Die Wiederaufrüstung Europas („Rearm Europe“, neuerdings „Readiness 2030“ genannt) ist seit März 2025 offizielles EU-Programm. Was hat die Welt da zu erwarten?
Von Johannes Schillo
Anfang März 2025 stellte Kommissionspräsidentin von der Leyen ihr Maßnahmenpaket zur „Wiederaufrüstung Europas“ vor. Einige Tage später erfolgte die Vorlage des „Weißbuchs zur Zukunft der europäischen Verteidigung“, das von der deutschen Presse als eine Art Unabhängigkeitserklärung der EU gewertet wurde. EU-Außenbeauftragte Kallas hatte kurz zuvor mit Blick auf die transatlantischen Spannungen die (militärische) Marschrichtung vorgegeben: Mit den jüngsten Entwicklungen sei klar geworden, „dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht. Es liegt an uns Europäern, diese Herausforderung anzunehmen“ (Junge Welt, 22./23.3.2025).
Die Welt verlangt, dass „wir“ in Europa – Deutschland voran – globale Verantwortung übernehmen. Ein Spruch über die einschlägigen Sachzwänge, den man von deutschen Politikern seit Jahren kennt und der als Selbstverständlichkeit durchgeht. Aber was sagt der wissenschaftliche Sachverstand zu den aktuellen Fortschritten?
Björn Hendrig hat am 30. März im Overton-Magazin einen Beitrag gebracht, der sich mit den neuesten europäischen Aufrüstungs-Anstrengungen seit Trumps Amtsantritt befasst. Die deutsche Polit-Elite habe nur einen Schluss aus dem Wechsel der US-Sicht auf den Ukraine-Krieg gezogen: „Wir machen weiter! Genauer: Lassen weiter machen. Die Ukrainer sollen möglichst lange weiter bluten, um Russland die ersehnte Niederlage beizubringen. So etwa bis 2029, dann müsste man mit der Aufrüstung gegen die Weltmacht im Osten fertig sein, rechnet Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius vor. Die EU gibt ihren Mitgliedsstaaten ein Jahr länger Zeit: Laut neuem Weißbuch zum Thema Verteidigung soll die Union bis 2030 die ‚volle Bereitschaft‘ erreichen“.
Dann, so Hendrig, könnte die Friedensmacht EU – wir erinnern uns: der Friedensnobelpreisträger des Jahres 2012! – „Russland auf Augenhöhe begegnen. Oder anders ausgedrückt: Diesem Land mit Aussicht auf Erfolg einen Krieg androhen. Wenn der dann gewonnen wird, irgendwie, mit Millionen Toten und weiträumiger Zerstörung des Kontinents, zieht endlich Frieden ein.“ Die EU sieht sich natürlich von vielen Seiten bedroht und bedrängt. Auch Handelskriege gehören dazu. Besonders die führenden Politiker aus Deutschland und Frankreich fürchten um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen gegenüber dem Kapital aus den USA und aus China. Das wirtschaftliche Dominanzstreben soll dabei immer von den anderen ausgehen und „uns“ vor Herausforderungen stellen. Weil das prinzipiell so ist, sieht Polit-Experte Münkler die eigentliche Aufgabe der Politik darin, sich auf Bedrohungen einzustellen, bevor sie eintreten.
Das heißt im Klartext, man muss andere bedrohen, damit diese keine Chance haben, uns in die Quere zu kommen. Aber Politiker formulieren es gern andersherum, weil sie – jedenfalls an dieser Stelle – nicht als Akteure, sondern lediglich als „Verantwortungsträger“ wahrgenommen werden wollen, als diejenigen, „die nun einmal auf ‚Herausforderungen‘ reagieren müssten. Dabei betreiben doch sie den Kampf um Reichtum und Macht gegen die anderen Staaten dieser Welt“, resümiert Hendrig. Und „dass die größeren Mächte dieser Welt sich gegen eine Niederlage wehren beziehungsweise ihrerseits neue Fronten aufmachen – sind halt ‚Herausforderungen‘“.
Das Europaideal von gestern
Die Bonner Politik-Professorin und Europa-Expertin Ulrike Guérot legt hier Widerspruch ein, und zwar im Sinne des früheren Ideals einer europäischen Friedensmacht. Guérot war von der Bonner Uni geschasst worden – angeblich wegen ein paar läppischen Zitat-Ungenauigkeiten (wie sie sich Habeck in seiner Dissertation zu Hunderten geleistet hat, aber mit der Ermahnung zum Nachbessern davon kam), in Wirklichkeit, weil sie dem NATO-Narrativ in Sachen Ukrainekrieg öffentlich widersprochen hatte. Jetzt, nach den jüngsten nationalen wie europäischen Aufrüstungsbeschlüssen, hat sie ein „European Peace Project“ (Website: https://europeanpeaceproject.eu/) gestartet, das am 9. Mai europaweit „ein Zeichen für die friedliche Zukunft Europas setzen“ will.
Das Manifest, das vom Peace Project vorgelegt wurde, hält fest: „Die EU, einst als Friedensprojekt gedacht, wurde pervertiert und hat damit den Wesenskern Europas verraten! Wir, die Bürger Europas, nehmen darum heute, am 9. Mai, unsere Geschicke und unsere Geschichte selbst in die Hand. Wir erklären die EU für gescheitert. Wir beginnen mit Bürger-Diplomatie und verweigern uns dem geplanten Krieg gegen Russland! Wir erkennen die Mitverantwortung des ‚Westens‘, der europäischen Regierungen und der EU an diesem Konflikt an.“ Der Forderungsteil will dann den Traum von Europa, den Guérot zusammen mit Hauke Ritz in ihrem viel beachteten Essay „Endspiel Europa“ vorgestellt hatte (vgl. IVA-Texte 2023 und 2024), wieder wahr machen: „Wir fordern ein neutrales, von den USA emanzipiertes Europa, das eine vermittelnde Rolle in einer multipolaren Welt einnimmt. Unser Europa ist post-kolonial und post-imperial. Wir, die Bürger Europas, erklären diesen Krieg hiermit für beendet! Wir machen bei den Kriegsspielen nicht mit. Wir machen aus unseren Männern und Söhnen keine Soldaten, aus unseren Töchtern keine Schwestern im Lazarett und aus unseren Ländern keine Schlachtfelder.“
Guérot bekennt sich zu einem Europaidealismus, der heute auf verlorenem Posten steht. So wollte ja auch ihr Essay der Frage nachgehen, „warum das politische Projekt Europa gescheitert ist und wie wir wieder davon träumen können“ (so der Untertitel des Buchs). Diese Vision einer kontinentalen Versöhnung wird natürlich von jedem der angesagten Politexperten in Deutschland als weltfremd und illusionär in die Ecke gestellt. Wenn allerdings ein Habermas mit dem alten Ideal der Vereinigten Staaten von Europa kommt, nämlich mit der Aufforderung, die deutsche Politik müsse endlich die „politische Schwelle der europäischen Integration nehmen“, die bisher immer vermieden wurde, dann gilt das als Realismus, wird jedenfalls als bedenkenswertes Statement aufgenommen. Das verdient nicht von vornherein das Etikett „weltfremd“, wird doch hier das Ideal einer starken Führungsmacht beschworen.
Und dieses Ideal haben auch die maßgeblichen Europapolitiker – übrigens schon lange, bevor Trump an die Macht kam – auf dem Schirm. Renate Dillmann und Johannes Schillo zogen in ihrem Artikel „Make Europe great again“ (Konkret, 12/23) über den zerstrittenen europäischen Haufen bereits vor anderthalb Jahren das Fazit: „Mehr rücksichtslose Durchsetzung nach innen, Streit um die Führung innerhalb der EU und Kampf um die Vormacht nach außen, mehr Aufrüstung, mehr Militanz – das ist die Konsequenz, die alle EU-Mitglieder ziehen. Darin wenigstens ist diese Gemeinschaft einig.“
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