergeld-Bezug werden mit 1.143.671 Mio. Personen angegeben, was der Zahl der sog. „erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“ entspricht. Auch hier hat die Leistungsberechtigung der Ukraine-Flüchtlinge zum überwiegenden Teil dazu geführt, dass diese Zahl seit Juli 2023 um 19.752 Menschen gestiegen ist. Hinzu kommen noch die Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren mit 443.126 Personen, so dass in NRW ca. 1,6 Mio. Menschen registriert und damit gezwungen sind, von die Armut Monat für Monat befördernden Sozial-Leistungen zu leben. Zu diesen Zahlen verliert der gesamte Arbeitsmarktbericht wie in den Vormonaten kein einziges Wort!
Schließlich:
nach wie vor hält die neoliberale Arbeitsmarktpolitik an den menschenunwürdigen sog. Arbeitsgelegenheiten, also Ein-Euro-Jobs, fest. Diese enthalten keine normalen arbeitsvertraglichen Rechtsansprüche und sind mit einer nahezu sklavenartigen Lohnhöhe von maximal 2 Euro je Stunde verbunden, die allerdings anrechnungsfrei sind. In NRW machen sie aktuell 14.134 „Maßnahmen“ aus, während das Programm zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit („Teilhabe am Arbeitsmarkt“) gerade einmal 9.342 Personen erfasst hat und selbst diese geringe Teilnehmer*innen-Zahl Monat für Monat abnimmt (2.921 weniger im Verhältnis zum August 2023) . Auch an dieser eklatanten Schieflage soll nach wie vor nichts geändert werden. Der wesentliche Grund für die hartnäckige Beibehaltung von Ein-Euro-Jobs liegt darin, dass sie für die Arbeitsverwaltung bzw. Jobcenter erheblich billiger sind, als wenn, wie im Programm „Teilhabe am Arbeitsmarkt“, zu 100% sozialversicherte Arbeitsverhältnisse gefördert werden, also die Unternehmen von der Lohnzahlung im ersten Jahr völlig und in den Folgejahren stufenweise befreit sind.
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