Psychische Erkrankungen im Arbeitslosengeld-II-bezug

Von Inge Hannemann

Laut dem Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) hat mehr als jede*r dritte Erwerbslose von Hartz IV psychische Probleme. In der Arbeitswelt sind es 16 Prozent, hieß es in einer Telefonfortbildung der „Landesvereinigung für Gesundheitsförderung MV e.V.“ Ende April dieses Jahres. Die Fortbildung baute auf das Projekt „Psychisch Kranke im SGB II – Situation und Betreuung“ durch das IAB aus dem Jahr 2017 auf. Die Studie geht der Frage nach, wie Leistungsberechtigte in den Jobcentern mit einer psychiatrischen Diagnose ihre Erkrankung erleben, welche Auswirkung ihre Erwerbslosigkeit für sie hat und welche Unterstützung sie von den Jobcentern erhalten.

Zahlen von psychischen Erkrankungen bleiben veraltet

Derzeit läuft viral auf Twitter die Kampagne #IchBinArmutsbetroffen. Initiiert durch eine alleinerziehende Mutter, die darauf aufmerksam machte, dass Hartz IV einfach nicht zum Leben reicht, berichten inzwischen immer mehr Menschen von ihrem Leben in Armut. Auffällig dabei ist, dass sehr viele von ihren psychischen Erkrankungen im SGB-II-Leistungsbezug berichten. Sie erzählen aber nicht nur von ihrer Erkrankung, sondern auch von ihren positiven und negativen Erfahrungen durch die Jobcenter. Geht man auf die digitale Suche nach belastbaren Zahlen, wie viele Menschen im SGB-II-Bezug aktuell an psychischen Erkrankungen erkrankt sind, findet man keine aktuellen Zahlen. Das erwähnt der Vortrag auch und bleibt so bei den Zahlen der AOK und Betriebskrankenkassen aus dem Jahr 2009 hängen. Statistisch erfasst werden nur Meldungen mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Krankmeldung). So waren depressive Episoden mit einem Siebtel die häufigste Einzeldiagnose unter den psychischen Erkrankungen. 20 bis 30 Prozent leiden unter neurotische, Belastungs- oder somatoforme Störungen, die sich nicht oder nicht hinreichend auf eine organische Erkrankung zurückführen lassen.

Erwerbstätigkeit hat in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Sie definiert unseren sozialen Status und unsere Identität. Kommt es nun zu einer Erwerbslosigkeit, kann es zu einem Kontrollverlust des eigenen Lebens mit einer eingeschränkten Teilhabe kommen. Immer wieder wird kontrovers diskutiert, ob Erwerbslosigkeit kausal zu psychischen Erkrankungen führen kann oder umgekehrt psychische Erkrankung zur Erwerbslosigkeit. Für Beides gibt es inzwischen Belege.

Wie gehen Jobcenter mit psychischen Erkrankungen um?

Nun stellt sich aber die Frage: Wie gehen die Jobcenter damit um? In den Jobcentern sitzen in der Regel als Integrationsfachkräfte und keine ausgebildeten Psycholog*innen. Und wenn doch, so ist es nicht ihre primäre Aufgabe, ihren studierten Beruf entsprechend ihrer Funktion auszuüben. Dafür gibt es den psychologischen und ärztlichen Dienst innerhalb der Jobcenter bzw. der Agentur für Arbeit. Als proaktiv wurde durch die Leistungsberechtigten das Eingehen auf Gesundheitsfragen im Profiling und das empathische Ansprechen der Erkrankung empfunden. Unterstützend dabei ist eine vertrauensvolle und offene Atmosphäre. Zwangselemente wie Sanktionen oder fehlende Krankheitseinsicht auf Seiten der Integrationsfachkräfte führen teilweise zu gravierenden Konsequenzen: Hartz-IV-Regelsatz wird gekürzt, Termine werden nicht mehr wahrgenommen oder die eigene Erkrankung verschlechterte sich.

Statt Entmutigung wünschen sich Erwerbslose Ermutigung, Gespräche ohne Druck, Förderung statt ständiger (Über)-Forderung. Auf der anderen Schreibtischseite sitzen nun die Integrationsfachkräfte, die beklagen, dass es kaum Maßnahmen für psychisch Erkrankte gibt. Stattdessen müssen andere Maßnahmen gefüllt werden. Auch gebe es keinen ganzheitlichen Ansatz in der psychosozialen Versorgung. Der Vortrag, als auch die Studie selbst machen deutlich, dass die Leistungsberechtigten trotz ihrer psychischen Erkrankung daran interessiert und vor allem motiviert sind, wieder zurück in das Erwerbsleben zu kommen. Und noch viel wichtiger: Auch in der Lage dazu sind. Die Studie hat recht, wenn sie darauf hinweist, dass die Jobcentermitarbeiter:innen mit dem Erkennen einer psychischen Erkrankung überfordert sind und sie haben recht, dass der ärztliche Dienst in den Agenturen für Arbeit sich bessere fachliche Kompetenzen in Bezug auf psychische Erkrankungen aneignen muss.

Nicht sichtbar und doch vorhanden

Die Tweets unter #IchBinArmutsbetroffen spiegeln ein Bild wider, welches mir bekannt ist: Hilflosigkeit gegenüber den Jobcentern, weil ihre Erkrankung belächelt oder nicht anerkannt wird. So schreibt @livingwithbpd1 auf Twitter, dass ihm empfohlen wurde, in einer Werkstatt für Behinderte zu arbeiten, wenn du krank bist. Von einer anderen Erfahrung schreibt @Sothias, wenn berichtet wird, dass ein Nachbar jahrelang für eine Umschulung vom Jobcenter ignoriert wurde und aufgrund dessen, dass er für den praktischen Teil keinen Praktikumsplatz fand zu hören bekam: „War klar das Sie das nicht packen“. Eine Erkrankung, die nicht sichtbar ist, scheint es nicht zu geben. Dass aber genau dieses Wirken, diese Worte durch ein Jobcenter weitere Ängste hervorrufen können, wird scheinbar in diesem Moment nicht bedacht. Der Kreislauf beginnt, sich zu drehen. Für die Leistungsberechtigten oftmals dann eben mit bekannten fatalen Folgen. Es kann nur funktionieren, wenn die Reintegration in Arbeit mit Zeit für Leistungsberechtigte und deren individuellen Bedürfnisse, Coaching und berufliche Rehabilitation miteinander verzahnt werden. Sanktionen sind natürlich, wie allgemein, immer kontraproduktiv. Sie verursachen Existenzängste.

Link Studie IAB 2017: https://doku.iab.de/forschungsbericht/2017/fb1417.pdf

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien auf https://www.links-bewegt.de/.

Bildbearbeitung: L.N.