Anfang März 2021 hatte die Tarifkommission der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) ihre Tarifforderungen für den nordrhein-westfälischen Einzel-, Groß- und Versandhandel beschlossen. Gefordert wird eine Erhöhung der Löhne, Gehälter und Ausbildungsvergütungen um 4,5 Prozent plus 45 Euro im Monat. Die Laufzeit des Tarifvertrages soll 12 Monate betragen. Darüber hinaus fordert die Gewerkschaft ein rentenfestes Mindestentgelt von 12,50 Euro pro Stunde für die rund 513.000 sozialversicherungspflichtig und die rund 212.000 geringfügig Beschäftigten im NRW-Einzelhandel.
Die Umsätze im Einzelhandel in NRW sind trotz der Krise im vergangenen Jahr real um 4,0 Prozent gestiegen. Die Branche konnte im elften Jahr in Folge ein Umsatzwachstum verzeichnen. Das Umsatzplus ist keineswegs ausschließlich auf den Versand- und Internethandel zurückzuführen, auch der Umsatz im stationären Einzelhandel ist im vergangenen Jahr preisbereinigt um 2,5 Prozent gestiegen.
Das könnten eigentlich gute Voraussetzungen für ver.di sein, bei den anstehenden Tarifverhandlungen einen großen Schluck aus der Pulle zu nehmen. Könnte sein, wäre da nicht die große Tarifflucht im Handel. Nur noch knapp ein Drittel der Betriebe im Handel sind bundesweit noch tarifgebunden und 80 Prozent der Betriebe im Einzelhandel wenden keinen Tarifvertrag an, auch weil die Tarifverträge seit dem Jahr 2000 nicht mehr allgemeinverbindlich für die gesamte Branche sind.
Nach über fünf Monaten Verhandlungen ist man immer noch nicht zu einem Tarifabschluss gekommen.
Seit nun mehr über 20 Jahren fliehen im Riesenwirtschaftsbereich Handel mit seinen 5,1 Millionen Beschäftigten immer mehr Betriebe aus der Tarifbindung. Waren im Jahr 2000 in NRW noch 56 Prozent der Betriebe und 74 Prozent der dort arbeitenden Menschen tarifgebunden, so sank die Zahl bis heute auf 32 Prozent der Betriebe und 60 Prozent der Beschäftigten.
Ver.di fordert die Unternehmen auf, wie seit 20 Jahren nicht mehr üblich, gemeinsam die Tarifverträge des Einzelhandels für allgemeinverbindlich zu erklären, doch die aber möchten nur über Einmalzahlungen statt linearer Tariferhöhungen verhandeln.
Während die Geschäfte bei den Lebensmitteln, Möbeln, Drogerieartikeln, Baustoffen oder Pharmaprodukten brummen, läuft es bei den Mode/Textilanbietern und Schuhverkäufern nicht so gut.
Für die kriselnden Sparten möchten die Unternehmen gerne Öffnungsklauseln für den Tarifausstieg, obwohl bei der verbliebenen Tarifbindung von 20 Prozent der Betriebe im Einzelhandel längst ein kritisches Maß erreicht ist. Zu den Unternehmen ohne Tarifbindung gehören z.B: Edeka, REWE, dm, Rossmann, Obi, Thalia, Amazon, Zalando, Hornbach, C&A, Kik und Woolworth.
Als Affront sieht es die Gewerkschaft an, dass Amazon – ein Unternehmen, mit dem ver.di seit vielen Jahren knallharte Auseinandersetzungen führt – im Handelsverband Deutschland als Mitglied aufgenommen wurde.
Neu auf der Tagesordnung von ver.di steht die Forderung von mehr Mitsprache der Beschäftigten beim Umgang mit den Vorbestellungen im Internet, dem „Click & Collect“, die Gewerkschaft befürchtet eine schleichende „Amazonisierung“ im Einzelhandel bei einem gnadenlosen Verdrängungswettbewerb während der aktuellen Krise. Immer mehr Waren werden im Internet oder per Telefon bestellt und später an der Ladentür abgeholt.
Waren die Beschäftigten im Einzelhandel immer stolz auf ihre Beratungstätigkeit, so müssen sie beim „Click & Collect“, ähnlich wie bei Amazon nur noch packen und kommissionieren und neuerdings gibt der Kunde wie eine vorgesetzte Person noch die Anweisungen.
Die Händler haben diese neue Entwicklung durch die Einführung von entsprechender Software flankiert, ohne die Beschäftigten dabei einzubeziehen, die mit dieser Neuerung völlig überfahren wurden.
Bereits jetzt sind die Beschäftigten an ihrer Belastungsgrenze angelangt, allein im Einzelhandel gibt es jeden Tag rund 50 Millionen Kundenkontakte. Die Menschen sind bereit, trotz der extrem gestiegenen Belastungen und dem Risiko einer Vireninfektion „den Laden am Laufen“ zu halten, auch weil ihnen die Kurzarbeit mit empfindlichen Einkommenseinbußen droht.
„Click & Collect“ als Beschleuniger der Amazonisierung
Man muss nicht hellsehen können, um vorherzusagen, dass die Unternehmen im Handel die Erfahrung, die sie mit „Click & Collect“ gemacht haben, auch für weitere Möglichkeiten der Kostenersparnis nutzen werden. Im Rahmen des Ausbaus der Digitalisierung im Handel wird den Beschäftigten schon heute bedeutet, dass sich für sie einiges ändern wird.
Die Gefahr, dass man bei der Weiterentwicklung der digitalisierten Arbeitsabläufe schnell bei den Arbeitsbedingungen wie bei Amazon landen kann, ist groß. Was das bedeutet kann man bei dem Versandhändler jeden Tag beobachten.
Beispiele für die Arbeitsbedingungen bei Amazon:
- Entgegen ihrer Arbeitsverträge leisten die meisten Beschäftigten viele Überstunden und Samstagsarbeit.
- Jeder Beschäftigte muss jederzeit durch einen anderen Beschäftigten ersetzbar sein – ohne Effizienzeinbußen bei der Übergabe.
- Extrem hoher Leistungsdruck, die Packer legen täglich bis zu 25 km Laufweg zurück.
- Ständige Überwachung und Sanktionierung durch Kameras und Scanner. Wer mal 5 Minuten lang nichts „gepickt“ hat, bekommt eine Mahnung auf den Scanner gesandt, wer mal zu spät aus der Pause kommt, kann mit einer Abmahnung rechnen.
- Durch die Befristung der Stellen erzeugt Amazon permanent Angst und droht damit, dass der Standort geschlossen werden könnte.
- Es gibt immer wieder Stichtage, an denen eine bestimmte Anzahl von befristet Beschäftigten entlassen wird.
- Ob die Leistung besser oder schlechter bezahlt wird, entscheidet das Unternehmen.
- Betriebliche Mitbestimmung, gewerkschaftliche Durchsetzung von Belegschaftsinteressen oder kollektive Rechtsansprüche der Beschäftigten, die sich aus Tarifverträgen ergeben, sind nicht vorgesehen.
- Die riesigen Firmengelände sind eingezäunt und streng bewacht, die Beschäftigten müssen durch Sicherheitsschleusen, nach dem ihre Habseligkeiten im Spind verstaut wurden, sie dürfen nichts mit hineinnehmen.
- Jeder muss die Amazon eigene Sprache lernen. Aus Warenverräumern werden „Receiver“, aus Packern „Stower“ und Entlassung wird „RampDown“ genannt.
- Sogenannte Leader geben den Arbeitsdruck über Fehlerpunkte an die „Picker“ und „Packer“ ihres Teams weiter. Der „Tracker“ misst die Laufleistung über das sekundengenaue Protokoll des Aufenthaltsortes, der Handscanner erfasst alle Arbeitsschritte und gibt den nächsten vor. Kommt jemand in Verzug, löst das System Alarm aus.
- Die permanente Bewertung der Beschäftigten führt zu Konsequenzen, eine grüne Karte heißt Lob, eine gelbe Karte kommt einer Abmahnung gleich. Bei drei gelben Karten droht die Entlassung.
- Die Vorgabe ist, dass jeder über dem Leistungsdurchschnitt liegen soll. Was mathematisch eigentlich unmöglich ist, wird durch das dynamische Prinzip kontinuierlicher Arbeitsverdichtung in Konkurrenz innerhalb der Belegschaft möglich gemacht.
- Der Zwang zur Selbstoptimierung ist immer präsent, selbst wenn Arbeitsaufträge sinnvoll zusammenfasst werden, um sich unnötige Wege zu ersparen, gibt es Strafpunkte. Zum Zweck der Standardisierung wird jede Abweichung von der algorithmischen Vorgabe sanktioniert, denn jegliche Individualität bedeutet den Verlust von Austauschbarkeit.
und als Ergebnis dieser Bedingungen hat Amazon einen außergewöhnlich hohen Krankstand von 15-20 Prozent der Belegschaft.
Vor diesem Hintergrund wäre es angebracht, dass die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft die Sorgen und Nöte der Beschäftigten offensiv aufgreift, die gestiegene Motivation und das gewachsene Selbstbewusstsein der Mitglieder nutzt, um bei dieser Tarifverhandlung zu klotzen und nicht wie beiden vorhergegangen Verhandlungen im Dienstleistungsbereich nur zu kleckern.
Wie sagte noch die Kollegin im Supermarkt, als sie auf die aktuellen Tarifverhandlungen angesprochen wurde: „Eigentlich wäre es total clever, jetzt im Einzelhandel zu streiken“.
Quellen: ver.di, WAZ, Neues Deutschland, arbeitsunrecht.de Bild: ver.di nrw