Angesichts des Zusammenwirkens von Kapitalismuskritik und Überlebensfähigkeit der kapitalistischen Ordnung scheint der Finanzmarkt-Kapitalismus nach dem Sieg über seine Kritiker weniger souverän dazustehen. Beruht die neue Stabilität gar auf einem Pyrrhussieg?
Die Player der Finanzmärkte haben längst Fakten geschaffen. Es wird wieder gezockt im Kasino, und meist nach den alten Regeln. Offensichtlich dauerte der Schwächeanfall des Kapitalismus nicht lange. Noch bevor die Linke den beliebten Streit beginnen konnte, ob sie lieber Arzt am Krankenbett oder Totengräber am Sarg des kränkelnden Finanzmarkt-Kapitalismus sein wolle, scheint der Patient weitgehend genesen. Die Verfassung seiner Kritiker hingegen wirkt weniger stabil. Absurd, aber möglich: Der Kapitalismus könnte ohne größere Dauerschäden aus seiner Jahrhundertkrise hervorgehen, während die Linke eher handlungsunfähig und geschwächt zu sein scheint, unfähig, aus der historischen Bestätigung ihres Misstrauens gegenüber einem entfesselten Marktkapitalismus politisches Kapital zu schlagen. Die Funktionskrise des Finanzmarkt-Kapitalismus hat weder zu einer Hegemonie- noch zu einer Funktions-Krise des Regimes der Vermögensbesitzer noch des Kapitalismus an sich geführt. Kein Wunder, dass in der trotzig erneuerten 25-Prozent-Kapitalrendite-Botschaft eines Josef Ackermann auch Töne des Triumphes unüberhörbar sind.
DIE HILFREICHEN KRITIKER DES KAPITALISMUS
Gleichwohl: Die Schadenfreude von Ackermann & Co. könnte sich als verfrüht und der zweite Frühling des Finanzmarkt-Kapitalismus als kurz erweisen. Der Grund: Seiner historischen Robustheit wohnt die Gefahr inne, sich seiner Gegner und damit der Grundlage seiner erstaunlichen Anpassungs- und Überlebensfähigkeit zu berauben. Diese zunächst paradox anmutende These gewinnt an Plausibilität, sobald man sich der Symbiose von kapitalistischer Entwicklung und antikapitalistischer Kritik zuwendet. Dies haben Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrer Arbeit »Der neue Geist des Kapitalismus« getan (2003). Eine ihrer Kernthesen lautet: Der Kapitalismus braucht die Kapitalismus-Kritik und den Anti-Kapitalismus als Motor seiner Veränderung und als Korrektiv seiner Fehlentwicklungen. Denn aus sich heraus leide er systemisch an einer unterentwickelten Fähigkeit zur moralischen Selbstrechtfertigung und politischen Selbstkorrektur. Aufgrund dieser strukturellen Inkompetenz sei er essenziell auf seine Gegner angewiesen. Erst durch die partielle Verinnerlichung ihrer Kritik sei er in der Lage, interne Funktions- und Moraldefizite zu beheben.
Mit anderen Worten: Gerade bei seinen Gegnern, bei denen also, deren Interessen er systematisch verletzt und deren Empörung er immer wieder hervorruft, findet der Kapitalismus Hinweise auf Defizite sowie neue Lösungswege und begründet damit seine Überlebensfähigkeit. Zweitrangig scheint dabei, ob es sich um Kapitalismuskritik in korrektiver Absicht handelt, die insbesondere Gerechtigkeitsdefizite aufzeigen und den Kapitalismus moralisch herausfordern will. Oder ob Kritik radikal ausfällt und transformatorisch wirken will, indem sie nicht auf die Korrektur von Unzulänglichkeiten, sondern auf die Überwindung der kapitalistischen Ordnung zielt. Ob korrektiv oder radikal, ob reformistisch oder revolutionär, der Kapitalismus braucht den Anti-Kapitalismus! Zur Erneuerung allgemeinwohlbasierter Rechtfertigungsmuster und als Wegweiser aus ökonomischen Funktionskrisen.
PYRRHUSSIEG DES FINANZMARKT-KAPITALISMUS?
Angesichts dieses Zusammenwirkens von Kapitalismuskritik und Überlebensfähigkeit der kapitalistischen Ordnung scheint der Finanzmarkt-Kapitalismus nach dem Sieg über seine Kritiker weniger souverän dazustehen. Beruht die neue Stabilität gar auf einem Pyrrhussieg? Kein Zweifel: Der moderne Kapitalismus hat seine anti-kapitalistischen Gegner bereits in mehreren Partien erfolgreich schachmatt gesetzt. Sein neuer »neoliberaler Geist« hat dabei emanzipatorische Begriffe der Linken wie Freiheit, Individualität und gar Solidarität absorbiert und kapitalismuskompatibel uminterpretiert. Und fasst man Anti-Kapitalismus nicht nur als Gegenideologie, sondern zugleich – und nicht zuletzt – als hegemoniefähige gesellschaftliche Bewegung und interventionsfähige politische Kraft, so ließe sich die große Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus als Kapitalismuskrise ohne Linke bezeichnen. Doch gerade diese Übermacht über seine Gegner könnte dem Finanzmarkt- Kapitalismus historisch zum Verhängnis werden. Indem er sich den anti-kapitalistischen Stachel aus dem Fleisch gezogen hat, könnte er sich zugleich einer unverzichtbaren Voraussetzung seiner historischen Korrektur- und Anpassungsfähigkeit beraubt haben – und damit seines Stabilitätsgeheimnisses. Doch so schnell stirbt der Kapitalismus nicht. Seine Kritiker allerdings auch nicht. Die gegenwärtige Gegnerschwäche dürfte sich als vorübergehendes Phänomen erweisen. Phasen fehlender Selbstkorrektur waren in der kapitalistischen Entwicklung stets auch Phasen sich zuspitzender Widersprüche und Paradoxien. Dies dürfte so bleiben. Und damit wird die Entwicklung selbst Gegenkräfte und Anknüpfungspunkte anti-kapitalistischer Gegenwehr hervorrufen. Doch einen Automatismus gibt es nicht. Die Irrationalitäten des Finanzmarkt-Kapitalismus bieten Ansatzpunkte ideologischer und politischer Gegenwehr, sie müssen gleichwohl von handlungswilligen und handlungsfähigen Akteuren aufgegriffen werden. An Letzteren hapert es gegenwärtig. Sollte die bisherige Analyse zutreffen, steht die Linke vor einer zunächst paradox anmutenden, zweifelsohne schwierigen Aufgabe. Sie hätte sich mittels einer modernen, will sagen: auf der Höhe der Zeit befindlichen Kapitalismuskritik als anti-kapitalistische Kraft zu revitalisieren und dürfte damit den Kapitalismus zu Selbstkorrekturen und einem rationaleren Entwicklungspfad zwingen – um damit auf absehbare Zeit sein Überleben zu sichern. Doch wer könnte Träger einer neuen Kapitalismuskritik sein? Die Sozialdemokratie ist über »dritte Wege« in einer Sackgasse gelandet. Ausbruchsversuche daraus führen sie sicherlich nicht zurück zu einem Selbstverständnis als kapitalismuskritischer Kraft. Und die Gewerkschaften? Sie scheinen seit Ausbruch der Krise durch die Angst vor dem organisationspolitischen Absturz gelähmt und kämpfen um ihr Überleben als ökonomisch, gesellschaftlich und politisch widerständige Kraft. Die massiven Einbrüche in der Produktion und Beschäftigung sowie die fortschreitende Prekarisierung der Arbeit drohen sich zu einer weitreichenden Erosion gewerkschaftlicher Organisations- und Verhandlungsmacht zuzuspitzen. In dieser existenziellen Krisensituation wächst die Gefahr, dass sie sich auf Betriebsebene auf neue Formen der Sozialpartnerschaft und gegenüber der Politik auf neue krisenkorporatistische Kooperationsbemühungen verlegen. Daraus könnte vieles hervorgehen, aber wohl kaum eine kapitalismuskritische Erneuerung gewerkschaftlicher Interessenpolitik. Bliebe die Partei Die Linke. Diese scheint sich als Sammlungsbewegung der Krisenopfer erfolgreich ihren festen Platz im deutschen Parteiensystem zu erkämpfen. Doch die Rolle des Motors einer gesellschaftlichen Bewegung kapitalismuskritischer Kräfte dürfte gegenwärtig ihre Innovations- und Integrationskraft überfordern. Zudem ist die Gefahr lähmender parteiinterner Konflikte, die mitunter eher auf interpersonellen Antipathien als auf politisch-strategischen Differenzen beruhen, längst nicht gebannt.
DIE NEUE MOSAIK-LINKE
Was nun? Keiner der üblichen Verdächtigen für sich genommen drängt sich als Träger einer neuen Kapitalismuskritik auf. Ließe sich nicht auch in der gegenwärtigen Situation gemeinsam erreichen, was die Einzelnen nicht vermögen? Die Perspektive könnte in einem Kooperationsverbund kritischer Kräfte liegen, indem sich unterschiedliche Akteure, Organisationen und Individuen zusammentun und die Spezifika ihrer Handlungspotenziale zu einem politischen Projekt zusammenfügen – und dies, ohne eigene Identitäten preiszugeben.
Für einen solchen Akteur wurde der Begriff der Mosaik-Linken ins Spiel gebracht (Urban 2009). Dabei ist die Mosaik-Linke nicht mit klassisch-linken Vorstellungen von Bündnispolitik eines mit hegemonialen Kapazitäten ausgestatteten Teilakteurs in eins zu setzen. Etwa der Intellektuellen oder der Arbeiterklasse, die sich, gestützt auf ihr kulturelles Kapital oder ihren Organisationsvorsprung in Form straff geführter Parteien und Gewerkschaften, der Unterstützung anderer Organisationen zur Realisierung eigener Ziele zu bedienen trachten. Die Metapher des Mosaiks akzeptiert vielmehr, dass auch kapitalistische Gesellschaften Prozessen der sozialen Differenzierung unterliegen, aus denen eigenwillige Funktions- oder Handlungssysteme hervorgehen. In diesen Kontexten sind die Einzelakteure nicht nur in spezifische Akteurskonstellationen und systemische Eigenlogiken eingebunden. Zugleich haben die Gesellschaften des entwickelten Kapitalismus einen Grad an Differenzierung und damit an Komplexität erreicht, dass kein Akteur eines Teilbereiches für sich reklamieren kann, eine allumfassende Gesamtkompetenz zu besitzen oder besitzen zu können.
Ein solches mosaik-linkes Konzept wirft gegenwärtig wohl mehr Fragen auf, als dass es sich auf Gewissheiten berufen kann. Dabei muss es in seinen gesellschaftstheoretischen Grundlegungen keineswegs, wie vorschnell vermutet werden könnte, auf systemtheoretische Vorstellungen Luhmannscher Prägung zurückgreifen. Die Vorstellung einer akteursfreien und unaufhaltsamen funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in autopoietische Subsysteme, deren Entwicklung nicht von innen und schon gar nicht von außen steuerbar ist, würde ohnehin jegliche Suche nach Möglichkeiten und Ansatzpunkten progressiver Politik entmutigen. Eher verspricht die allgemeine Feldtheorie Pierre Bourdieus analytischen Ertrag. Diese verbindet die Einsicht in die soziale Ausdifferenzierung entwickelter kapitalistischer Gesellschaften mit der systematischen Frage nach der Veränderbarkeit von Akteurskonstellationen, Interessenlagen und Kräfteverhältnissen im jeweiligen Feld. Nach Bourdieu ist ein gesellschaftliches Feld ein »autonomer Mikrokosmos innerhalb des sozialen Makrokosmos« (2001a, 41), ein Universum mit eigenen Regeln, Machttypen, Bewertungs- und Ausschlussprinzipien. Aber es ist eben auch ein Raum veränderbarer Binnenstrukturen und sozialer Kämpfe. »Ein Feld ist ein Kräftefeld und ein Kampffeld zur Veränderung der Kräfteverhältnisse. In einem Feld, wie dem politischen, religiösen oder jedem anderen Feld, wird das Verhalten der Akteure durch ihre Position in der Struktur des Kräfteverhältnisses bestimmt, das für dieses Feld zu dem betreffenden Zeitpunkt charakteristisch ist. Das wirft die Frage auf: Wie definiert man diese Kraft? Worin besteht sie, und wie ist es möglich, diese Kräfteverhältnisse zu verändern?« (Bourdieu 2001a: 49) Zugleich, und hier kommen die Implikationen der neueren Kapitalismustheorie ins Spiel, dürften die binnenstrukturellen Veränderungen in den Feldern durch die Dynamiken des finanzkapitalistischen Akkumulationsregimes gleichsam überdeterminiert werden.
Der Finanzmarkt-Kapitalismus stellt im Kern eine politökonomische und institutionelle Konfiguration dar, durch die vor allem die Spielregeln und Schlüsselakteure der globalen Finanzmärkte in letzter Instanz die Dominanz über die Entwicklungen in den gesellschaftlichen Teilbereichen gewinnen (Windolf 2005). Nicht im Sinne einer vollständigen Determination, wohl aber im Sinne der Strukturierung von Interessen, Akteurskonstellationen und Handlungsstrategien.
Aus feld- und kapitalismustheoretischer Perspektive könnte die Mosaik-Linke also als eine Assoziation von Feldakteuren begriffen werden. Diese hätten sich ihrer eigenen Position innerhalb des Kräfteverhältnisses ihres sozialen Mikrokosmos zu vergewissern, um sich sodann an die Arbeit einer progressiven Veränderung der feldspezifischen Kräfteverhältnisse zu machen. Damit verändern sich die Felder nicht nur im Innern, sondern auch die Verhältnisse zwischen ihnen. Neue Akteure steigen auf, die nicht zuletzt durch Agenda-Setting die Tagesordnung der sozialen, politischen und kulturellen Kämpfe verändern. Und diese Veränderungen wiederum wären die Voraussetzung dafür, kollektive feldübergreifende Handlungsfähigkeit hervorzubringen, die sich auf die finanzmarktkapitalistische Akkumulationsdynamik zu beziehen hätte. Die Vielen finden durch Bezug auf eine allgemeine Dynamik zu einem Ganzen zusammen. Durch die zielgerichtete und absichtsvolle Bezugnahme auf die hier angedeutete (und wissenschaftlich wie politisch zu bearbeitende) Dialektik von feldspezifischen und -übergreifenden Praxen sollte sich auch im sozial differenzierten Finanzmarkt- Kapitalismus die Möglichkeit eröffnen lassen, dass der »ohnmächtige Protest oder die bedeutungslose Abdankung des isolierten Individuums« einem »einheitlichen und kollektiven, kohärenten und machtvollen Protest« (Bourdieu 2001b, 123) weicht.
PROBLEME DER SELBST-KONSTITUIERUNG DER MOSAIK-LINKEN
Überträgt man die feld- und kapitalismustheoretisch inspirierte Vorstellung der Konstituierung eines Kollektivakteurs mit progressiven Absichten auf die Realität des deutschen Kapitalismus, hätte sich die Mosaik-Linke wohl als Interaktion all jener Akteure zu bilden, deren Interessen durch die finanzkapitalistische Krise und die derzeit vorherrschenden kapitalkonformen Lösungsstrategien unter die Räder zu geraten drohen. Zu denken wäre dabei neben den Gewerkschaften an die globalisierungskritischen, ökologischen und Menschenrechtsbewegungen, die diversen sozialen Selbsthilfe-Initiativen und Sozialverbände, die kritischen Teile der kulturellen Linken und Intellektuellen und nicht zuletzt die Träger kritischer Konsumentenmacht. Auf diesem Weg könnte eine neue soziale Machtform entstehen, die Klaus Dörre (2009, 263) als assoziierte Macht bezeichnet hat. Sie ginge – aufbauend auf progressiven Veränderungen im eigenen gesellschaftlichen Feld – aus der Verbindung der traditionellen Macht der organisierten Lohnarbeit, den Kräften einer zivilgesellschaftlich aktivierten politischen Öffentlichkeit, der Diskursmacht reaktivierter kritischer Intellektueller, der Nachfragemacht politisierter Konsumenten und der Einbringung anderer Machtressourcen hervor. Doch die Selbst-Konstituierungen der Mosaik-Linken und die Hervorbringung ihrer assoziierten Macht dürfte sich als höchst widersprüchlicher und anspruchsvoller Prozess erweisen. Offensichtlich ist, dass ein solcher Kollektivakteur sich vor einem überzogenen Vereinheitlichungsanspruch hüten sollte. Eher sollte er die wechselseitige Anerkennung der jeweiligen Bewegungs- und Organisationskulturen als Schlüsselressource begreifen und entwickeln. Die Welten – oder besser: die gesellschaftlichen Felder –, aus denen der Betriebsrat, die ATTAC-Aktivistin, der Hochschullehrer und die Vertreterin der Clean-Clothes-Kampagne kommen und in denen sie politisch sozialisiert wurden, könnten unterschiedlicher kaum sein. Gerade in der Unterschiedlichkeit der Erfahrungen, Kompetenzen und Zugänge liegt die Chance, die aus den Widersprüchen des modernen Finanzmarkt- Kapitalismus hervorgehenden Widerständigkeiten zu einem wirkungsmächtigen Korrektiv zusammenzufügen.
Dies ist als Anspruch schneller formuliert als in der sozialen Praxis realisiert. Hier stehen komplexe Theorie- und Strategiefragen zur Debatte. Wie lässt sich trotz aller Heterogenität das Reservoir an gemeinsamen Analysen, Wertvorstellungen und Politikentwürfen erzeugen, ohne das kollektive Handlungsfähigkeit kaum vorstellbar ist? Wie entsteht feldübergreifende Handlungsfähigkeit zwischen Akteuren, die in die Logik ihres sozialen Mikrokosmos eingebunden sind? Gibt es eine funktionale Hierarchie der gesellschaftlichen Felder und welche Konsequenzen könnte oder sollte diese haben? Wie lässt sich überhaupt die gesellschaftliche Bewegungs- und Diskursmacht in Einfluss in den Arenen des politischen Feldes transformieren, das sich – wie gerade Bourdieu gezeigt hat – systematisch auch gegen gesellschaftliche Mehrheiten abschottet? Wie lassen sich Vorkehrungen gegen einen eventuell auftretenden imperialen Übermut einzelner Teilakteure treffen, die anderen an Organisationsmacht, Ressourcen und Konflikterfahrungen überlegen sein mögen und daraus im kollektiven Handlungskontext ihren Nutzen ziehen möchten? Und nicht zuletzt: Wie kommt der Anti-Kapitalismus zurück in die Linke? Diese und andere Fragen wären im Rahmen einer kollektiven Forschungs- und Diskurs-Anstrengung aller Beteiligten zu klären. Dies liefe auf eine Theorie der assoziierten Macht hinaus. Auf eine Theorie der Generierung und Mobilisierung kollektiver Handlungsfähigkeit eines in sich heterogenen Akteurs, die aus der Kombination von Machtressourcen erzeugt wird, die in diversen gesellschaftlichen Feldern entstehen und in komplizierten sozialen Verständigungsprozessen zusammengeführt werden müssen.
GESELLSCHAFTLICHE UND POLITISCHE MOSAIK-AKTEURE
Von besonderer Bedeutung ist das Verhältnis der gesellschaftlichen Mosaikakteure zu denen im politischen Feld. Um gleich auf einen heiklen Punkt zu kommen: Die neue Linke muss sich vor einem naiven Anti-Etatismus hüten. Zum einen ist eine Strategie der Transformation des gegenwärtigen Entwicklungsmodells in Richtung eines öko-sozialen Pfadwechsels auch auf entsprechende Entscheidungen in den politischen Arenen angewiesen. So wichtig der Kampf um gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und Hegemonie auch ist – und er ist wichtig! – , müssen progressive gesellschaftliche Verhältnisse auch in progressive Gesetze münden, müssen entsprechende Haushalte aufgestellt und ebensolche Leitbilder eines anderen Entwicklungsmodells entworfen werden. Die staatlichen Interventionsmedien Recht, Geld und Normen sind auch für eine durchsetzungsfähige Linke von zentraler Bedeutung. Der zweite Grund: Die Fokussierung linker Strategien auf die Gesellschaft beruhte oftmals auf einem prinzipiellen Misstrauen gegenüber der Eignung des bürgerlichen Staates für anti-kapitalistische Politik. Aber in ihm kam auch das Fehlen eines politischen Akteurs zum Ausdruck, der dauerhaft willens und in der Lage gewesen wäre, eine korrektive oder transformative kapitalismuskritische Politik in den politischen Arenen zu betreiben und den Absorptionszwängen des Parlamentarismus zu widerstehen. Mit der Partei Die Linke bietet sich eine neue historische Chance. Trotz noch zu beantwortender Personal- und Strategiefragen: Mit ihr ist ein neuer Akteur in das politische Feld eingetreten, der das Potenzial einer kapitalismuskritischen Kraft in sich trägt. Mit Blick auf die Förderung der Mosaik-Linken könnten ihr drei Schlüsselfunktionen zukommen: Erstens als Vetospieler in den politischen Entscheidungsverfahren gegen falsche Weichenstellungen zu wirken und eine aktive Oppositionsrolle gegenüber den finanzmarktkapitalistischen Zumutungen wahrzunehmen. Zweitens Impulse aus der Gesellschaft aufzunehmen, sie mit Erfahrungen, Kompetenzen und Ressourcen aus der parlamentarischen Arbeit zu verbinden und in entsprechende politische Initiativen übersetzen und – wo machbar – öffentliche Mittel, Rechtsetzungskompetenz und politische Öffentlichkeitsarbeit für politische Reforminitiativen zu nutzen. Drittens ginge es darum, den gesellschaftlichen Mosaik-Akteuren Impulse und Entwürfe für kapitalismuskritische Korrekturprojekte anzubieten, die Interessenlagen der Feldakteure bündeln und als Motor des Konstituierungsprozesses der Linken dienen könnten.
Ein solcher Prozess stellt hohe Anforderungen an alle Beteiligte. Die Partei muss sich in ihrer Oppositions- und Reformpolitik aktiv um permanente Rückkoppelungen mit den gesellschaftlichen Akteuren bemühen und Avantgardeansprüche fallen lassen. Und sie muss sich in ihrer Parlaments- und Regierungsarbeit der zu beobachtenden Verselbstständigung des politischen Systems und seiner Abschottung gegenüber der Gesellschaft entgegenstemmen. Aber auch die gesellschaftlichen Akteure dürfen es sich nicht in einer passiven Erwartungshaltung bequem machen. Auch sie haben mit Blick auf die Konstituierung der Mosaik-Linken eine Bringschuld. Die Kooperation mit den Parteien kann nur gelingen, wenn die gegen den Bologna-Prozess aufstehenden Studierenden, die für Arbeitsplätze und Sozialstandards mobilisierenden Belegschaften und Gewerkschaften oder die für eine Energiewende kämpfenden Öko-Initiativen in ihren feldspezifischen Strategien die Politik gegen die Kernstrukturen des finanzkapitalistischen Regimes nicht zu kurz kommen lassen. Wo dies gelingt, entsteht ein potenzieller Mosaik-Akteur, wo es misslingt, dürfte der Protest die Grenzen des Feldes nicht überwinden.
DEMOKRATISIERUNG ALS ANTIKAPITALISTISCHES KORREKTUR-PROJEKT
Welches könnten solche Projekte sein? Zweifelsohne müssten die umfassende Regulierung der Finanzmärkte und die Bändigung ihrer irrationalen Handlungslogik weit oben auf einer Korrektur-Agenda stehen. Nicht minder dringlich wäre die umfassende Veränderung des finanzkapitalistischen Verteilungsregimes, das unvorstellbaren privaten Reichtum, Niedriglöhne, beschämende Prekarität und bittere Armut zugleich hervorbringt. Gerade die schamlose Ungleichverteilung sozialer Lebenschancen scheint zunehmend gegen gesellschaftlich anerkannte Gerechtigkeitsvorstellungen zu verstoßen. Sie könnte sich als eine Quelle politischer Empörung und damit als Anknüpfungspunkt einer Gegenbewegung erweisen. Denn die Zukunft dürfte noch düsterer als die Gegenwart ausfallen. Für die Unternehmen hat sich die Freisetzung prekärer Arbeit als schnelle und konfliktarme Krisenstrategie bewährt. Sie werden zukünftig in ganz neuen Dimensionen auf die Ausweitung von Befristungen, Leiharbeit, Praktika und anderen Formen diskriminierter Beschäftigung setzen. Der Gesellschaft droht eine Prekaritäts-Explosion – mit allen Folgeproblemen für den Zusammenhalt der Zivilgesellschaft und die Aktionsmöglichkeiten ihrer Akteure. Unter den gegenwärtigen Spielregeln dürfte es schwer fallen, die Unternehmen von dieser Art strategischer Krisenvorsorge abzuhalten. Der neuen Linken bleibt nichts übrig, als dagegenzuhalten. Damit rückt das Problem gesellschaftsverträglicher Unternehmensführung ins Blickfeld. Die Ökologisierung von Produktion und Konsum, die Regulierung der Finanzmärkte, auch die Steuerung der Ressourcen der realwirtschaftlichen Wertschöpfung avancieren zu Schlüsselprojekten einer antikapitalistischen Gegenbewegung. Die Mosaik- Linke wird, je stärker ihre kapitalismuskritischen Korrektur-Projekte Eingang in die gesellschaftlichen Konflikte finden, um so heftiger mit den Vermögens- und Machtinteressen der finanzmarktkapitalistischen Eliten kollidieren. Die Umsetzung der diversen Vorstellungen einer sozial-ökologischen Regulierung wird sich schnell als das zu erkennen geben, was Projekte der Zivilisierung des Kapitalismus immer waren und bleiben werden: gesellschaftliche und politische Machtfragen. Damit geht es um Demokratie, als einzige historisch bewährte Methode, die Bedürfnisse der Vielen gegenüber den Interessen und der Macht der Wenigen zur Geltung zu bringen. Das gilt vor allem für die Felder der Ökonomie, die sich als weitgehend stabile Bastionen von Elitenprivilegien und -macht über die Krise hinweg gerettet haben. In diesem Sinne wäre die Demokratisierung wirtschaftlicher Entscheidungsprozesse als weiteres, vielleicht wichtigstes Kernprojekt der Mosaik- Linken und als Bedingung der Möglichkeit zu begreifen, die Ökonomie vom Shareholder-Value-Regime zu befreien, das die gesamte Gesellschaft im »stahlharten Gehäuse der Hörigkeit« (Max Weber) der Finanzmärkte gefangen hält. Bis in die Gegenwart wirkt vor allem die kurzfristige Orientierung auf schnelle und hohe Profite, die mit den erneut an den Finanzmärkten erzielbaren Margen konkurrenzfähig sind, als die zentrale Innovationsblockade. Wirtschaftsdemokratische Ansätze müssten dabei auf mindestens vier Ebenen etabliert werden: als direkte Partizipation von Beschäftigten am Arbeitsplatz und im Betrieb; als Kollektivwille innerhalb und im Umfeld großer Unternehmen, der explizit macht, dass es sich bei diesen Wirtschaftsorganisationen im Grunde um öffentliche Institutionen handelt; über regionale wie nationale Wirtschafts- und Strukturräte sowie als Demokratisierung wichtiger internationaler Institutionen.
Demokratiepolitik in diesem Sinne könnte zugleich eine Möglichkeit der Erneuerung der Linken eröffnen. Demokratische Akteure im Sinne der Einflussnahme auf die strategischen Entscheidungen in Wirtschaft und Gesellschaft sind nicht mehr jene »unabhängig voneinander existierenden, getrennten Individuen, zwischen denen nicht einmal ein Minimum an Interaktion stattfindet«, sondern jene Mosaikteile, die ihre Sichtweisen einander konfrontieren, »um (im Idealfall) zu einer Synthese zu gelangen, in der die Unterschiede bewahrt und aufgehoben werden, um ein Ganzes zu erhalten, das sich mehr als über seine einzelnen Elemente über deren Verknüpfungen definiert« (Bourdieu 2001c, 118f).
AUSBLICK
Vor allem die Ausweitung demokratischer Einflussnahme auf Investitionsentscheidungen großer Unternehmen wäre gut in ein Programm eines zeitgemäßen Antikapitalismus zu integrieren. Ein solches hätte zunächst die Widersprüche und Paradoxien des durch und durch irrationalen Finanzmarkt-Kapitalismus zu Ausgangspunkten einer Bewegung in korrektiver Absicht zu machen. Die Anknüpfungspunkte liegen offen zutage. Dennoch bleiben konzeptionelle Gegenentwürfe und die Formierung einer handlungsmächtigen Gegenbewegung höchst anspruchsvolle Unterfangen. Wieder einmal steht die Linke vor dem Einfachen, das schwer zu machen ist. Ohne Antikapitalismus keine kapitalistische Selbstkorrektur und damit keine Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus. Und ohne die Mosaik-Linke keine wirkungsmächtige Kapitalismuskritik. Diese Einsicht sollte die Kapitalismus-Dulder innerhalb der Mosaik-Linken zur Toleranz gegenüber der Ungeduld der Kapitalismus-Überwinder und diese zu Realismus mit Blick auf ihre transformatorischen Hoffnungen anhalten. Ob perspektivisch mehr daraus werden kann, wird der Prozess erweisen müssen.
Literatur
Boltanski, Luc, und Ève Chiapello, 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz
Bourdieu, Pierre, 2001a: Das politische Feld, in: Ders., Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz, 41–66
Ders., 2001b: Kurze Bemerkung über die Antinomie des kollektiven Protests, in: Ders., a. a. O., 123–5
Ders., 2001c: Formen politischen Handelns und Existenzweisen von Gruppen, in: Ders., a. a. O., 115–21
Dörre, Klaus, 2009: Landnahme, sozialer Konflikt, Alternativen – (mehr als) eine Replik, in: Ders., Stefan Lessenich und Hartmut Rosa, Soziologie. Kapitalismus. Kritik. Eine Debatte. Frankfurt/M, 245–64
Urban, Hans-Jürgen, 2009: Die Mosaik-Linke. Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 5, 71–8
Windolf, Paul (Hg.), 2005: Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen (Sonderheft 45 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie), Wiesbaden
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Hans-Jürgen Urban ist seit 2007 geschäfts-führendes Vorstandsmitglied der IG Metall und für Sozialpolitik, Gesundheitsschutz und Arbeitsgestaltung zuständig. Seit 2014 ist er Privatdozent am Institut für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er hat den strategischen Begriff der Mosaiklinken geprägt.
Der Beitrag erschien bereits 2010 - den Begriff der Mosaiklinken hat Hans-Jürgen Urban in den linken Diskursraum eingespeist und damit einen bedeutenden Impuls für die kapitalismus- und gesellschaftskritische Strategiediskussion geliefert. Weitere Infos zur aktuellen Diskussion in dem Buch: Gewerkschaft, Politik, Wissenschaft / Brigitte Aulenbacher, Frank Deppe, Klaus Dörre, Christoph Ehlscheid, Klaus Pickshaus (Hrsg.)ISBN: 978-3-89691-064-6418 Seiten/Preis: 40,00 € Erschienen: 2021 Bild: verdi.de