Nachhaltige Rentenmärchen

Von Suitbert Cechura

Bei all den Wenden, Auf- und Umbrüchen gibt es im Sozialwesen Narrative, die eine erstaunliche Haltbarkeit zeigen. Hier das Beispiel Rentenversicherung.

Die gesetzliche Rentenversicherung ist ein Dauerthema in der deutschen Öffentlichkeit, zu dem sich ständig Wissenschaftler, Journalisten und Politiker äußern – allerdings selten sachlich. So wusste die Tagesschau im Mai als Neuigkeit zu vermelden: „Eine Reform der gesetzlichen Rente gilt als überfällig.“ Woher diese unabweisbare Gültigkeit kommt, bleibt etwas im Nebel, stattdessen wird die Reform als ein Sachzwang behandelt, der sich aus der Lage der Rentenversicherung selber ergeben soll. Marode Unternehmen muss man eben sanieren.

Dabei ist die gesetzliche Rentenversicherung alles andere als ein normales Versicherungsunternehmen, denn ob man sie abschließen will oder nicht, ist den meisten Bürgern gar nicht selbst überlassen. Als abhängig Beschäftigte unterliegen sie schlicht der Versicherungspflicht; sie sind wegen der Art ihres Einkommens gesetzlich gezwungen, einen Teil ihres Einkommens für die Altersvorsorge aufzuwenden. Der Gesetzgeber traut ihnen – so klassenbewusst ist der über allen Klassen stehende bürgerliche Staat – wegen der Besonderheit ihrer Einkommensquelle Lohnarbeit nicht zu, dass sie selber für ihr Alter vorsorgen (können), und enteignet einen Teil des Lohnes oder Gehalts gleich an der Quelle.

Da Lohnarbeit abhängig ist von Arbeitgebern, die die Beschäftigung wiederum davon abhängig machen, dass sich die Anwendung von Arbeitskräften für sie lohnt, ist das betreffende Einkommen zum einen unsicher und zum anderen offenbar so gering, dass es für die Altersvorsorge und für den Lebensunterhalt nicht reicht. Die Gesamtheit der Arbeitnehmer soll daher mit ihren Lohnkosten diesen Mangel beseitigen, wobei die Arbeitgeber formal an diesen Kosten beteiligt werden. In ihrer Kostenrechnung erscheint dieser Betrag als Bestandteil der Personalkosten, die aufzubringen sind, damit ein lohnendes Geschäft in Gang gesetzt werden kann.

In der Sache regiert hier also ein politischer Wille, der darüber befindet, wie im Einzelnen eine Klasse zur Kasse gebeten werden soll. Dem haben sich die angeblichen Sachzwänge unterzuordnen. Die Rentenversicherung als Zwangsversicherung blamiert damit auch ein Märchen, das von Politikern wie Journalisten immer wieder aufs Neue aufgetischt wird. Es nennt sich:

Der Generationenvertrag

Die Bundeszentrale für politische Bildung zitiert zu diesem Thema das Lexikon der Wirtschaft: „Generationenvertrag – Bezeichnung für das wissenschaftliche Erklärungsmodell der sozialen Rentenversicherung. Mit Generationenvertrag wird der unausgesprochene `Vertrag` zwischen der beitragszahlenden und der Renten empfangenden Generation bezeichnet. Diese `Solidarität zwischen den Generationen` beinhaltet die Verpflichtung der arbeitenden Generation zur Beitragszahlung in der Erwartung, dass die ihr nachfolgende Generation die gleiche Verpflichtung übernimmt.“  Es muss sich schon um eine seltsame Wissenschaft handeln, die sich ein Modell über einen Vertrag ausdenkt, den sie selbst in Anführungszeichen setzt, und somit bekundet, dass er gar nicht existiert!

Es ist zudem eine merkwürdige Form der Solidarität, die nicht auf der Freiwilligkeit derer beruht, die sich für einen gemeinsamen Zweck zusammengeschlossen haben, die vielmehr in einer Verpflichtung besteht, die den Beteiligten auferlegt wird. Mit dem Solidaritäts-Märchen wird eine gesetzliche Regelung schöngefärbt, bei der die Betroffenen gar nichts zu bestimmen haben. Schließlich handelt es sich bei der gesetzlichen Rentenversicherung um eine staatliche Einrichtung, auch wenn sie formal als Körperschaft öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung einen „unabhängigen“ Status haben soll. Sie ist ein ausführendes Organ der staatlichen Rentengesetzgebung, die bestimmt, was wer in die Versicherung einzuzahlen hat und wer unter welchen Bedingungen Auszahlungen erhält. Damit kann eigentlich von einer Selbstverwaltung keine Rede sein, auch wenn durch „Sozialwahlen“ die Besetzung der Aufsichtsgremien bestimmt wird. Einen eigenen Gestaltungspielraum haben diese nicht.

Warum und wie es zu dem angeblichen Generationenvertrag kam – dass also die aktuellen Renten aus den Beiträgen der arbeitenden Generation finanziert werden –, bleibt dabei im Nebulösen. Warum stammen die Leistungen nicht aus den Beträgen, die laut penibler Abrechnung vom Einzelnen für sein Alter in der Kasse deponiert wurden? Schließlich haben die Rentenempfänger auch, bevor die Einführung des Umlageverfahrens 1957 verabschiedet wurde, Geld in die Rentenversicherung einbezahlt, das für ihre individuelle Versorgung im Alter vorgesehen war. Die Antwort darauf kommt in der Vertragserzählung nicht vor: Diese Gelder waren nach dem verlorenen Krieg – zu dessen Finanzierung auch die Einlagen der Rentenversicherung genutzt wurden – weitgehend verloren.

Zudem war die Arbeitslosigkeit hoch und viele Witwen und Waisen hatten Rentenansprüche, die nicht zum Leben reichten; die Betroffenen fielen damit den Sozialkassen zur Last. Von dieser Last hat sich der Staat durch die Rentenreform und durch die Einführung des Umlageverfahrens befreit. Was als Generationenvertrag schöngeredet wird, ist also nichts anderes als die absolute Verfügungsmacht der Politik über Einkommensanteile von Arbeitnehmern und über deren Altersversorgung.

Dass nun die bisher getroffene gesetzliche Regelung dringendst reformiert werden muss, soll ein weiteres Märchen dem Publikum klarmachen. Es trägt die Überschrift:

Der demographische Wandel

Durch das staatliche Umlageverfahren bei der Rente ist die ideologische Grundlage geschaffen, stets das Verhältnis von Jungen und Alten zu bemühen, wenn die Politik öffentlichkeitswirksame Erklärungen für die Notwendigkeit einer Rentenreform braucht: „Finanzierungslast durch demographische Entwicklung: Der demographische Wandel führt zu einem steigenden Altenquotienten, d.h. der Anteil der Rentenempfänger im Verhältnis zur arbeitenden Bevölkerung nimmt zu. Im Jahr 2023 betrug der Altenquotient 37 % und es wird erwartet, dass er in den kommenden Jahren auf 50 % ansteigt. Dies erhöht den Druck auf das umlagefinanzierte System, da immer weniger Beitragszahler für die zunehmende Zahl an Rentenempfänger aufkommen müssen.“

Zwar müssen die Jüngeren in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis für die Renten der früheren Beschäftigten aufkommen, doch hängt damit diese Finanzierung nicht von der Zahl der Jungen im Verhältnis zu den Älteren ab. Es kommt ja auf die Zahl der Beitragszahler an. Doch wie viele der Jungen in Arbeit sind oder nicht, darüber entscheiden Unternehmen und der Gang ihres Geschäftes. So gab es Jahre der Jugendarbeitslosigkeit, in denen Schüler nach der Schule oder Universität vergeblich eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle suchten. Momentan werden trotz zurückgehender Geburten Rekordzahlen bei den Beschäftigungsverhältnissen vermeldet, weil viele Zuwanderer zusätzlich für die Vermehrung des Reichtums im Lande sorgen.

Gleichzeitig werden gerade von Großunternehmen wie VW, Thyssenkrupp, Siemens etc. Zehntausende über Abfindungsprogramme entlassen. Diese richten sich vorzugsweise an ältere Arbeitnehmer, die durch Geldzahlungen dazu bewegt werden sollen, zu kündigen und vorzeitig in Rente zu gehen. Die Prämien, die sie erhalten, wenn‘s gut geht, erscheinen als sehr hoch, müssen aber zeitweise Lohn- oder Gehaltsausfälle sowie dauerhaft geringere Renten ausgleichen. Auch wenn die Prämien das nicht wirklich leisten, erscheint es vielen Arbeitnehmern dennoch verlockend, früher als vorgesehen den Belastungen des Arbeitslebens zu entkommen. Obgleich viele Verbandsvertreter von Arbeitgeberseite ein höheres Rentenalter fordern, sind also die Betriebe gerade dabei, sich über die Rentenkasse von Lohnkosten zu entledigen. So bestimmt die Geschäftspolitik der Unternehmen und nicht das Alter den Quotienten von Beschäftigten und Rentnern.

Was bei dieser Berechnungsweise ebenfalls unter den Tisch fällt, ist die Tatsache, dass es keinen Automatismus gibt zwischen dem, was die Beschäftigten einzahlen, und dem, was sie erhalten. In früheren Zeiten konnten von dem aus einem Arbeitsverhältnis erworbenen Rentenanspruch beide Ehepartner leben. Durch die Senkung der Löhne und die Kürzung der Rentenansprüche ist es heutzutage unmöglich, von einem Gehalt eine Familie zu ernähren – ganz gleich, wer arbeitet oder ob beide Partner in Teilzeit gehen. Die Rente reicht kaum für eine Person und die Witwenrente wurde so gekürzt, dass viele Frauen in Altersarmut landen. So existiert heute der Zwang für Frauen zur Lohnarbeit, um selber einen Rentenanspruch zu erwerben. Ein Zustand, den vor allem die Grünen vorantreiben. Familienleben wird damit zum Luxus, den sich immer weniger „abhängig Beschäftigte“ leisten können, weil die Alternative, dass beide durch Teilzeitarbeit den Unterhalt bestreiten können, nur für die oberen Gehaltsklassen existiert.

Damit ist es allgemeiner Zustand, dass mehr Menschen in die Versicherung einzahlen und weniger herausbekommen – so gibt es die Dauerklage: „In Deutschland reicht die Rente immer mehr Senioren nicht zum Leben“, die etwa in der letzten Legislaturperiode, wie Overton berichtete, für tolle Reformideen sorgte. Dennoch gelten die Rentner als eine einzige Last, vor allem für den Staatshaushalt.

„Sozialversicherungen sprengen die Leistungsfähigkeit des Staates“

Das schreibt die Süddeutsche (SZ, 21.7.25) zur aktuellen Notlage. Das „Soziale“ ist mit ca. 180 Milliarden Euro der größte Posten im Haushalt 2025 und wird erst jetzt von dem ins Auge gefassten unbegrenzten Rüstungsetat übertroffen. Bei den Sozialkosten ist der größte Anteil der Bundeszuschuss von über 90 Milliarden Euro an die Rentenversicherung. Während die unbegrenzten Schulden für die Rüstung in den Leitmedien positiv beurteilt werden, gelten die Ausgaben fürs Soziale als eine einzige Last, die den Staat angeblich überfordern; dabei übertreiben auch „seriöse“ Zeitungen wie die SZ gern die betreffenden Beträge.

So soll offenbar die Dringlichkeit der Reform unterstrichen werden. In Wirklichkeit macht der Umfang der sozialen Maßnahmen im Bundeshaushalt deutlich, wie groß die Armut im Lande ist – und dass ein erheblicher Teil der Bürger und Bürgerinnen ohne staatliche Unterstützung seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Aber nicht die Opfer der kapitalistischen Wirtschaftsweise werden wegen der Überforderung, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, bedauert; vielmehr gilt der Staat, der diese Armut mit herbeiregiert, als das eigentliche Opfer.

Die betreffenden Ausgaben des Staates gelten als eine einzige Wohltat für seine Bürger, wobei in den meisten Meldungen nicht auftaucht, wieso der Staat sie tätigt. Der enorme Betrag, der als Zuschuss zur Rentenversicherung geleistet wird, ist ein Resultat der deutschen Einheit, der Eingliederung der DDR in die BRD. Mit dem Anschluss der DDR hat Deutschland nicht nur mehr Bürger bekommen, sondern auch viele Rentner, deren Rentenansprüche auf die deutsche Rentenversicherung übertragen wurden, obwohl für sie keine Beiträge eingegangen waren. Ein Ausgleich sollte durch den Bundeshaushalt erfolgen. Nur bemisst sich der Zuschuss, der geleistet wird, nicht an den entsprechenden Ausgaben, sondern an der Haushaltslage. So nutzt der Staat seine Verfügungsgewalt über die Sozialkassen dafür, einen immer größeren Anteil der sozialen Kosten auf die Sozialversicherungen abzuwälzen; deren Zahlungsfähigkeit ist daher ständig bedroht und wird immer wieder als Argument dafür genommen, Beiträge zu erhöhen und Leistungen zu streichen.

Ein aktuelles Beispiel ist die Mütterrente, wo Leistungen für die Kindererziehung durch die Rentenversicherung abgegolten werden sollen. Den Müttern ist das zu gönnen, doch was von dem Versprechen des Ausgleichs durch den Bundeshaushalt zu halten ist, dürfte inzwischen reichlich bekannt sein. Im Politikerdeutsch gelten die Sozialversicherungen als Verschiebebahnhöfe. Verschoben werden die sozialen Kosten von den staatlichen Haushalten hin zu den abhängig beschäftigten Bürgern. So dürfen sie zum Beispiel auch die Kosten für die Aufnahme von Ukraine-Flüchtlingen in die Bürgerversicherung durch ihre Krankenversicherung mit bezahlen. Denn die Bürgergeldbezieher sind gesetzlich krankenversichert, die Beiträge aus den Staatskassen stehen aber in keinem Verhältnis zu den anfallenden Kosten. So leisten die Beitragszahler jetzt schon ihren Kriegsbeitrag und müssen gar nicht warten, bis mit der Devise „Kanonen statt Butter“ ernst gemacht wird.

Beunruhigende Märchen

Kindermärchen dienen zur Unterhaltung der Kleinen oder zu deren Beruhigung vorm Einschlafen. Die politischen Märchen versuchen jedoch, die Bürger gegeneinander in Stellung zu bringen: die Jungen gegen die Alten, Steuerzahler gegen Rentner, Fleißige gegen Drückeberger. Dabei sind diese Märchen Begleitmusik zur laufenden Verarmung derer, die von Lohn oder Gehalt leben müssen – und das nicht erst, wenn sie in Rente gehen. Schließlich stehen mit jeder Rentenreform nicht bloß ihre Lebensbedingungen im Alter zur Debatte, sondern auch immer der Anteil des Lohns, der gleich an der Quelle verstaatlicht wird, und damit das, was ihnen zum Leben bleibt.

Neben der Inflation, den steigenden Steuern und Mieten findet daher eine laufende Entwertung der Einkommen durch die Sozialabgaben statt. Gleichzeitig erhalten die Lohn- und Gehaltsempfänger für diese Sozialbeiträge immer weniger Leistungen und sollen von ihren schwindenden Einkommen immer mehr selber an Vorsorge für die Widrigkeiten des Lohnarbeitsverhältnisses tragen. Der Sozialstaat hat ja schon lange sein Versprechen aufgekündigt, dass die gesetzliche Rente im Alter zum Leben reicht, und mit der Einführung der Riesterrente die Bürger explizit verpflichtet, selber vorzusorgen. Er steht immer weniger für die Existenzbedingungen seiner Bürger ein, wie die niedrigen Renten und Grundsicherungsbeträge zeigen, die immer mehr Bürger auf die private Wohlfahrt von Tafeln und Kleiderkammern verweisen.

All das muss angeblich sein, weil es keine Alternativen gibt. Das behaupten jedenfalls die Narrative der Politiker, die sich gerade bei der Aufrüstung und deren Finanzierung alle Freiheiten erlauben – so dass sogar regierungstreue Figuren wie die SPD-Dissidenten  langsam bei der Rüstung Bedenken bekommen –, während sie bei den Kosten fürs Soziale ständig die Grenzen des Machbaren betonen und diese kürzen.

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Der Autor: 

Suitbert Cechura ist Hochschullehrer für Sozialmedizin im Ruhestand. Buchveröffentlichungen u.a.: „Kognitive Hirnforschung – Mythos einer naturwissenschaftlichen Theorie menschlichen Verhaltens“ (2008), „Inklusion – das Recht auf Teilhabe an der Konkurrenz“ (2015), „Unsere Gesellschaft macht krank – Die Leiden der Zivilisation und das Geschäft mit der Gesundheit“ (2018)

 

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien auf https://overton-magazin.de und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors hier gespiegelt.
Bild: Seniorenaufstand