Plötzlich ist zuvor Undenkbares möglich: Investitionen ungekannten Ausmaßes in Krankenhäuser, ja sogar eine Aufhebung der 2009 mit Verfassungsrang versehenen Schuldenbremse. Und andererseits: eine für viele Menschen lebensbedrohliche Überlastung im Gesundheitswesen, Armut und Prekarität als Massenphänomen, Ausdehnung von Arbeitszeiten hier, Null-Stunden-Woche dort, und langfristig die Gefahr einer Verschärfung der Klassenkämpfe von oben.
Nachdem in den ersten Wochen der Corona-Pandemie der öffentliche Fokus auf Verlautbarungen aus Krisenstäben fast alles andere vergessen ließ, wird seit einigen Tagen die Frage nach den sozialen Dimensionen des Lockdowns stärker in den Blick genommen: Es zeigt sich, wie schnell sich die Corona-Krise in einen Notstand der Arbeitsgesellschaft verwandelt, dessen Folgen aktuell unabsehbar sind. Spekulationen erscheinen deshalb auch ziemlich sinnlos. Nützlicher erscheint es uns zu diskutieren, was die aktuelle Situation für bereits zuvor vorhandene Tendenzen in der Erwerbsarbeit, aber auch für die gesellschaftliche Arbeitsteilung insgesamt bedeutet.1 Beide Fragen stehen sowohl für eine kritische Arbeitsforschung als auch für linke, emanzipatorische Politik im Feld Arbeit aus unserer Sicht auf der Tagesordnung.
Helden der Arbeit
Sergej, Lucia, Marek, Jane, Levent und Marina. Und Mirela, Toni, Lejla, Dan und Melika. So heißen die elf Freund_innen in fußballlosen Zeiten. Unter der Überschrift „Wir versorgen Deutschland“ präsentiert sie der Discounter Lidl als „Superhelden“.2 Erstmals vermutlich in der Geschichte der Süddeutschen Zeitung findet sich dort in Corona-Zeiten eine ganzseitige Anzeige dieses Unternehmens, in der „tausenden Kolleginnen und Kollegen in den Filialen, im Lager und den Fachbereichen für die herausragende Arbeit gedankt wird“. Whitewashing als Kriseneffekt: Ein Unternehmen, das ansonsten lange eher für die Misshandlung von Arbeiter_innen und Missachtung von Arbeitsrechten bekannt war, nutzt die Gelegenheit, sich selbst als Teil einer guten Sache zu präsentieren.
Aber auch sonst ist die Aufwertung von in der soziologischen Debatte neuerdings als „Fundamentalökonomie“ bezeichneten Tätigkeiten unübersehbar,3 die man in hergebrachter Weise auch als gesellschaftlich notwendige Arbeit bezeichnen könnte: Fußballfans nutzen die Beschäftigungslosigkeit, um den „Held_innen“ in den Krankenhäusern zu danken, bekannte Musiker_innen spielen ein Ständchen für die „Superfrauen und -männer“ in der Altenpflege, Bürgerinnen und Bürger nehmen auf dem Balkon Handyvideos auf, auf denen zu sehen ist, wie sie den Verkäufer_innen und Pflegepersonen Beifall klatschen.4 Auch unabhängig davon, dass die Gewerkschaften einen Zuschlag für die wachsende Arbeitsbelastung der Held_innenschaft fordern,5 und auch abgesehen von der Frage, ob das Geld für die sicher nicht ganz billige ganzseitige Lidl-Annonce nicht lieber zur Verbesserung der schon im normalen Alltag prekären und schlecht entlohnten Tätigkeiten von Sergej und Kolleg_innen hätte verwendet werden können: Es ist sicher ein wichtiger Punkt, dass die Leistungen von arbeitenden Menschen, die die für die Einzelnen und die Gesellschaft existenziellen Güter und Dienstleistungen schaffen, erst bei einem drohenden Ausfall sichtbar gemacht werden. Lidl sei Dank, weiß in der Folge nun auch die Leserin oder der Leser der Süddeutschen Zeitung, dass beispielsweise ohne die Kassiererin im Supermarkt, die man sonst zwischen zwei wichtigen Geschäftsterminen gerne übersieht, auch die Organisation des eigenen Alltags möglicherweise ziemlich schwierig sein könnte.
Dieser Punkt ist deshalb wichtig, weil an ihm klar wird, dass das, was in der soziologischen Debatte „öffentliche Güter“ genannt wird,6 nicht identisch ist mit dem, was gesellschaftlich notwendige Arbeit insgesamt umfasst: Es geht um Tätigkeiten, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einem extremen Ökonomisierungs- und Privatisierungsdruck ausgesetzt waren, was aktuell vor allem der Blick in das Gesundheitswesen zeigt. Aber es geht auch um Tätigkeiten, die zumindest in der Bundesrepublik niemals in nennenswertem Maße durch ein zum Staat geronnenes Gemeinwesen organisiert waren. In sonst so unterschiedlich wahrgenommenen Feldern wie dem Einzelhandel und der Pflege wird nun deutlich, dass gesellschaftlich notwendige Arbeit in einem ganz umfassendem Sinne verstanden werden muss. Es ist ein fließender Begriff, in ständiger Bewegung, und seine Wendungen und Fügungen werden in Krisensituationen stärker wahrgenommen als sonst. Wovon sprechen wir überhaupt, wenn wir von „Gesellschaft“ sprechen? Diese Frage zieht analytisch und politisch gleich mehrere Fragen nach sich: Welche Tätigkeiten sind überhaupt von existenzieller Bedeutung für den Alltag der meisten Menschen? Wer verrichtet diese Tätigkeiten, und zu welchen Bedingungen? Wie sind diese Tätigkeiten organisiert, wer eignet sich die produzierten Werte an? Dies sind „einfache“ Fragen, bei denen es auf den ersten Blick nicht um die Analyse von Staat, Kapital und Revolution geht. Will man jedoch die Frage stellen, was die aktuelle Rede von der „Systemrelevanz“ bedeutet, dann sind solche Fragen entscheidend.
Zudem könnten sich solche Fragen für die Profiteure der aktuellen Situation als Bumerang erweisen: Keineswegs selbstverständlich erscheint vor ihrem Hintergrund etwa, dass die Discounter oder die Onlineversandhändler und ihre Oligopole eine gesellschaftlich sinnvolle Form darstellen, Versorgung zu organisieren: Als unmittelbare Folge der Krise könnte die Kritik an Lidl, Amazon und Co. deshalb wachsen, könnte die Suche nach Alternativen gestärkt werden. Dabei ginge es nicht nur um die Randbereiche, es folgt nämlich ganz logisch die Forderung, dass die aktuellen heldenhaften Einsätze von Kolleginnen und Kollegen in den genannten Bereichen in Zukunft weitaus bessere Rahmenbedingungen brauchen würden: Weniger prekäre Beschäftigung, Anerkennung von erworbenen Qualifikationen, Zurückdrängung der teils extremen Kontrolle und des Arbeitsdrucks, existenzsichernde Löhne. Angesichts dessen, dass der Einzelhandel eine Domäne von als „weiblich“ konnotierter Arbeit ist, würden solche Veränderungen auch das über die gesellschaftliche Arbeitsteilung vermittelte System patriarchaler Herrschaft angreifen.
Es ist wichtig zu bemerken, dass es hier keinesfalls nur um einen „Diskurs“ in engerem Sinne geht. Es ist nicht das alte Lieblingsspiel einer bürgerlich geprägten Linken, kein „Kampf um Positionen“, keine Sache, bei der es zentral um die „Hegemonie in der Debatte“ usw. geht. Vielmehr wird die Verbindung zwischen dem, was wir Diskurs nennen, und den Alltagskämpfen selten deutlicher als aktuell. Dies freilich nicht, ohne dass diese Verbindung in der aktuellen Krise eine existenzielle Dramatik erhält. So sind die laufenden weltweiten Kämpfe um die Gefährdung von Arbeitenden in den Distributionszentren von Amazon ein gutes Beispiel dafür, dass der Kampf um die Definition der „Systemrelevanz“ eine aktive Grundlage hat, dass es sich in der Tat um einen Arbeitskampf handelt. Auf die Kritik von Arbeitenden an der Aufrechterhaltung des Betriebs in den Distributionszentren in Frankreich, Spanien und den USA, verbunden sogar mit der Suche nach zehntausenden neuen Arbeiter_innen, die die Erkrankten und aus dem Betrieb Flüchtenden ersetzen, antwortete der Versandriese mit einer dreifachen Maßnahme: Repressionen gegen Streikende, einer Bonuszahlung für Anwesenheit, sowie mit der Behauptung, der Onlineversand sei systemrelevant.7 Zwei dieser drei Maßnahmen sind keinesfalls „diskursiv“, aber die öffentliche Aneignung der Position, die sich auch Lidl und die anderen Menschenfreunde des deutschen Einzelhandels zuschreiben, ist im Kontext dieses laufenden transnationalen Arbeitskampfs dennoch wichtig.8
Pflegearbeit
Einzelhandel und Pflege haben gemeinsam, dass es sich um Tätigkeitsfelder handelt, die nicht erst seit der der jüngsten Krise, sondern bereits seit langer Zeit durch Arbeitsüberlastung, zu niedrige oder nicht vorhandene Personalschlüssel sowie einen grassierenden Personal- und Nachwuchsmangel charakterisiert sind. Innerhalb des Gesundheitswesens haben politische Entscheidungen seit den 1990ern eine lange Krise-vor-der-Krise hervorgebracht. Eine ihrer Grundlagen war der flächendeckende Verkauf von Krankenhäusern an private Gesundheitskonzerne wie Asklepios oder Helios. Damit verbunden kam es zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und einer Zuspitzung auf „lukrative“ Formen der Medizin. Und, in einer leider ganz unvollständigen Liste der Grausamkeiten, zu einer Auslagerung der gesamten notwendigen Infrastruktur, von der Essensversorgung bis zum Patiententransport, an Subunternehmen mit prekären Arbeitsbedingungen. 9 Voraussetzung war die verallgemeinerte Form der Abrechnung über Fall pauschalen (DRG-Gruppen),10 eine Abrechnungsform, die das Risiko mangelnder Auslastung auf die Träger der Häuser verlagert, während die notwendige Infrastruktur aus den Gewinnen finanziert werden muss, die die Behandlungen generieren. Die Konsequenz ist, wie die Kampagne Krankenhaus statt Fabrik lange vor der Krise zusammenfasste, eine Mischung aus Mangel und Vergeudung, in der profitable Leistungen gegenüber den weniger attraktiven Standards eine höhere Bedeutung erlangen.11
Entsprechend ist die Kranken- und Gesundheitspflege mit einer hohen Fluktuation an Arbeitskräften konfrontiert. So etwa, wenn die dort Ausgebildeten feststellen müssen, wie sehr sie dazu gezwungen sind, ihre Arbeitskraft unter den ebenfalls bereits in Vorkrisenzeiten vorgefundenen Bedingungen zu verschleißen. Man hat das als „Pflegenotstand“ bezeichnet: Etwa hunderttausend ausgebildete Pfleger_innen fehlen allein in den Krankenhäusern.12 Vor Corona wurden händeringend Leute gesucht, und jener Staat, der die Misere mit verursacht hatte, half bei der Rekrutierung eifrig mit, vom massiven Anwerben von ausgebildeten Pfleger_innen, die in Italien und Spanien (!) oder den Philippinen angeworben wurden, bis hin zur Aufwertung der Ausbildung.13 Noch verzweifelter ist die Situation in der Altenpflege, die zudem noch eine Abwanderung von Pflegenden in die Einrichtungen des Gesundheitswesens zu verzeichnen hat, weil die Arbeitsbedingungen in vielen und gerade auch den privat geführten Altenheimen noch schlechter sind: Der Burn-out ist schon in friedlicheren Zeiten ein weit verbreitetes Phänomen bei Altenpfleger_innen.14
Es mag vor diesem Hintergrund kaum überraschen, dass der Pflegesektor bereits lange vor der Krise Hotspot neuer Arbeitskämpfe wurde, deren Besonderheit eine Bezugnahme auf Pflege als öffentliches Gut war.15 Die Kämpfe in Krankenhäusern und – leider wesentlich weniger und schwächer – in Altersheimen sind Beispiele für das, was man als Sorge-Kämpfe zusammenfassen kann: Arbeitskonflikte, die nicht alleine für eine Aufwertung von Sorgearbeit eintreten, die darin besteht, dass, wie im Sozial- und Erziehungsdienst, Lohngruppen angepasst und Löhne erhöht werden, sondern die auch die Arbeitsbedingungen im weiteren Sinne zum Gegenstand der Debatte machen, und damit auch die Bedingungen unter denen Kinder betreut, Alte gepflegt und Kranke operiert werden. Sorge-Kämpfe, die eine überwiegend von Frauen geleistete Tätigkeit radikal aufwerten wollen.
Auch im Bereich der Pflege stellt sich also über die unmittelbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen hinaus die Frage, wie und unter welchen Bedingungen gesellschaftlich notwendige Arbeit geleistet werden soll. Sehr naheliegend ist unter Krisenbedingungen die Forderung nach einem Ende der neoliberalen Strukturierung des Gesundheitswesens. Die kurzfristige und in ihrer Form umstrittene Aufhebung von Dokumentationspflichten ist insofern nicht nur ein Hinweis auf die Notstandssituation, in der „überflüssige“ Arbeiten wegfallen müssen, sondern verweist auch auf den Umstand, dass die Zuspitzung der Profitorientierung im Gesundheitswesen und in den Altenheimen (und übrigens auch im Bereich des Sozial- und Erziehungsdienstes) faktisch keineswegs mit der neoliberalen Rhetorik der „Entbürokratisierung“ in Einklang zu bringen ist. Das Zugestehen von umfassenden Finanzhilfen für die Krankenhäuser – in der aktuellen Situation eine richtige und doch noch unzureichende Maßnahme – weist zudem darauf hin, dass es keinesfalls, wie Neoliberale immer behauptet haben, ein Art Naturgesetz ist, dass Pflege immer dann „effizient“ ist, wenn sie profitorientiert geleistet wird.16 Mit der Pflege und dem Handel sind allerdings leider schon fast alle Tätigkeitsbereiche benannt, die im aktuellen öffentlichen Diskurs aufgewertet werden.17
Sorgearbeit
Nimmt man das Spektrum an Tätigkeiten, das in den Sorge-Kämpfen eine wichtige Rolle gespielt hat, so fällt beispielsweise auf, dass die berufstätige Betreuung und Erziehung von Kindern und jungen Erwachsenen angesichts des Gebots des „social distancing“ massiv privatisiert worden ist, das heißt, an Familien und Alleinerziehende delegiert wird. Die dadurch entstehenden kurz- und mittelfristigen Probleme werden zum Teil öffentlich verhandelt: In einer Klassengesellschaft ist „Familie“ eine zentrale Instanz der Reproduktion sozialer Unterschiede, mit der Folge, dass die genannte Verlagerung der Erziehung in die Privatsphäre die ohnehin schon heftige soziale Polarisierung in der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen weiter verschärfen wird; etwa für Alleinerziehende oder für Menschen, die darüber hinaus weitere Angehörige betreuen, wird sie kaum zu bewältigende physische und psychische Belastungen zur Folge haben.18 Das zeigt etwa das Beispiel des „Homeschooling“: Eltern mit hierfür ausreichenden Ressourcen treiben ihre Kinder auch zu Hause zum Abarbeiten von Schulaufgaben an, und nicht wenige sind in dieser Hinsicht fordernd, damit der Kleine oder die Kleine nun ja nichts verpasst, was später für den Aufstieg auf der Karriereleiter wesentlich wäre. Alle anderen, besonders Alleinerziehende und/ oder solche, die weiterhin Vollzeit arbeiten müssen, stoßen in Nullkommanichts an schier unüberwindbare nervliche und soziale Grenzen.
Je länger die Phase anhält, in der Kindertagesstätten und Schulen geschlossen sind, desto stärker wird sich diese Polarisierung zeigen, die eine massive Benachteiligung und weitere Verarmung von Kindern und Jugendlichen aus dem Proletariat beinhaltet, ein Notstand im Notstand, der mit einem Wiedererstarken des Patriarchats einhergeht. Die Ausweitung von Hilfen für betroffene Familien, Organisierung von Nachbarschaftshilfe, das Aussetzen von Leistungsanforderungen in Schulen und Universitäten19 – all dies sind in dieser Situation sinnvolle Initiativen und Forderungen, die aber zunächst nur lindernd wirken und das grundlegende Problem nicht lösen. Hinzu kommt, dass eine bezahlte Freistellung von der Erwerbsarbeit, wie kaum anders zu erwarten, von vielen Betrieben und Unternehmen nur in einem ganz engen und völlig unzureichendem Maßstab akzeptiert und gegebenenfalls finanziert wird. Ohne eine Existenzsicherung, die auch unabhängig von Familienstruktur und Erwerbsarbeit bestehen kann, wird das Problem nicht zu lösen sein.20
Vorläufig zusammengefasst ergibt sich das Bild einer Dreiteilung jener „Fundamentalökonomie“ im aktuellen Corona-Diskurs: Erstens werden bestimmte gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten sichtbar gemacht, und dabei werden auch systemische Probleme und Defizite exponiert, die die Diskurshegemonie des Neoliberalismus weiter angreifen könnten. Zweitens werden andere lebenswichtige Tätigkeiten buchstäblich in den Schatten gestellt und unsichtbar gemacht, was die Chancen für politische Initiativen im Sinne einer „neuen Infrastrukturpolitik“, die abgesehen von den erwähnten Bereichen auch andere wie Wasser- und Stromversorgung, Verkehrsinfrastruktur etc. umfassen müsste, erschweren könnte. Und drittens wird unbezahlt und unsichtbar geleistete Sorgearbeit in einem gesellschaftlich kaum gesehenen Maßstab abverlangt und – wie stark zu vermuten ist – vor allem von Frauen geleistet.
Freiwilligenarbeit
Der unsichtbaren Sorgearbeit in Familien und Haushalten, bei der „privaten“ Versorgung und Betreuung von Kindern und Alten, steht außerdem eine sehr sichtbare Freiwilligenarbeit gegenüber: Das Engagement von Menschen, die in der Krise anderen helfen wollen. Sawsan Chebli, Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement in Berlin, schreibt im Tagesspiegel, das „Ehrenamt“ sei „systemrelevant geworden“.21 Tatsächlich gibt es in jeder größeren Stadt Initiativen, die Nachbar_innen in besonderen Notlagen helfen, für Obdachlose an Zäunen und vor Kirchen Sammlungen veranstalten und anderes mehr. Die meisten Städte reagieren auf diesen Trend, indem sie Freiwilligenbörsen anbieten, ehrenamtliche Besuchsdienste, Einkaufshilfen, spezifische Aufrufe an Studierende starten usw. Freiwilliges, unbezahltes Engagement verbindet sich dabei mit einem starken und bedeutenden Angebot, sowohl Überstunden als auch unbezahlte Arbeit insbesondere in der Pflege zu leisten: In Göttingen sollen sich 500 Studierende zur Unterstützung der Arbeit im Universitätsklinikum gemeldet haben,22 eine Pinneberger Leiharbeitsfirma sucht keine Arbeitskräfte mehr, sondern „Altenpfleger, Helden im Kampf gegen Corona (m/w/d)“.23
Freiwilligenarbeit und Pflegeethos sind widersprüchliche Erscheinungen, sowohl für sich als auch gerade in ihrer Verbindung.24 Auf der einen Seite ist es geradezu existenziell wichtig, daran anzuknüpfen: Das Engagement für und mit Nachbar_innen verändert die Nachbarschaft, und eine Alltagssolidarität ist das Rückgrat oppositionellen, gewerkschaftlichen und systemkritischen Handelns.25 Auf der anderen Seite treten zwei Probleme in diesem Zusammenhang auf, die aus unserer Sicht auch diskutiert werden müssen: Erstens ist in dem Begriffspaar systemrelevant – systemkritisch eine Spannung angelegt. Einfach gesagt, findet freiwillige, solidarische Hilfe auf der Bruchlinie zwischen System und Kritik statt, und nur wenn man sich fälschlicherweise die Illusion macht, außerhalb des Feldes zu sitzen, das von dieser Bruchlinie durchzogen wird, kann man diese Spannung leichthändig ignorieren.
Freiwilligenarbeit und Selbstorganisation ersetzen dringend notwendige Aufgaben, die gar nicht, nicht mehr oder noch nicht im Rahmen von staatlich oder subsidiär verwalteten Leistungen erbracht werden. Das passiert immer, nicht nur in der Krise, mal spontan, mal konzeptionell ausgerichtet: Bürger_innen betreiben ein Schwimmbad oder eine Bücherei weiter, das die Kommune unter Austeritätsbedingungen zu schließen droht, Selbsthilfe geschieht in Form von Repair-Cafés oder Tauschläden usw. Aber in der Krise passiert es eben in einer besonderen Dringlichkeit und im Rahmen eines öffentlichen Diskurses, der sehr stark auf die Freiwilligenarbeit fokussiert ist.
Die letzte große Solidaritätswelle haben wir 2015 im Sommer der Migration erlebt. Auch wenn sich sowohl Bedingungen als auch Schwerpunkte verändert haben (was eine antirassistische Perspektive in der Nachbarschaftshilfe und im Freiwilligenengagement um so notwendiger erscheinen lässt),26 ist es interessant, sich kurz mit der Fortsetzungsgeschichte der Welcome-Bewegung zu befassen: Die Aussetzung und Ersetzung staatlicher Funktionen und Leistungen hat mit der Zeit zu erheblichen Konflikten mit Verwaltungen und staatlicher Politik geführt.27 Selbstorganisation gegenüber den Ämtern, Ämterbegleitung in Ausländer- und Sozialbehörde, medizinische und juristische Hilfe, Aktionen gegen Abschiebungen waren dem lokalen Staat ein Dorn im Auge. Dieser Aspekt ist in einer Situation, in der die Krisenstäbe regieren und Selbstorganisation deshalb als eine Art Refugium der Demokratie gelten kann, enorm wichtig.
Andererseits hatte auch „Welcome“ durchaus eine paternalistische Tendenz, die nach der Schließung der Grenzen entweder zum Rückzug der überlasteten Aktivist_innen führte oder dazu, dass Einzelne sich in den staatlichen und parastaatlichen Apparat integrieren ließen. Eine Grundlage dieser Art des Übergangs war der Umstand, dass die soziale Zusammensetzung der Welcome-Bewegung sich stark von den Klassenpositionen vieler unterstützter Migrant_innen unterschied:28 Das Ehrenamt war nicht nur der Maßstab der sozialen Nähe, sondern auch eine Art Abstandhalter. Ähnliches könnte in der aktuellen Krise auch bevorstehen: Es werden nur wenige alleinerziehende Kassierer_innen in der Lage sein, sich an der Nachbarschaftshilfe zu beteiligen. In der Freiwilligenarbeit findet so auch eine Neuvermessung der Klassengesellschaft statt. Es erscheint also wichtig, dass die Auseinandersetzung um Solidarität vs. Paternalismus innerhalb der Initiativen geführt wird, eine Auseinandersetzung, die zu führen in den heftigen Zeiten der Krise oft unmöglich erscheint (und die nach 2015, zumindest in der Welcome-Bewegung, weithin ebenfalls nicht geführt wurde).
Dies gilt umso mehr, als die aktuelle Pandemie das Pflegeethos in den Mittelpunkt stellt: Die Ambivalenz der Selbstorganisation wird dadurch noch stärker ins Licht gerückt. Die „sittliche“ Definition von Ansprüchen an Pflegende hat historisch einerseits die Dimension einer vergeschlechtlichten Zuschreibung von „weiblichen Eigenschaften“, positiv konnotiert als Pflege, Fürsorge, Nähe usw. Andererseits konnten sich vor allem bürgerliche Frauen in diesem Feld eine Sphäre selbstständigen und selbstbewussten Handelns eröffnen. In der Arbeitskampfforschung gilt das sich wandelnde Pflegeethos als Drehmoment, das kollektiven und gewerkschaftlichen Aktionen von Pflegenden harte, traditionelle Grenzen entgegensetzen kann, aber auch Impulse des Aufbruchs hervorbringt, vor allem auf der Grundlage des Widerspruchs zwischen Pflegeansprüchen und Pflegerealität.
Oder anders gesagt: Entgrenzung, aber auch soziale Ansprüche, Universalismus und Gerechtigkeit – Burn-out, aber auch Widerstand gegen die Zumutungen der Austerität – all dies ist mit der Dialektik des Pflegeethos verbunden. Im besten Fall kommen hier Konfliktfelder zusammen, verbinden sich praktische Solidarität und Selbstorganisation in der Forderung nach mehr Geschlechtergerechtigkeit, sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit: wird die Kritik an der Klassengesellschaft gestärkt. Im schlechteren Fall verbinden sich Überarbeitung Einzelner und Paternalismus: wird die Klassengesellschaft legitimiert und gefestigt.
In der aktuellen Debatte wird öffentlich wahrnehmbar durchaus auch an kritische Positionen angeknüpft, und man könnte es nicht besser ausdrücken als ein Pfleger auf Deutschlandradio Kultur: „Wir Pflegekräfte […] wollen […] keine Merci-Schokolade und warme Worte! Wir brauchen 4.000 Euro brutto, mehr Personal, Gefahrenzulagen und ein entprivatisiertes Gesundheitssystem!“ Zu dieser Position gehört auch die massive Forderung nach einem besseren Schutz der Pflegepersonen, unter anderem durch eine hinreichende Ausrüstung mit Schutzkleidung und Schutzmasken.29
Massenhafte Prekarität
Auch in anderer Hinsicht könnte aus den Erfahrungen vergangener gesellschaftlicher Krisen gelernt werden: Austeritätspolitik scheint wie eine Krankheit, die sich jahrzehntelang ohne Virenschutzprogramm ausbreiten konnte, über die Schließung öffentlicher Einrichtungen bis hin zur Verdammung eines relevanten Anteils der Bevölkerung, dauerhaft am Rande des Existenzminimum zu leben, mit der Folge einer alltäglichen sozialräumlichen Polarisierung.30 Auf Erwerbsarbeit bezogen, hat zu dieser Polarisierung beigetragen, dass sich in den vergangenen rund zehn Jahren die Einkommen in jenen Bereichen stabilisiert haben, in denen Tarifverträge und Betriebsräte eine Rolle spielen, mit relativ ansehnlichen Steigerungsraten in der Metall- und Elektroindustrie, der chemischen Industrie und am Ende der Dekade auch im öffentlichen Dienst.31 Zugleich stagnierten oder sanken die Einkommen von Menschen, die in Niedriglohnbereichen arbeiten. Zu diesen gehören einige der Bereiche, die aktuell und plötzlich als systemrelevant erscheinen: Einzelhandel, Nahrungsmittelindustrie etc. – Bereiche, in denen die Arbeitenden häufiger auf ergänzende Lohnersatzleitungen angewiesen sind als anderswo. Obwohl statistisch gesehen die ökonomischen Probleme 2008/09 am stärksten die industriellen Branchen betrafen,32 hat sich die Polarisierung der Einkommen insbesondere in Bezug auf sogenannte einfache Dienstleistungen vertieft.
Die aktuell sich täglich verändernden Konjunkturprognosen gehen für das Jahr 2020 von einer Rezession bislang unbekannten Ausmaßes aus. Je nachdem, wie lange der sogenannte Lockdown anhält, sprechen unterschiedliche Institute von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zwischen einem und zwanzig Prozent, wobei das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung bei der Bundesanstalt für Arbeit aktuell von rund zwei bis fünf Prozent ausgeht.33 Unterschiedlichen Schätzungen zufolge wird gleichzeitig von einer steigenden Erwerbslosigkeit von offiziell etwa 2,2 auf über drei Millionen Menschen ausgegangen.34 Das Bundesarbeitsministerium spricht von mehr als einer Million zusätzlichen Empfänger_innen von Leistungen nach dem SGB II.35 Die in der Krise 2008/09 bedeutsam gewordene Abfederung durch Kurzarbeit wird auch diesmal wieder wichtig: Die Zahl der Kurzarbeiter_innen ist bereits im März 2020 von durchschnittlich 150.000 bis 250.000 Personen (2019) auf über eine Million gestiegen, und Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu einem Viertel der Erwerbstätigen im Verlaufe der Krise betroffen sein könnten.36 In Deutschland wird bei Kurzarbeit regelmäßig eine Lohnersatzleistung von 60 bzw. 67 Prozent gezahlt, eine im nordeuropäischen Vergleich relativ geringe Leistung.37 Tarifvertraglich ergänzende Regelungen wie in der Metall- und Elektroindustrie, wo im März 2020 IG Metall und Unternehmer ein „Krisenpaket“ unterschrieben haben, oder betriebliche Vereinbarungen, erhöhen den Anteil in einigen Fällen. Sie verhindern aber nicht, dass auch dieses Moment der Krisenpolitik die Polarisierung der Einkommen zwischen Arbeitenden in mehr oder weniger gut durch Tarifverträge abgesicherten Sektoren verstärkt.38 Es ist also zu vermuten, dass diese massenhafte Prekarisierung sozial ungleich verteilt und ungleich abgefedert wird. Mögliche Verluste von hunderttausend Arbeitsplätzen in der ohnehin vorkrisengeschüttelten Autoindustrie bedeuten insofern sozial etwas anderes als die möglicherweise Millionen Entlassungen von Menschen in „Arbeitnehmerüberlassung“, die bereits in der letzten Krise als „Puffer“ dienten. Und die „natürlich“ zuvor weder durchgehend existenzsichernde Löhne hatten noch mit einem vergleichbaren Ausgleich durch Kurzarbeiter_innengeld rechnen können.
Aber die Krise betrifft doch ökonomisch zugleich in der Tat alle, die in Bereichen arbeiten, die schließen oder deren Unternehmen massiv von der Insolvenz bedroht sind. Es ist auf dieser Grundlage nicht falsch, von einer kurzfristig ausgedehnten, geteilten Unterschichtserfahrung auszugehen. Außerdem sind Ausgangsbeschränkungen eine Erfahrung massiver Verunsicherung, die kurzfristige Aufhebung einer privilegierten Mobilität. Die Krisenbetroffenheit weitet sich tendenziell aus, was die schnelle Abkehr von der Schuldenbremse ebenso erklärt wie den Aufbau von milliardenschweren Schutzschirmen, die massenhafte Insolvenzen zumindest herausschieben sollen. Regierung und Verwaltung haben auf eine potenziell soziale Konflikte provozierende Situation mit einem Programm reagiert, das vor allem die Mittelschicht schützen soll, und dies mit Maßnahmen verbunden, die das Arbeitskräfteangebot in den sogenannten systemrelevanten Bereichen sichern helfen soll: Die Arbeitsagenturen melden, dass sie sich derzeit vor allem auf die Sicherung von Auszahlungen konzentrieren werden, was den Sanktions- und Zwangscharakter des SGB II kurzfristig erheblich verringert.39 Zugleich ist der Zugang erleichtert worden: Explizit an Soloselbstständige und Kleinunternehmer gerichtet, wurde per Gesetz eine Prüfung des vorhandenen Vermögens zunächst ausgesetzt, während gleichzeitig die von Sozialverbänden in der Vergangenheit immer wieder kritisierte Deckelung der Übernahme von Mietkosten, Heizung und Stromkosten vorübergehend aufgehoben wurde.40 Die Übergangsrichtlinien können bis zum 31. Dezember 2020 verlängert werden.
Fest steht allerdings bereits jetzt, dass der Sozialschutz als Notstandsmaßnahme verstanden wird. Ähnlich wie die Lohnzuschläge für Menschen in bestimmten Sektoren sollen sie explizit keine dauerhaften Veränderungen präjudizieren. Die Maßnahmen könnten eine kurzfristig konfliktreduzierende Wirkung entfalten, langfristig ist jedoch offen, wie sich die Tendenz einer verallgemeinerten Prekarisierungserfahrung auswirkt. Es kann zu einer starken Konzentration von Eigentum, Macht und politischen Entscheidungen, aber auch zu neuen, überraschenden Bündnissen kommen, die die Randständigkeit und Minderheitserfahrung von Initiativen gegen die Prekarisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen relativieren, wobei weder das eine noch das andere automatisch geschieht, sondern politischer Initiativen und Entscheidungen bedarf.
Arbeitszwang
Ein zweiter Blick auf das Sozialschutzpaket zeigt, dass es sich zwar vom Gedanken der Aktivierung – nicht zuletzt aufgrund eines drohenden Zusammenbruchs der Arbeitsverwaltung und der Arbeitsagenturen bei einem massenhaften Andrang von neuen Leistungsberechtigten – kurzfristig verabschiedet, die Logik des Förderns und Forderns jedoch auf einer anderen Ebene erhält. Das Paket umfasst nämlich auch Regeln erstens zur Aussetzung arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen (vor allem aus dem Arbeitszeitgesetz) bei extensiver Mehrarbeit und zweitens eine (noch „sanft“ erscheinende, unauffällige) Lenkung des Arbeitsbedarfs in Richtung Notstandsarbeiten. So wird die Anrechnung von Kurzarbeitergeld bei der freiwilligen Aufnahme von Tätigkeiten etwa in der Landwirtschaft befristet aufgehoben, ebenso eine geringfügige Beschäftigung in der Landwirtschaft erlaubt; Sozialeinrichtungen erhalten einen sogenannten Schutzschirm, sollen ihre Beschäftigten aber gegebenenfalls auch für systemrelevante Arbeiten zur Verfügung stellen.41
Die auffallende Bedeutung der Landwirtschaft im Krisenpaket zeigt, dass eine weitere Figur, die im Sternenhimmel der „Helden der Arbeit“ bislang noch nicht vertreten ist, ein bisschen mehr Aufmerksamkeit verdient hätte: Die des oder der migrantischen Saisonarbeiter_in in der Nahrungsmittelproduktion, wo auch in Vorkrisenzeiten schlechte Arbeitsbedingungen, Gesundheitsgefährdung der Arbeitenden, Lohn- und Mietbetrug usw. verbreitet waren.42 Es ist derzeit nicht leicht herauszufinden, wie sich die Bedingungen in diesen Bereichen verändern. Jedenfalls hat der Arbeitskräftemangel bei der Ernte sowie vermutlich auch die Debatte über den Einsatz anderer Arbeitskräfte als der traditionell in diesen Sektoren Ausgebeuteten dazu geführt, dass das Prinzip der geschlossenen Grenzen für „40.000 Saisonarbeitskräfte“ – bei strengen Bestimmungen über die Formen der Einreise – Anfang April kurzfristig durchbrochen wurde, wobei die weitere Entwicklung diesbezüglich, wie so vieles aktuell, völlig unklar bleibt.43
Berater_innen und Beschäftigte berichten von widersprüchlichen Tendenzen, wenn man den Blick auf migrantische Arbeiter_innen in Deutschland insgesamt erweitert: Ein Teil der Arbeiter_innen wird an der Grenze festgehalten, entweder bei der Einreise nach Deutschland oder bei der Ausreise ins Herkunftsland. Ein Teil scheint in Deutschland festzuhängen, nachdem Betriebe geschlossen wurden, oft ohne Anspruch auf Sozialleistungen und Krankenversicherung. Für Menschen mit Pässen aus Drittstaaten macht sich zudem die seit dem Integrationsgesetz von 2016 verschärfte Verknüpfung von Erwerbsarbeit und Aufenthaltsrechten spürbar.44 Die Erklärung, dass Unternehmen wie Amazon oder Schlacht- und Zerlegebetriebe, die sämtlich im Arbeitsalltag mitnichten in der Lage sind, das Gebot des Social Distancing einzuhalten, nicht noch stärker als ohnehin von Massenkrankschreibungen getroffen werden, muss man wohl leider wesentlich im Umstand suchen, dass Menschen ohne deutschen Pass auf unterschiedlichen Ebenen dazu gezwungen sind, irgendeiner Erwerbsarbeit nachzugehen.
Unter anderem von Karl Heinz Roth und Marcel van der Linden haben wir gelernt, dass die Grenze zwischen freier und unfreier Lohnarbeit historisch als fließend betrachtet werden muss.45 Diese Einsicht könnte eine ungeahnte Aktualität gewinnen: Die Schutzgesetze der Bundesregierung enthalten die Ansage, dass eine Versorgung von Mangelbereichen mit Arbeitskräften im Notstand durch Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden müsse. Die Sichtbarmachung der ArbeitsHeld_innen könnte eine fast dystopische Wendung erhalten, indem die Erfahrung des Ausgesetztseins, des ökonomisch-juridischen Zwangs zur Lohnarbeit in Bereichen mit bislang als unakzeptabel geltenden Arbeitsbedingungen ebenfalls erweitert wird. Eine Ablehnung jeder Form des Arbeitszwangs und die Forderung nach sozialen Rechten für alle in der Bundesrepublik sich aufhaltenden Menschen ebenso wie nach einem allgemeinen Schutz vor Abschiebung stehen aktuell in einem vorher kaum sichtbaren Zusammenhang.
Arbeitskämpfe im Notstand
Hinter der Corona-Krise tritt nach und nach ein Notstand der Arbeitsgesellschaft hervor. Die Tendenzen, die sich abzeichnen, lassen sich derzeit noch schwerer als sonst in einigermaßen haltbare Prognosen verwandeln. Aber es lassen sich vielleicht einige Thesen ableiten, die aktuelle mit zukünftigen sozialen Kämpfen verbinden:
Eine erste These ist, dass die Aufwertung lebenswichtiger Bereiche eine Chance bietet, dort eine nachhaltige Verbesserung der Bedingungen einzufordern, die über den Notstand selbst hinaus trägt. Gegen eine Verallgemeinerung dieser Strategie spricht jedoch die Tatsache, dass nicht per se aufgewertet wird, sondern eher eine Sortierung stattfindet, die einige Tätigkeiten ins Rampenlicht stellt und andere abwertet. So oder so zeigt sich die Bedeutung von Sorgearbeit für die Analyse von Arbeitsverhältnissen insgesamt, einschließlich der unbezahlt geleisteten Familienarbeit.
Eine zweite These ist, dass die Krise bereits jetzt, und eventuell zukünftig noch deutlicher, Verbindungen zwischen Konflikten aufzeigt, die sonst eher verdeckt sind: Selbstorganisation, Nachbarschaftshilfe werden zu Teilen der „Fundamentalökonomie“, Prekarisierung ist nicht nur wie zu Bourdieus Zeiten virtuell „überall“,46 sondern wird wirklich verallgemeinert usw.
Dies heißt jedoch zugleich, dass politische und insbesondere auch gewerkschaftliche Initiativen, die auf eine Regulierung der Krise der Arbeitsgesellschaft setzen, indem sie sich lediglich auf den Arbeitsplatz beziehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Eine Erweiterung linker, kritischer Arbeitspolitik ist mehr als dringlich: Es erscheint immer weniger plausibel, Lohnersatzleistungen, Grundeinkommen, Migrationsverhältnisse, Geschlechterverhältnisse, Sozialleistungen, Mietverhältnisse nicht zu thematisieren, wenn es um eine Verbesserung von Arbeitsverhältnissen geht. Kämpfe um Arbeit werden zudem ohne einen Bezug auf Kämpfe im Stadtteil und in der Nachbarschaft den aktuellen Herausforderungen kaum gerecht werden. Und nicht zuletzt in diesem Rahmen wird der Bezug auf Selbstorganisation und Selbsthilfe wichtiger, und damit Felder, die von den skizzierten Ambivalenzen geprägt sind: zwischen Paternalismus und Universalismus, Vergemeinschaftung und Verallgemeinerung, Emanzipation und Volksgemeinschaft. Insofern geht es nicht nur um eine inhaltliche und sozialräumliche Erweiterung von Arbeitskämpfen, sondern auch um Positionierungen auf der „richtigen“ Seite innerhalb dieser Ambivalenzen.47
Dabei muss drittens mit dem multiplen Charakter der Krise gerechnet werden, die auch deshalb eine eigene, wenig berechenbare Dynamik erhält, weil sie eben nicht nur Ökonomie und Arbeit, sondern nahezu alle Lebensbereiche betrifft. Mit dem Bezug auf frühere Krisen tritt auch eine weitere bereits früher gemachte Erfahrung auf den Plan: Auch 2008/09 kam es zu einer kurzen Phase der Öffnung von Möglichkeiten, die vorher unerreichbar erschienen – Krise des Neoliberalismus, staatliche Nachfrageprogramme, bedingungslose Gewährung von Sozialeinkommen, Anerkennung von gesellschaftlich notwendiger Arbeit dort, wo vorher die eiserne Regel „Profit = Effizienz“ galt. In einer zweiten Phase wurde dann genau mit diesen Elementen, die Gewerkschaften und Sozialverbände schon 2010 in eine Art korporatistische Euphorie getrieben haben,48 „aufgeräumt“. Auch heute kann es keinerlei Illusionen darüber geben, dass irgendjemand in der derzeitigen Regierung plant, die solidarischen Aspekte staatlicher Krisenbewältigungsstrategien auf Dauer zu stellen oder gar zu einem politischen Prinzip zu machen. Ob dieses nach 2010 sichtbare Modell der Öffnung und anschließenden Verfestigung (oder sagen wir nicht besser sogar: „Rettung“) neoliberaler Politik sich in der Bundesrepublik wieder ähnlich gut geschmiert durchsetzt, ist allerdings auch vom Verlauf der CoronaKrise selbst abhängig: Es könnte durch ihre Intensität und zyklische Wiederholung modifiziert werden.
Wie dem auch sei, die Wahrscheinlichkeit, dass es auch in Deutschland verfrüht ist, dem Neoliberalismus das Totenglöckchen zu läuten, ist noch immer sehr hoch. Es mag sich vielmehr eine andere Tendenz durchsetzen, die wir anhand der Analysen zu den Klassenkämpfen in Frankreich in dieser Zeitschrift bereits thematisiert haben: Eher als eine bruchlose Durchsetzung von Rechtsentwicklung und Faschisierung erscheint aktuell eine Art europaweiter Macronismus am Horizont – nicht Höcke also, eher Söder. Oder Merz, ein harter Neoliberaler, der auch durch seinen Rassismus auffällt, aber, wie wir der Münsterländischen Zeitung entnehmen dürfen,49 Blut für die Uniklinik spendet. Einer, der ähnlich wie Macron exemplarisch für den sich verbreiternden Kult demokratiefreier Expertise steht, die durch die Regierung der großen, kleinen und ganz kleinen Krisenstäbe aktuell eine schreckliche Konjunktur erlebt. Für die sozialen Bewegungen würde eine solche Konstellation vor allem bedeuten, dass wir es mit einer neuen, harten Kompromisslosigkeit des „Durchregierens“ zu tun bekommen könnten.
Sieht man auch diesbezüglich Frankreich als Vorkrisen-Labor, dann würden grundlegende Projekte der Herrschenden, wie dort die Rentenreform, quasi mit geschlossenen Augen durchgesetzt. Sie würden im Zweifel auch gegen massivsten Protest von (nach der Ausgangsbeschränkung hoffentlich wieder sichtbaren) Massenbewegungen durchgesetzt. Diese Wendung würde zugleich bedeuten, dass kleine, reformistische Alltagsforderungen die Systemgrenzen zunehmend unmittelbar berühren würden. Keine Frage: Es besteht eine große Dringlichkeit, aktuell Kritik und Forderungen zu formulieren, wie das ja auch schon vielfach geschieht, auch Alltagssolidarität zu organisieren. Aber es besteht auch die ebenso dringliche Notwendigkeit, Räume zu schaffen, in denen die strategische Bedeutung der Krise für langfristige Orientierungen einer kritischen, emanzipatorischen Arbeits- und Klassenpolitik diskutiert werden können. Die skizzierten Fragen und Thesen bilden diesbezüglich nur einen kleinen Ausschnitt der großen Fragen ab, die zu besprechen sind.
Anmerkungen:
1 Dabei kann auf Debatten aus der vorliegenden Zeitschrift Bezug genommen werden. Der Krisenbegriff, der dort nach der Finanzkrise von 2008/09 vorgeschlagen wurde, orientiert sich (1) an der Analyse ihres „multiplen“ Charakters, (2) an einem historischen Zugriff, der sie als Teil einer ungleichzeitigen, aber verbundenen Entwicklung fasst, (3) an der Frage nach der Verbindung zwischen Krise und sozialen Kämpfen. Wir beziehen uns auf Aspekte dieses Projekts, das in seiner umfassenden Anlage aber hier nicht annähernd aufgenommen werden kann: Vgl. Peter Birke / Max Henninger (Hg.), Krisen Proteste, Beiträge in Sozial.Geschichte Online, Hamburg 2012.
2 Süddeutsche Zeitung, 23.3.2020, S. 13. Dem Kleingedruckten ist zu entnehmen, dass das entsprechende Gruppenbild „vor der Corona-Krise“ entstanden sei.
3 Foundational Economy Collective, Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Frankfurt am Main 2019.
4 Zu den Aktionen von Ultra- und anderen Fan-Gruppen in vielen bundesdeutschen Städten: [https://www.faszination-fankurve.de/index.php?head=Ultragruppen-mit-Spruchbaendern-an-Krankenhaeusern&folder=sites&site=news_detail&news_id=21600].
5 Am 27.3.2020 veröffentlichte ver.di eine Erklärung, in der ein Zuschlag von 500 Euro pro Monat für „existenziell notwendige Bereiche“ gefordert wurde, eine nachvollziehbare Forderung mit dennoch problematischen langfristigen Implikationen insofern, als sie a) mit der Notstandsituation argumentierend, grundlegende Verbesserungen nicht in den Blick nimmt und b) Löhne traditionell wie eine Kompensationsmaschine für Belastungen aller Art genommen werden, auch als Kompensation von Belastungen von lebensbedrohlichem Charakter (wie etwa die Exposition mit Giftstoffen, entgrenzte Arbeitszeiten usw.). Am 30.3.2020 wurde bekannt, dass die meisten Discounter solche Prämien bereits freiwillig zugestanden haben. Die selbstgerechten Kommentare aus der Branche sprechen Bände und verweisen im Grunde bereits auf die Zeit, in der die Superhelden sich wieder in normale Kassierer_innen verwandeln: So titelt ein Organ der Unternehmer, dass „die Schwarz-Gruppe den Mitarbeitern ein millionenschweres Dankeschön schenkt“: [https://www.lebensmittelzeitung.net/handel/Corona-Krise-Schwarz-Gruppe-schenkt-Mitarbeitern-einmillionenschweres-Dankeschoen-145488]. In der Pflege wurden zunächst einmalige Zuschläge von bis zu 1.500 Euro teils durch die Regierung, teils, wie in der Altenpflege, durch Vereinbarungen zwischen ver.di und Arbeitgeberverbänden eingeführt (Stand Anfang April 2020).
6 Zu diesem Begriff und seiner Herkunft aus der französischen Soziologie siehe bspw.: Jörg Flecker / Franz Schultheis / Berthold Vogel (Hg.), Im Dienste öffentlicher Güter. Metamorphosen der Arbeit aus der Sicht der Beschäftigten, Berlin 2014.
7 Nebenbei sei erwähnt, dass fast alles, was Amazon verteilt, und nicht nur die Waren, die das Unternehmen jetzt tatsächlich später verschickt, auch noch in ein paar Wochen eingetütet werden könnte. Zur Situation bei Amazon wäre aktuell eine eigene Untersuchung wichtig, vor allem über die Konflikte und Streiks in Frankreich, Spanien und den USA, die das Ziel einer sofortigen Schließung der DCs teils erfolgreich durchsetzten. Zur Situation in Deutschland siehe unter anderem Sören Götz, in: Die Zeit, 26.3.2020, [https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2020-03/coronavirus-amazon-covid-19-deutschland-mitarbeiter-desinfektionsmittel-streik].
8 Es ist schwierig, dieses Beispiel auf andere soziale Kämpfe zu übertragen, weil es zugleich als hervorgehoben und ungewöhnlich erscheinen mag. Deshalb hier nur als Merkposten: Auch wenn es eher marginal wahrgenommene Auseinandersetzungen sind, so ist doch ist auch die Forderung nach einer Auflösung von Lagern / Sammelunterkünften für Geflüchtete oder Obdachlose, inklusive der Forderung einer Öffnung von Hotels und leerstehenden Immobilien, geeignet, jene krasse Selbstverständlichkeit anzugreifen, mit der Güter wie Wohnungen / Immobilien privat bewirtschaftet werden und damit zur sozialen Polarisierung beitragen. Oder anders gesagt: Während der Krise wird nach einer konkreten gesellschaftliche Alternative verlangt, die angesichts der Katastrophe mitunter sogar kurzfristig eingelöst wird, jedoch absehbar nur, um in der Phase der Normalisierung Gegenstand des Rollbacks zu werden. Ob sich Einschränkungen der privaten Verfügungsgewalt über Eigentum durchsetzen können, hängt natürlich auch von der Dauer der Krise ab, die zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar ist.
9 In den vergangenen Jahren sind einige aufschlussreiche Studien zur Privatisierung von Gesundheits- und Altenpflege bei der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) durchgeführt worden. Vgl. diese Übersicht über die Resultate: [https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-zahlen-und-studienzum-pflegenotstand-und-wege-hinaus-17962.htm]. Zur Bedeutung der Pflege siehe auch die Thesen von Mike Davis in: [https://www.wildcat-www.de/aktuell/a113_monster.html].
10 Die Finanzierung der Krankenhäuser geschieht auf der Grundlage von Fallgruppen, den sog. „Diagnosis Related Groups“ , vgl. [https://www.krankenhaus-statt-fabrik.de/122].
11 Ebd. Das Ärzteblatt nennt das DRG-System ein „System ohne Ethik“, vgl. [https://www.aerzteblatt.de/archiv/131138/Abrechnung-von-Krankenhausleistungen-Ein-System-frei-von-Ethik]. Dass die Aushöhlung des Gesundheitswesens in den seit der letzten Krise 2008/09 noch intensiver von Austeritätspolitiken geprägten südeuropäischen Ländern sich in der Corona-Krise möglicherweise als noch tödlicher als normalerweise zeigt, sollte kein Grund für eine Verharmlosung des Umstands sein, dass auch schon in Vorkrisenzeiten in der Bundesrepublik intensivmedizinische Leistungen nur unzureichend finanziert wurden.
12 Michael Simon, Von der Unterbesetzung in der Krankenhauspflege zur bedarfsgerechten Personalausstattung, Düsseldorf 2018, [https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_096_2018.pdf].
13 Robert Pütz / Maria Kontos / Christa Larsen / Sigrid Rand / Minna-Kristiina Ruokonen-Engler, Betriebliche Integration von Pflegefachkräften aus dem Ausland, HBS, Nr. 416, Februar 2019, [https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_416.pdf].
14 Ebd.
15 Vgl. für eine Übersicht: Ingrid Artus / Peter Birke / Wolfgang Menz / Stefan Kerber-Clasen (Hg.), Sorge-Kämpfe. Auseinandersetzungen um die Arbeit in sozialen Dienstleistungen, Hamburg 2017, vgl. neuerdings die Textauswahl in der Zeitschrift Industrielle Beziehungen, Heft 4/2019, [https://shop.budrich-academic.de/produkt/industrielle-beziehungen-4-2019-industrielle-be – ziehungen-und-sorgearbeit/]. Am bekanntesten sind wahrscheinlich noch immer die Kämpfe um Personalausstattung in der Charité in Berlin.
16 Die zuständige Einzelgewerkschaft ver.di scheint diesbezüglich zumindest partiell in eine Art Lähmung verfallen zu sein. In der letzten Ausgabe der ver.di publik findet sich auf Seite 1 eine staatsmännische Erklärung des Vorsitzenden, in der er mit keinem Wort auf die strukturellen (Vorkrisen-)Probleme des Sektors eingeht und sich stattdessen auf das allfällige „Wir-sind-für-Euch-da“ beschränkt: „Es wird trotz des Pflegenotstands Großartiges geleistet“. Siehe hingegen neuerdings den offenen Brief zur Pandemie, den betriebliche Interessenvertreter_innen in Niedersachsen dort an das Land gerichtet haben: [https://nds-bremen.verdi.de/branchen-und-berufe/gesundheit-sozialedienste-wohlfahrt-und-kirchen/aktuelles/++co++57b87dec-7998-11ea-acd8-001a4a160110].
17 Nicht einmal alle in der Krise entscheidenden Tätigkeiten in Pflege und Versorgung werden in den Heldenstatus gehoben. Das gilt etwa für das Beispiel der Trucker*innen, die deutlich schlechter behandelt werden als die anderen „systemrelevanten“ Berufsgruppen: [https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Corona-Lkw-Fahrer-beklagen-mangelhafte-Versorgung,fernfahrer110.html].
18 Die Medien berichteten ausführlich, vgl. u. a. Tageszeitung, 28.3.2020, [https://taz.de/Haeusliche-Gewalt-in-der-Corona-Quarantaene/!5675012/]. Aber auch jenseits solcher Befürchtungen findet die Privatisierung von Betreuung und Beschulung unter den Bedingungen einer vergeschlechtlichten Teilung der Hausarbeit statt.
19 Einige linke Initiativen verbinden die Solidarität in der Corona-Krise mit politischen Forderungen nach sozialen Rechten und Ansprüchen für alle Menschen, die derzeit in Deutschland leben. Ein Beispiel ist „Wilhelmsburg Solidarisch“: [http://solidarisch.org/] in Hamburg, ein anderes die ALSO in Oldenburg: [https://www.also-zentrum.de/]. Zur Forderung nach dem „Nicht-Semester“ an den Universitäten, die ausdrücklich mit der sozialen Schieflage, die im sogenannten OnlineTeaching entsteht, begründet wird, siehe: [https://www.uni-goettingen-unbefristet.de/auch-wir-unterstuetzen-die-forderung-nach-einem-nicht-semester/].
20 Es wird mancherorts auch die Nachrangigkeit vieler sozialer Leistungen demonstriert. So sind Einrichtungen der Weiterbildung und/oder Volkshochschulen ebenso von der Existenz bedroht wie Träger der sozialen Arbeit, und der Rettungsschirm, der von der Bundesregierung für die betroffenen Einrichtungen im Konsens mit den Sozialverbänden gebastelt wurde, enthält offenbar – mit noch nicht abschließend auszumachenden Folgen – das Zugeständnis an den Staat, gegebenenfalls stärker in die Inhalte der Bildungs- und sozialen Einrichtungen eingreifen und zentral auf „überflüssige“ Arbeitskraft zugreifen zu können. Wir kommen zum Thema der Zwangsbewirtschaftung von Arbeitskraft unten zurück.
21 Tagesspiegel, 26.3.2020.
22 Vgl. den Bericht über freiwillige Hilfsangebote von Studierenden: [https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/Corona-Zahlreiche-Freiwillige-wollenhelfen,aktuellbraunschweig4176.html].
23 Vgl. [https://stellenangebot.monster.de/altenpfleger-m-w-d-helden-im-kampf-gegen-coronakiel-schleswig-holstein-de-pluss-personalmanagement-pinneberg-gmbh-nl-kiel/217104010].
24 Es soll hier keinesfalls nahegelegt werden, dass es in der Krise zu einer einseitigen Stärkung des Pflegeethos im Sinne einer „aufopfernden“ Haltung im Arbeitsbewusstsein des Pflegepersonals komme. Vielmehr, so wird hier argumentiert, wird das Pflegeethos nicht nur, aber auch von denjenigen angerufen, die nicht im entferntesten daran denken, den Worten auch Taten folgen zu lassen, wenn es um eine Rücknahme der Neoliberalisierung des Gesundheitswesens geht.
25 Sie darf zudem nicht rechten Aktivist_innen überlassen werden, die die Gelegenheit nutzen könnten, um eine volksgemeinschaftliche Stimmung zu fördern. Vgl. auch Anm. 19.
26 Heute ist auffällig, dass Solidarität mit Geflüchteten als Thema eher an den Rand und faktisch durch die katastrophale, und zudem angesichts der Aufenthaltsbeschränkungen für die meisten Antirassist_innen unerreichbare, Lage an den europäischen Außengrenzen verschoben ist. Andererseits bezieht sich ein Rest der Welcome-Bewegung aktuell unter anderem auf die Solidarität mit Menschen, die in miserablen Unterkünften die Corona-Krise überstehen müssen. Sehr schön zeigt diese Verbindung eine Aktion aus Göttingen, die nahezu ausschließlich im Zeichnen von Parolen mit Kreide im Stadtraum durch Einzelne bestand (außerdem wurden Demo-Teilnehmende durch Schuhe ersetzt). Die Polizei löste die „Nicht-Versammlung“ dennoch mit der fadenscheinigen Begründung auf, dass „Personen sich zu nahe gekommen“ seien, vgl. Göttinger Tageblatt, 6.4.2020, [https://www.goettinger-tageblatt.de/Die-Region/Goettingen/Goettinger-Polizei-loest-Demonstra – tion-auf].
27 Siehe hierzu Blauer Montag, Flüchtlingskrise und autoritäre Integration. Zu einigen Aspekten der Reorganisation staatlicher Kontrollpolitiken, in: Sozial.Geschichte Online 20, 2015, S. 175–195, [https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00043558]. Vgl. zur Welcome-Bewegung: Olaf Kleist / Serhat Karakayalı, EFA-Studie Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit (EFA) in Deutschland. Berlin 2015; Serhat Karakayalı, ‚Infra-Politik’ der Willkommensgesellschaft, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 30 (3), 2017, S. 16–24.
28 Sie beinhaltete zudem auch in ihrem Inneren unterschiedliche soziale Positionen und Ressourcen, die im linken Aktivismus aber seit vielen Jahren regelmäßig Anathema sind.
29 Vgl. hierzu u. a. [https://www.deutschlandfunkkultur.de/pflegekraefte-in-der-coronakrise-siebrauchen-mehr-als.2165.de.html?dram:article_id=473239], dort auch das Zitat.
30 Ausführlich siehe neben vielen anderen Christoph Butterwegge, Die zerissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Wiesbaden 2019.
31 Vgl. Heiner Dribbusch, Peter Birke, Gewerkschaften in Deutschland: Herausforderungen in Zeiten des Umbruchs, Berlin 2019, S. 19–26. Im Detail siehe die Berichte im Tarifarchiv des WSI: [https://www.wsi.de/de/tarifarchiv-15262.htm]. 32 Ebd.
33 IAB-Kurzbericht, 7/2020, [http://doku.iab.de/kurzber/2020/kb0720.pdf].
34 Ebd.
35 Vgl. zu den Maßnahmen des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung: [https:// www.tagesschau.de/inland/corona-regierung-101.html].
36 Zur Statistik der Kurzarbeit ausführlich siehe die Daten der Bundesagentur: [https://statistik.arbeitsagentur.de/Navigation/Statistik/Statistik-nach-Themen/LohnersatzleistungenSGBIII/Kurzarbeitergeld/Kurzarbeitergeld-Nav.html].
37 Eine sehr lesenswerte Analyse sowie kritische Würdigung der bisherigen Regelungen zum Kurzarbeitergeld unter „Corona“ bietet: Thorsten Schulten / Torsten Müller, Kurzarbeitergeld in der Corona-Krise, WSI-Policy-Paper, Düsseldorf 2020. Ergänzend sei hinzugefügt, dass zur Tendenz der Einkommenspolarisierung auch beiträgt, dass viele Betriebe, wie in der Krise 2008/09, Leiharbeit – mitunter leider ohne großen Widerstand von Gewerkschaften und Betriebsräten – als „Puffer“ benutzen.
38 Vgl. im Einzelnen die Erklärung der IG Metall Nordrhein-Westfalen zu ihrem Pilotabkommen: [https://www.igmetall.de/tarif/tarifrunden/metall-und-elektro/sicherheiten-fuer-beschaeftigte-inmetall-elektroindustrie].
39 Vgl. das FAQ der Agentur auf: [https://www.arbeitsagentur.de/corona-faq-grundsicherung].
40 Informationen zu den Gesetzesänderungen im Zuge des Corona-„Sozialschutzes“ finden sich hier: [https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/sozialschutzpaket.html].
41 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, FAQ zum Sozialdienstleister-Einsatzgesetz, SodEG, 30.3.2020.
42 Peter Birke / Felix Bluhm, Arbeitskräfte willkommen. Neue Migration zwischen Grenzregime und Erwerbsarbeit, in: Sozial.Geschichte Online, 25 (2019), S. 11–45, [https://duepublico2.unidue.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00070503/03_Birke_Bluhm_Ar – beitskraefte_willkommen.pdf].
43 Zu dem sogenannten Einreisekonzept siehe die interministerielle Erklärung auf: [https://www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/2020/062-corona-saisonarbeitskraefte-einreise-konzept.html].
44 Ebd.
45 Marcel van der Linden / Karl Heinz Roth, Karl Marx und das Problem der Sklavenarbeit, in: dies. (Hg.), Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, unter Mitarbeit von Max Henninger, Berlin / Hamburg 2009, S. 581–586.
46 Pierre Bourdieu, Prekarität ist überall, in: ders.: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz 1998, S. 96–102.
47 Vgl. zu diesem Problem die Debatte über die Situation in Frankreich in den Heften 25 und 26 dieser Zeitschrift.
48 Peter Birke, Widersprüche des Korporatismus: die Situation der Gewerkschaften und die aktuellen Arbeitskämpfe in Deutschland, Zentrum für Ökonomische und Soziologische Studien (ZÖSS), Hamburg 2011. 49 Münsterländische Zeitung, 28.3.2020.
Die Gruppe Blauer Montag ist ein Kollektiv aus Hamburg (und Umgebung), das sich kritischaktivistisch mit Fragen der Arbeits- und Sozialpolitik befasst. Dieser Text gibt unsere Diskussion in der Zeit der von der Bundesregierung nahegelegten Kontaktsperre bis zum 7. April 2020 wieder. Da sich die Zahl politischer Einschnitte zurzeit ähnlich exponentiell wie die Pandemie selbst entwickelt, könnten viele unserer Einschätzungen schnell überholt sein. Dennoch zeichnen sich aus unserer Sicht bereits jetzt Tendenzen ab, die diskutiert werden müssen. Wir danken der Redaktion der Sozial.Geschichte Online für wichtige Anmerkungen.
Quelle: https://sozialgeschichteonline.files.wordpress.com/2020/04/sgo_27_vorverc3b6ffentlichung_blauer_montag_krise.pdf und https://www.assoziation-a.de Bild: