„Moskau niederringen wie im Kalten Krieg“

Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) schließt eine direkte Beteiligung der Bundeswehr am Ukraine-Krieg nicht aus. Der Westen müsse Russland „noch einmal so niederringen“ wie die Sowjetunion „im Kalten Krieg“, verlangt Gabriel in einem Interview. Niemand wünsche sich, „die Bundeswehr in einen Krieg führen zu müssen“. Stehe die Ukraine aber vor der Niederlage, dürfe man „nichts ausschließen“, äußert der Sozialdemokrat auf die Frage nach einem möglichen Einsatz westlicher Bodentruppen gegen Russland. Während Gabriel damit einen deutschen Kriegseintritt für unter Umständen erforderlich erklärt, hat die Düsseldorfer Waffenschmiede Rheinmetall am Rande der gestern zu Ende gegangenen Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Berlin erneut Vereinbarungen über die Herstellung von Waffen und Munition in der Ukraine getroffen. Die Fertigung im ukrainischen Kriegsgebiet hat mittlerweile begonnen; ukrainische Spezialisten arbeiten dabei unter Anleitung deutscher Rüstungsexperten, die vor Ort tätig sind. Kurz vor Beginn der Wiederaufbaukonferenz war der Leiter der ukrainischen Wiederaufbauagentur im Streit mit Kiew zurückgetreten; er erhebt schwere Vorwürfe gegen die dortige Regierung.

Korruption

Schon vor Beginn der Ukraine-Wiederaufbaukonferenz am Dienstag hatte Berlin einen peinlichen Dämpfer verzeichnen müssen: Am Montag war Mustafa Najjem, ein bekannter Protagonist der Maidan-Proteste im Winter 2013/14, vom Posten des Leiters der ukrainischen Wiederaufbauagentur zurückgetreten. Sein Rücktritt folgte der Entlassung des ukrainischen Infrastrukturministers Oleksander Kubrakow im Mai; Kubrakow hatte sich offenbar nicht im gewünschten Ausmaß daran beteiligt, Mittel seines Ministeriums in private Taschen zu lenken.[1] Najjem wiederum erläuterte seinen Rücktritt auf X, es habe in Kiew „systemische Widerstände“ gegeben, die ihn beständig daran gehindert hätten, seinen „Pflichten effektiv nachzukommen“.[2] Auf Facebook wiederum teilte er mit, seine Agentur habe sich vor allem seit November 2023 „mit ständigem Widerstand und der Schaffung künstlicher Hindernisse konfrontiert“ gesehen. Gelder seien aus unerfindlichen Gründen nicht weitergeleitet worden; Behörden hätten Baumaßnahmen nicht genehmigt.[3] All dies habe die nötigen Bauarbeiten verzögert oder sogar gestoppt. Die Folge sei ein weiterer schwerer Vertrauensverlust, nicht zuletzt in der ukrainischen Bevölkerung. Den letzten Anstoß für Najjems Rücktritt gab schließlich, dass Kiew ihm die Teilnahme an der Berliner Konferenz verweigerte.

Fehlende Arbeitskräfte

Najjem übte nicht nur scharfe Kritik an der offenkundigen Korruption in der Ukraine und an den vermutlich damit zusammenhängenden bürokratischen Widerständen gegen die Arbeit der Wiederaufbauagentur; er wies auch auf ein weiteres gravierendes Problem des Landes hin – den Mangel an Arbeitskräften. „Viele Leute, die jetzt an der Front sind, könnten eigentlich im Bausektor eingesetzt werden“, erklärte Najjem.[4] Der Arbeitskräftemangel ist durch die kürzlich beschlossene Senkung des Rekrutierungsalters noch verschärft worden. Millionen fehlen zudem, weil sie geflohen sind – vor dem Krieg oder auch, weil sie nicht in den Tod an der Front geschickt werden wollen. Erst Mitte Mai hatte Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze erklärt, im Zuge des Wiederaufbaus der Ukraine werde man womöglich Flüchtlinge „bei ihrem Neuanfang in der Ukraine unterstützen“. Dies soll sie zur Rückkehr bewegen, um dem Arbeitskräftemangel abzuhelfen. Mit Blick auf die begrenzte Bereitschaft ukrainischer Flüchtlinge, nach Kriegsende zurückzukehren, teilte Schulze mit, man denke auch über „Modelle der sogenannten zirkulären Migration, also einer zeitweisen Rückkehr“ nach.[5] Weil dies Befürchtungen ausgelöst hat, Berlin ziehe womöglich eine Abschiebung von Ukrainern nach Kriegsende in Betracht, hat Schulze jetzt bekräftigt, man setze bloß auf freiwillige Rückkehr.[6]

Panzerproduktion

Während auf der gestern zu Ende gegangenen Berliner Wiederaufbaukonferenz auch Wege zur Gewinnung von Fachkräften in der Ukraine besprochen werden sollten, gab vor allem die Rüstungsindustrie bereits erreichte Fortschritte beim Aufbau ukrainischer Fabriken bekannt. So haben die Düsseldorfer Waffenschmiede Rheinmetall und das ukrainische Konglomerat Ukroboronprom, wie das ukrainische Ministerium für die strategische Industrie mitteilte, jetzt das erste Reparaturwerk für Panzer und ihre erste gemeinsame Produktionsstätte eröffnet. In dem Reparaturwerk sollen Schützenpanzer des Typs Marder, die defekt sind oder an der Front beschädigt wurden, instandgesetzt werden.[7] Mit Blick auf die Produktionsstätte, in der ukrainische Spezialisten schon jetzt unter Aufsicht deutscher Rheinmetall-Mitarbeiter tätig sind, vereinbarten beide Seiten am Rande der Berliner Wiederaufbaukonferenz die nächsten Schritte beim Hochfahren der Fertigung. Demnach soll zunächst der Schützenpanzer Lynx hergestellt werden, der in einer anderen Variante auch als Flugabwehrpanzer gefertigt werden kann. Die dazu in Frage kommende 35-Millimeter-Kanone des Typs Skyranger wird auch in dem Flugabwehrsystem Skynex genutzt, von dem Rheinmetall im März angekündigt hatte, es in die Ukraine liefern zu wollen.[8] Im Rahmen von Skynex wird die Kanone in der Praxis getestet.

„Das Arsenal der freien Welt“

Auf den Bau einer weiteren Rüstungsfabrik haben sich bereits Ende vergangener Woche der deutsch-französische Panzerbauer KNDS und die Ukraine geeinigt. Eine entsprechende Vereinbarung wurde am vergangenen Freitag in Anwesenheit des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Paris unterzeichnet. Bislang wurden nur wenig Details bekannt. Es heißt allerdings, die Dokumente beträfen unter anderem die Lizenzproduktion von Munition des Kalibers 155, an der es den ukrainischen Streitkräften empfindlich mangelt, zudem die Nutzung von 3D-Druckern zur Herstellung von Ersatzteilen.[9] Vor dem Hintergrund einer schon jetzt erkennbar an Schwung gewinnenden ukrainischen Rüstungsindustrie erklärte Oleksander Kamyschin, Minister für die strategische Industrie, anlässlich der Eröffnung des Rheinmetall-Ukroboronprom-Werks, es handle sich um „eine wichtige Etappe beim Aufbau des Arsenals der freien Welt“.[10]

„Nichts ausschließen“

Unterdessen schließt der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel die Beteiligung deutscher Soldaten am Krieg gegen Russland nicht aus. Der Westen müsse „Russland weit härter entgegentreten, als wir das bislang tun“, fordert Gabriel in einem jetzt publizierten Interview: „Wir werden Russland noch einmal so niederringen müssen, wie wir das im Kalten Krieg mit der Sowjetunion gemacht haben“.[11] Auch ein Kriegseintritt der Bundeswehr sei denkbar. Zwar wünsche sich niemand, „die Bundeswehr in einen Krieg führen zu müssen“, erklärt Gabriel: „Aber wenn die Gefahr wächst, dass die Ukraine verliert“, dann zerstöre das „auch unser bisheriges Leben in Frieden und Sicherheit in Europa“. Sollte es Berlin hilfreich scheinen, „dass deutsche Raketenabwehrsysteme mithilfe der Bundeswehr Flugverbotszonen in der Ukraine durchsetzen“, dann würde er „Herrn Putin nicht schon wieder versprechen, dass wir das nie tun werden“. Auf die Frage, ob auch der Einsatz westlicher – also eventuell auch deutscher – Bodentruppen in der Ukraine erforderlich sein könne, antwortet Gabriel: „Sollte die ernsthafte Gefahr bestehen, dass die Ukraine den Krieg verliert, würde ich gegenüber dem russischen Präsidenten nichts ausschließen.“

 

Anmerkungen:

[1] Reinhard Lauterbach: Von hinten aufgezäumt. junge Welt 11.05.2024.

[2] Nils Kreimeier: Wiederaufbauchef der Ukraine tritt zurück. capital.de 11.06.2024.

[3] Andrew E. Kramer: Reconstruction Official Resigns, Highlighting Tensions in Ukraine. nytimes.com 10.06.2024.

[4] Nils Kreimeier: Wiederaufbauchef der Ukraine tritt zurück. capital.de 11.06.2024.

[5] Bundesregierung erwägt Anreize für Ukrainer zu freiwilliger Rückkehr. zeit.de 15.05.2024.

[6] Ministerin Schulze will ukrainische Flüchtlinge nicht zur Rückkehr drängen. spiegel.de 10.06.2024.

[7] Rheinmetall und Ukraine starten Panzer-Reparaturbetrieb. tagesschau.de 11.06.2024.

[8] Martin Murphy, Roman Tyborski: Rheinmetall baut neuen Schützenpanzer Lynx in der Ukraine. handelsblatt.com 12.06.2024.

[9] Ukraine and France: new agreements in the defence industry. kmu.gov.ua 08.06.2024.

[10] Rheinmetall und Ukraine starten Panzer-Reparaturbetrieb. tagesschau.de 11.06.2024.

[11] Gabriel: „Müssen Russland niederringen“. n-tv.de 12.06.2024.

 

 

 

 

 

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