Im November 2019 stufte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II in Gestalt eines Leistungsentzugs von bis zu 100 Prozent oder auch 60 Prozent und pauschal bis zu 3 Monate lang als verfassungsrechtlich „unverhältnismäßig“ ein. Doch das Urteil des BVerfG hat in der Praxis für die Betroffenen kaum eine Verbesserung gebracht. So erhielten im vergangenen Jahr 7.091.000 Menschen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) darunter 2.329.000 Kinder. Von diesen Kindern lebten 94.991 in Haushalten im Hartz IV-Bezug, in denen mindestens eine Sanktion durch die Jobcenter verhängt wurde.
Indem die Jobcenter mehr als anderthalb Jahre nach dem Sanktionsurteil des Verfassungsgerichts immer noch auch Kinder sanktionieren, bestrafen sie diejenigen, die in Armut aufwachsen müssen und sich am wenigsten wehren können.
Leistungskürzungen im Sozialrecht bedeuten für Betroffene, dass der ohnehin zu knapp bemessene Regelbedarf weiter gekürzt wird. Überschuldung, mangelhafte Ernährung und verspätete Mietzahlungen sind in der Regel die Folge.
Das BVerfG hatte in einem Urteil vom 05.11.2019 einen Teil der Sanktionsreglungen für nicht vereinbar mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot gewertet und darüber hinaus erklärt, dass Sanktionen besonders strengen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit genügen müssen. Den Betroffenen müsse zudem „möglich sein, die Minderung existenzsichernder Leistungen durch eigenes Verhalten abzuwenden“ (Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16). Es ist allerdings unmöglich, dass Kinder durch eigenes Verhalten eine Minderung der Leistungen abwenden können.
Obwohl die Zahl der Sanktionen nach dem Urteil des BVerfG geringer wurde, sind die fast hunderttausend betroffenen Kinder ein Skandal und keinesfalls, wie beteuert, Einzelfälle.
Sanktionen vergrößern die Not
Sozialberatungsstellen berichten zunehmend von Menschen, die aufgrund der Sanktionen in Nöte geraten, die ihre Existenz bedrohen oder von jüngeren Ratsuchenden, die eine Zeit lang obdachlos und ganz unten angelangt sind. Wenn man sich deren Biografie genauer anschaut, sind viele von ihnen Opfer der Sanktionen, die von den Jobcentern auf der Grundlage des SGB II ausgesprochen wurden. Da eine Überlappung der Sanktionszeiträume möglich ist, können die zusammengerechneten Sanktionen bewirken, dass gar keine Auszahlung erfolgt und diese Menschen über keinerlei Einkommen verfügen.
Bei großen Sanktionen mindert sich das Arbeitslosengeld II in einer ersten Stufe um 30 Prozent des Regelbedarfs, bei der ersten Wiederholung der Pflichtverletzung um 60 Prozent und bei jeder weiteren Wiederholung entfällt es vollständig. Die Kürzungen bei kleinen und großen Sanktionen werden summiert und dauern jeweils drei Monate.
Die einzelnen Regelungen sehen vor, dass Sanktionen bei Pflichtverletzungen und Meldeversäumnissen möglich sind:
Zu den Pflichtverletzungen gehören beispielsweise
- Weigerung zur Erfüllung der Pflichten, die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegt wurden,
- nicht genug Bewerbungen schreiben,
- Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, die nicht abgelehnt werden dürfen,
- Ablehnung, Abbruch oder Vereitelung der Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder geförderten Arbeit
und Ablehnung, Abbruch oder Veranlassung für den Abbruch einer zumutbaren Maßnahme zur Arbeitseingliederung.
Weitere Minderungstatbestände sind beispielsweise
- Zielgerichtete Verarmung,
- Forstsetzung unwirtschaftlichen Verhaltens
und Sperrzeiten.
Für die unter 25-jährigen wird das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung beschränkt, bei der ersten Wiederholung wird die Regelleistung ganz gestrichen. Nach Ermessen kann wieder für Unterkunft und Heizung gezahlt werden, wenn der junge Mensch sich bereit erklärt, seinen Pflichten nachzukommen.
Sanktionen für ein Meldeversäumnis können ausgesprochen werden, wenn der Leistungsberechtigte einen Termin beim Jobcenter oder beim ärztlichen oder psychologischen Dienst ohne wichtigen Grund versäumt. Hier werden für drei Monate um zehn Prozent und bei weiterem Verstoß weitere zehn Prozent für weitere drei Monate einbehalten.
Da eine Überlappung der Sanktionszeiträume möglich ist, können auch die zusammengerechneten Sanktionen keine Auszahlung mehr bewirken. Auch wenn man die Meldung nachholt, führt das nicht zur Beendigung des Sanktionszeitraums. Die Meldeversäumnisse haben den größten Anteil mit 68 Prozent an den Sanktionen.
Mittlerweile wehren sich die Betroffenen gegen die menschenfeindlichen Sanktionen. Mehr und mehr Erwerbslose organisieren sich und gehen gegen die Sanktionen auf die Straße, wie die Initiative „AufRecht“ es tut. Sie machen darauf aufmerksam, dass vom „Fördern und Fordern“ nur noch das „Fordern” übriggeblieben ist, auch weil die Mittel für Eingliederungshilfen fast halbiert wurden.
Der Aspekt der grundgesetzlich garantierten Berufsfreiheit hat in den seit Jahren geführten Diskussionen um die Sanktionsmechanismen praktisch so gut wie nie eine Rolle gespielt.
Die Menschen, die im Hartz-IV-Bezug sind, stehen permanent unter Druck möglicher Sanktionen, weil jeder Vermittlungsvorschlag des Jobcenters ein „nicht ablehnbares Angebot“ sein kann. Die Freiheit der Berufswahl gibt es für sie nicht.
Das Urteil hat kaum eine Verbesserung gebracht
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen im SGB II vom 05. November 2019 hat in der Praxis für die Betroffenen kaum eine Verbesserung gebracht. Das Gesamtsystem der Sanktionen, die Strafe und gleichzeitig Legitimation der schon 2005 verfassungswidrigen „Hartz-Reformen“ ist, wird weiterhin nicht in Frage gestellt.
Mit dem Urteil werden die wichtigsten Säulen des Hartz-Systems beibehalten. Das sind nach wie vor
- die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die sich an der vorherigen früheren Lohnhöhe ausrichtete und durch die Arbeitslosengeld-2-Zahlungen ersetzt wurde, nun aber unabhängig von dem früheren Verdienst.
- die Erwartung an die betroffenen Menschen, sich für die Zahlung der Leistung dem Niedriglohnsektor zur Verfügung zu stellen
und der Wegfall des Berufs- und Qualifikationsschutzes und damit auch die Ungültigkeit der grundgesetzlich garantierten Berufsfreiheit.
Das Urteil untermauert auch, dass schon seit 14 Jahren ganz bewusst gegen Artikel 1 und Artikel 20 des Grundgesetzes (GG), neben der Verletzung der Gewährleistungspflicht des Existenzminimums und damit auch des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, gleichfalls noch gegen die grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit durch die Sanktionen verstoßen wird.
Ergebnisse der Tacheles Online-Befragung zu Folgen und Wirkungen von Sanktionen
Als Ergebnis der Onlinebefragung kann zusammengefasst werden: „86,9 Prozent aller Befragten hielten Sanktionen nicht für geeignet, um eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Vielmehr führen die Sanktionen nach Meinung von 80 Prozent der Umfrageteilnehmer*innen zu schlechter entlohnten und prekären Jobs. Fast genauso viele (79,2 Prozent) sehen eine konkrete Disqualifizierung für ihre weitere erfolgreiche berufliche Laufbahn.
Dass Sanktionen auch ganze Haushalte, sogenannte Bedarfsgemeinschaften, treffen sehen 83,9 Prozent der Befragten. Besonders betroffen sind demzufolge mit rund 77,9 Prozent alleinerziehende Eltern von sanktionierten Jugendlichen/jungen Erwachsenen sowie deren Geschwister.
Weit über die Hälfte (64,9 Prozent) der Befragten bestätigten, dass Sanktionen zu Wohnungsverlust geführt haben und 69,6 Prozent haben in diesem Zusammenhang Kenntnis von Stromsperren. Für rund drei Viertel der Teilnehmenden (70,3 Prozent) waren/sind die Geldkürzungen der Beginn einer Verschuldungsspirale und mehr als jeder Zweite (56,3 Prozent) hat erlebt, dass Sanktionen zum Verlust des Krankenversicherungsschutzes geführt haben.
63,3 Prozent aller Befragten erklärten, dass Sanktionen zu Resignation und Motivationsverlust führen. Als Gründe gaben 44,5 Prozent < Überforderung aufgrund psychischer Erkrankung/Belastung > an. Dass eine Zuweisung für eine berufliche oder persönliche Qualifikation nicht immer passgenau ausgeführt wird, bemängeln 40 Prozent der Teilnehmenden.
Mängel bei der Beratung der Jobcenter vor Ort kritisieren 37,4 Prozent der Befragten und mehr als jeder Dritte (38,0 Prozent) erlebte < rechtswidriges oder willkürliches Verhalten > durch die Jobcenter“.
Sanktion ist immer Strafe und Legitimation zugleich
Auch in Zukunft stehen die Menschen, die im Hartz-IV-Bezug sind, permanent unter Druck möglicher Sanktionen, weil jeder Vermittlungsvorschlag des Jobcenters ein „nicht ablehnbares Angebot“ sein kann. Die Freiheit der Berufswahl gibt es für sie nicht.
Die Leistungen, die sie beziehen, werden nur gewährt, wenn sie sich als Empfänger „würdig“ erwiesen haben und sie müssen alles tun, um an der „Überwindung der Hilfebedürftigkeit aktiv mitwirken“. Damit wird den Menschen weiterhin unterstellt, selbst für ihre Lage verantwortlich zu sein.
Wenn die Bundesregierung mehr als anderthalb Jahre nach dem Sanktionsurteil des BVerfG nach wie vor untätig zuschaut, dass aktuell fast hunderttausend Kinder sanktioniert werden, ist das mehr als ein Skandal.
Sanktion ist immer Strafe und Legitimation zugleich. Einmal wird bestraft und zum anderen den Menschen gezeigt, dass der Staat dazu das Recht hat, dass er das tun darf. Ohne Sanktionen würde das Hartz-4-System seine Effektivität und Abschreckung als Mittel zur Lohnsenkung verlieren.
Quellen: BVerG, Tacheles Online-Befragung, Statistisches Bundesamt,BA Bild: sozialberatung kiel