„Die Zukunft der Deutschen Edelstahlwerke ist gesichert“, vermeldete die Westdeutsche Allgemeine Zeitung am 30. Januar, schränkte das Urteil aber mit dem Beisatz „zumindest für die kommenden zwei Jahre“ ein. Das Blatt führte weiter aus: „Die Arbeitnehmer verzichten zur Rettung des kriselnden Unternehmens auf Urlaubs- und die Hälfte des Weihnachtsgeldes. Im Rahmen eines Sozialplans können aber bis 2024 bis zu 400 Stellen abgebaut werden.“
Die IG Metall zeigt sich zufrieden: „Wenn es schon einen Arbeitnehmerbeitrag geben muss, sollte für die Beschäftigten auch etwas Positives, nämlich sichere Arbeitsplätze, dabei herauskommen“, meinte Holger Lorik aus dem IG-Metall-Vorstand gegenüber der Zeitung.
Eine seltsame Logik, in der der Abbau von Arbeitsplätzen als Arbeitsplatzsicherung verkauft wird. So können doch bis zu zehn Prozent der Arbeitsplätze gestrichen werden. Und nach zwei Jahren hat der Betrieb freie Hand für weitere Maßnahmen, schließlich gilt die Einschränkung nur bis Ende 2022. Was ist da los?
Eine ganz normale Kalkulation
Die Eigentümerin der Deutschen Edelstahlwerke (DEW), die Swiss Steel Group mit Fabriken in Witten, Krefeld, Siegen, Hagen und Hattingen, hatte der Belegschaft mitgeteilt, dass sie Werke schließen würde, wenn die Mitarbeiter nicht zu Einschränkungen beim Gehalt bereit seien.
Sie hat offenbar die Freiheit, Millionenbeträge, die in den Anlagen der Werke stecken, abzuschreiben und ihr Vermögen anderweitig zu vergrößern. Die sogenannten Industriedenkmäler im Revier sprechen davon Bände.
Für die Belegschaften sieht die Angelegenheit ganz anders aus. Sie sind darauf angewiesen, sich als Arbeitskraft zu verdingen. Sie verfügen über nichts anderes als sich selbst, und alle Dinge des täglichen Lebens kosten in dieser Gesellschaft Geld, weil alles Eigentum ist. Sie sind also arm, auch wenn das in dieser Gesellschaft niemand so sehen will, und daher gezwungen, sich als Arbeitskraft zu verkaufen.
Diese Notlage können Betriebe ausnutzen und die Bedingungen des Geldverdienens diktieren. Die Mitteilung der Deutschen Edelstahlwerke kommt damit einer Erpressung gleich, doch sie gilt als das Normalste der Welt. Schließlich engagieren sich Investoren – Kapitalisten gilt ja als Schimpfwort – nur, wenn die Investition Geld abwirft, sich also lohnt.
Um die Edelstahlwerke wieder in die Gewinnzone zu bringen, soll der Betrieb umorganisiert werden, das nennt sich dann Rekonstruierung. Rekonstruiert werden soll der Gewinn des Unternehmens, dazu hat es einen Tarifvertrag mit der IG Metall abgeschlossen.
Das hört sich technisch an – und es kommt auch Technik zum Einsatz –, aber das Ziel lautet, den Stahl mit weniger Kosten herzustellen, um so sich auf dem Markt behaupten zu können.
Dafür muss eine Menge Geld her, das sich der DEW-Eigentümer Swiss Steel Group auf dem Finanzmarkt leiht. Geld, das natürlich ein Anrecht auf Verzinsung hat, sonst würde es nicht verliehen: „Unter anderem gibt der Gruppe ein Darlehen über 130 Millionen Euro von September 2020 mehr finanziellem Spielraum. Es stammt von der Bigpoint Holding des Ankeraktionärs Martin Haefner.
Im Januar schüttete die Swiss Steel Group außerdem neue Aktien zur Kapitalerhöhung aus. Geplanter Bruttoerlös: 200 Millionen Euro“ Damit sind zunächst einmal erhebliche Gewinnansprüche in der Welt, zum einen als Zins für das Darlehen und zum anderen als Dividende für die Aktien, die durch die Produktion und den Verkauf von Edelstahl befriedigt sein wollen. Wie das zu bewerkstelligen ist, ist auch kein Geheimnis: Gespart werden muss an den Lohnkosten. „Insgesamt sollen so von Arbeitnehmerseite 39 Millionen Euro eingespart werden“, heißt es.
Personalabbau und Lohnsenkungen sind da die Methode. Weniger Lohnkosten heißt aber nicht, es soll weniger hergestellt werden. Technische Veränderungen sollen vielmehr bewirken, dass mit weniger Lohnkosten gleich viel oder gar mehr Stahl gekocht wird. Entscheidend ist, wie hoch der Anteil der Lohnkosten an jeder Tonne Stahl ist. Je geringer diese Kosten sind, umso größer ist der Spielraum für das Unternehmen, den eigenen Gewinn zu vergrößern und durch niedrige Preise die Konkurrenten vom Markt zu verdrängen.
Diese Leistung wird in der Regel der Technik zugeschrieben, die vermehrt zum Einsatz kommt. Die Kalkulation des Betriebs offenbart aber, dass die Kosten für Maschinen und Material auf die damit angestrebte Menge an Produkten anteilig übertragen wird, wie auch sonst. Mehr Gewinn kommt so nicht zustande.
Anders bei den Kosten für die Arbeit. Ein Arbeiter kann mehr produzieren als er kostet, er ist damit die Quelle des Gewinns. Je geringer seine Kosten und je höher seine Leistung, desto besser ist dies für die Bilanz des Unternehmens.
Ein seltsamer Deal in der Stahlbranche
Vorstellig gemacht wird das Abkommen zwischen Gewerkschaft und Unternehmen als ein Vertrag des beiderseitigen Gebens und Nehmens. Die Arbeitnehmer verzichten auf Lohnbestandteile und erhalten dafür die Sicherung des Arbeitsplatzes. Dass der nicht sicher ist und wird, ist nicht zu übersehen. Schließlich verlieren etwa 400 Menschen ihr Einkommen. Und zwei Jahre arbeiten zu dürfen, ist auch alles andere als eine sichere Beschäftigung. Ein solcher Zeitvertrag gilt sonst eher als ein prekäres Arbeitsverhältnis. Denn das Ende ist abzusehen, dann steht man wieder vor dem Nichts.
Gestrichen werden Lohnbestandteile oder sogenannte Sonderzahlungen. In der WAZ heißt es:
Demnach werden die Mitarbeiter in den kommenden beiden Jahren nur die Hälfte ihres Weihnachtsgeldes ausbezahlt bekommen. Die Stahlwerker hatten schon 2020 nach emotionalen Debatten auf 40 Prozent der Sonderzahlung verzichtet. Auch das Urlaubsgeld in Höhe von 1000 Euro, das es erst seit dem letzten Jahr gibt, wird in diesem und nächsten Jahr gestrichen. „Weitere finanzielle Einschnitte gibt es aber nicht“, betont IG-Metall-Vorstand Holger Lorek.“
WAZ, 30.01.2021
Die Äußerung des Gewerkschaftsfunktionärs legt nahe, dass die Opfer der Belegschaft nicht groß sind, wird doch ihr monatlicher Lohn nicht angetastet und werden „nur“ die Sonderzahlungen gekürzt. Dabei haben die Beschäftigten doch mit den Sonderzahlungen bisher gerechnet, ihren Lebensunterhalt aufgebessert. Jetzt fallen sie weg, also müssen die Beschäftigten den Gürtel noch enger schnallen – damit auf der anderen Seite die Taschen der Unternehmer und ihrer Finanziers wieder ordentlich gefüllt werden können.
Eine gewerkschaftliche Höchstleistung
Die Belegschaft hat sich bei diesem Vertrag vertreten lassen von einer der größten und mitgliederstärksten Gewerkschaft der Welt. Einem Zusammenschluss, der einmal dafür angetreten ist, der Macht des Kapitals den Zusammenschluss der Arbeiter entgegenzusetzen, um diesen die Lebensbedingungen zu sichern.
Die Arbeitsverweigerung, der Streik, ist das Kampfmittel, das die Kalkulation der Unternehmen schädigt und sie nötigt, auf die Belange ihrer Belegschaft Rücksicht zu nehmen. Die Arbeiter bleiben aber abhängig vom Gelingen des Unternehmens – und aus diesem Grunde haben DGB-Gewerkschaften den fatalen Schluss gezogen, sich auch um den Erfolg der Unternehmen, in deren der Lebensunterhalt der Beschäftigten als Kostenstelle erscheint, zu kümmern. Sie wollen in den Betrieben mitbestimmen als Betriebsrat oder Aufsichtsrat und treten daher zunehmend als Co-Manager auf, die mit Alternativvorschlägen für den Erfolg des Unternehmens aufwarten.
Aus dieser Perspektive teilen sie denn auch die Notwendigkeit der Personalkostensenkung. Gewerkschafter fordern außerdem ganz folgerichtig von den Betrieben Zukunftsinvestitionen: Damit die Firma weiter erfolgreich Geschäfte machen und so Arbeitsplätze anbieten kann. Dem Inhalt nach sind solche Investitionen zwar Rationalisierungsinvestitionen, die darauf zielen, mit weniger Personal mehr herstellen und flexibel auf Marktanforderungen reagieren zu können. Aber wenn damit wenigstens der Betrieb überlebt und ein paar Arbeitsplätze übrig bleiben.
Für eine Gewerkschaft wie die IG Metall ist der Abbau von Stellen auch etwas anderes als Entlassungen. Schließlich muss der Betrieb, um dieses Ziel zu erreichen, nicht unbedingt Kündigungen aussprechen. Da sind zum einen die Leiharbeiter, die bei solchen Zahlen von Stellenabbau gar nicht erscheinen, weil sie zwar im Betrieb arbeiten, aber nicht zur Belegschaft gehören, sind sie doch formal bei einem anderen Arbeitgeber beschäftigt und werden von diesem entlohnt.
Wenn diese nicht mehr von den Edelstahlwerken beschäftigt werden, sind sie noch bei der Verleihfirma angestellt und werden entlassen, wenn es für sie keine Vermittlung mehr gibt. Das zählt nicht zum Stellenabbau von DEW.
Eine andere Möglichkeit bietet die sogenannte natürliche Fluktuation, an der nichts natürlich ist. Gemeint ist damit, dass immer eine Reihe von Arbeitnehmern ausscheiden und diese Plätze neu besetzt werden oder auch nicht. Manche scheiden aus Altersgründen aus, wie es heißt, dabei ist nicht das Alter entscheidend, sondern die staatliche Rentenregelung.
Viele erreichen dieses Alter erst gar nicht und müssen aus gesundheitlichen Gründen aufhören. Wer länger als sechs Wochen krank ist, fällt aus der betrieblichen Lohnzahlung heraus und erhält Krankengeld. Ist nicht abzusehen, ob er jemals wieder den Anforderungen seines Arbeitsplatzes gerecht werden kann, muss der Arbeitgeber ihn nicht weiter beschäftigen.
Kündigungen aus persönlichen Gründen fallen dann an, wenn Arbeitnehmer gegen das Diktat der Arbeitsordnung verstoßen, sei es, dass sie unpünktlich sind, sich mit Kollegen oder Vorgesetzten anlegen oder betrunken zum Dienst erscheinen. Arbeitnehmer haben sich eben selbst eine Disziplin aufzuerlegen und ihre Pflichten aus dem Arbeitsvertrag zu erfüllen, auch wenn sie keine Lust haben oder sich nicht gut fühlen.
So verfügt das Unternehmen über eine Vielzahl von Instrumenten, seine Belegschaft durch nicht Wiederbesetzung von Arbeitsplätzen auszudünnen und der Restbelegschaft ein Mehr an Leistung abzuverlangen.
Auch Entlassungen über Sozialplan gelten nicht als solche, finden sie doch unter Beteiligung der Gewerkschaft bzw. des Betriebsrates statt. In der Öffentlichkeit werden dazu gelegentlich auch enorme Beträge gehandelt, die als Abfindungen den Schaden durch die Entlassung abmildern sollen.
Bevorzugt stehen ältere Arbeitnehmer für solche Maßnahmen auf dem Plan, die vorzeitig über Arbeitslosengeld und Frühverrentung in den Ruhestand geschickt werden sollen.
Die Abfindung soll dabei die anfallenden Kürzungen des Einkommens ausgleichen. Schließlich liegt das Arbeitslosengeld bei 60 Prozent des früheren Einkommens und die Rente noch unter der Hälfte des bisherigen Lohns.
Das bedeutet sehr schnell eine Einbuße von 1.000 Euro oder mehr im Monat, bei Stahlarbeitern wahrscheinlich noch mehr. Um das aufzufangen, braucht es dann sehr schnell 12.000 Euro oder mehr im Jahr, weswegen eine Abfindung für die Frühverrentung dann schnell gegen 100.000 Euro gehen kann.
Ein vollständiger Ausgleich wird damit indes nicht angestrebt, sondern der Schaden lediglich gemildert. Immerhin, so der Trost, ist es für die so Freigesetzten eine Wohltat, nicht mehr arbeiten zu müssen. Und das ist in der Tat etwas, was für manchen dieses Angebot reizvoll erscheinen lässt.
Das sagt einiges über den Charakter der Arbeit aus, dass man ihr offenbar gerne entfliehen will. Der finanzielle Schaden bleibt aber bis zum Lebensende, denn wer weniger Jahre in die Rente einzahlt, bekommt weniger. Und dazu kommen die Abschläge für den früheren Renteneintritt. Eine wahrlich soziale Regelung.
Ein Abschied vom Flächentarif in der Stahlbranche
Schon zu Beginn der Tarifrunde hat die IG Metall verkündet, dass ihr Schwerpunkt in diesem Jahr auf der Arbeitsplatzsicherung liegen würde. Dazu strebt die Gewerkschaft betriebliche Regelungen an. Damit gibt sie ein gewerkschaftliches Prinzip auf. Haben sich doch in der IG Metall die Arbeitnehmer einer Branche zusammengeschlossen, damit die Konkurrenz der Unternehmen nicht einseitig auf ihrem Rücken ausgetragen wird.
Mit Flächentarifverträgen wurden einheitliche Konkurrenzbedingungen für die Unternehmen in Sachen Lohn geschaffen. Was diese dann für diesen Lohn aus ihrer Belegschaft an Leistung herausgeholt haben, stand auf einem anderen Blatt.
Eine sichere Kalkulationsgrundlage war auch im Interesse der Arbeitgeber, weswegen sie lange Zeit an Flächentarifverträgen festgehalten haben. Nachdem viele Unternehmen aus dem Arbeitgeberverband und damit aus dem Flächentarif ausgestiegen sind, zieht jetzt die Gewerkschaft nach.
Mit ihren betrieblichen Vereinbarungen kündigt die Gewerkschaft dieses Prinzip auf und macht die Lohnhöhe in den einzelnen Betrieben wieder zum Kampfmittel der Unternehmen in ihrer Konkurrenz, weswegen Senkung der Personalkosten überall auf der Tagesordnung stehen.
Thyssenkrupp hat schon vor einiger Zeit 11.000 Entlassungen angekündigt. Und auch Siemens Energy dünnt seine Belegschaft aus.
Ein Vorstandsmitglied der IG-Metall vermeldet stolz, dass dies ohne betriebsbedingte Kündigungen abgewickelt wird. So geht Arbeitsplatzsicherung 2021: Die IG Metall leistet ihren Beitrag zur Überwindung der Krise und zum Erfolg deutscher Unternehmen – auf Kosten ihrer Mitglieder.
Prof. Dr. Suitbert Cechura ist Bochumer Hochschullehrer und Sachbuchautor
Der Beitrag erschien am 04.02.2021 auf https://www.heise.de/ Telepolis Bild: IG Metall