In der BRD kommt demnächst, so der große Parteienkonsens, die Wehrpflicht wieder. Damit wird auch das Recht der Kriegsdienstverweigerung (KDV), das im Grundgesetz verankert ist, neue Bedeutsamkeit erlangen. Deshalb hier ein Blick auf dieses Grundrecht, das – scheinbar – eine weit gehende politische Oppositionsrolle einräumt.
Im Overton-Magazin erschien jüngst der Beitrag „Von der Kriegsdienstverweigerung zur Kriegstreiberei“ und fragte: „Wo sind sie hin, die Anhänger der Gewaltfreiheit im friedenspolitisch geläuterten Deutschland, all die Verweigerer, die es einmal gab?“ Ja, sag mir, wo die Typen sind, wo sind sie geblieben, könnte man mit Pete Seeger anstimmen. Die Antwort ist natürlich ganz einfach, sie sind an der Macht, saßen z.B. im Kabinett der Ampelregierung, wo es kaum jemanden gab, der gedient hat. Kanzler Scholz und Vizekanzler Habeck konnten es z.B. vor Jahrzehnten nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, auf Menschen zu schießen, und erinnern sich heute – irgendwie distanziert, auch belustigt – an ihre pazifistisch infizierte Jugendphase.
Habeck steht zu seiner Biographie, wie er dem Spiegel Ende 2024 mitteilte: Er „absolvierte einst den Zivildienst – und erinnert diesen als gute Zeit. Zwar sei er mit seiner damaligen Entscheidung im Reinen. Aber: ‚Ob ich das heute so tun würde in einer anderen Situation, das weiß ich nicht, beziehungsweise ich vermute, ich würde es nicht tun‘.“ Genial verlogen das Bekenntnis zur eigenen Geradlinigkeit, aber auch sachgerecht das Kokettieren mit der Gewissensentscheidung, von der man nur mutmaßen kann, wie sie in der konkreten Situation ausfällt.
Das passt zum KDV-Recht. Hier ist ja eine innere Stimme verlangt, die man sich als Instanz im Menschen denken muss. „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ So das Grundgesetz. Nicht die Vernunft, der Widerwille gegen das Töten wildfremder Leute oder gar die eigene Bequemlichkeit, die von Aufenthalten in Schützengräben lieber Abstand nimmt, dürfen hier geltend gemacht werden. Ein „ich will das nicht“ hat hier keine Berechtigung, auch dann nicht, wenn ein „weil…“ folgt. Die Stimme des Gewissens ist gefragt und dieser innere Vorgang muss in der glaubwürdigen Inszenierung einer sittlichen Persönlichkeit dem Prüfungsausschuss präsentiert und von dort abgesegnet werden.
Pazifismus aus nationaler Verantwortung
Damit ist das ganze KDV-Wesen – wie immer demnächst das Bundesgesetz das „Nähere“ regeln wird, ob per vereinfachtem Antragsverfahren mit schriftlicher Begründung oder aufwändiger mit dreistufigem Prüfungsausschuss etc. – auf eine individualisierende, irrationale Schiene gesetzt, die jedenfalls einen oppositionellen Geist gegen staatliche Indienstnahme unterbinden will. Dass die Friedensbewegten und Verweigerer von gestern die Kriegstreiber von heute sind, kann man trotzdem als Widerspruch festhalten. „Nur ein Ampelminister hat Wehrdienst geleistet“, vermeldet bei Gelegenheit immer noch erstaunt die Presse, sogar „Finanzminister Christian Lindner (FDP) leistete Zivildienst.“
Wer sich darüber wundert, hat allerdings zwei Dinge übersehen. Erstens die Vorgeschichte des neuen deutschen Militarismus und zweitens den systematischen Grund, der politisch denkende Menschen zu diesem eigenartigen Übergang – von der Verweigerung militärischer Notwendigkeiten zum glatten Gegenteil – bewegt. Der Overton-Beitrag hat dies im Blick auf die grundsätzlichen Triebkräfte, nämlich den Nationalismus der damaligen Friedensbewegung und den staatstreu eingefärbten Pazifismus, zu erklären versucht. Dazu hier einige Nachträge.
Der erste Punkt dürfte den heutigen Resten der Friedensbewegung kein Geheimnis sein, haben sie doch in den 90er Jahren hautnah erlebt, wie sich realpolitisch bzw. verantwortungsvoll denkende Weggefährten in den Mainstream bzw. in neue Politkarrieren verabschiedeten. Es war ja gerade der grüne Anspruch auf „robuste“ Durchsetzung von Menschenrechten, der neue „Bellizismus“ von Gutmenschen, der nach der Wende im Osten die Weichen hin auf Kriegsbeteiligung stellte und der schließlich im Bündnis mit der Sozialdemokratie 1999 – in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, wie Kanzler Schröder später einräumte – Serbien zur Räson brachte. Eine Analyse in Sachen „konsequente Karriere von Kriegsgegnern zu gewissenhaften Militaristen“ kann man übrigens im Gegenstandpunkt nachlesen. Der Text, der bereits Anfang 1996 erschien, also lange bevor unter Rotgrün die Entscheidung in Sachen Kosovokrieg fiel, legt auch im Einzelnen den antikritischen Geist des staatlich konzessionierten Pazifismus dar.
Dessen zentraler Fehler besteht in der Bereitschaft, sich der Instanz, die mit Krieg und Frieden als Optionen ihrer Selbstbehauptung wie auswärtigen Durchsetzung kalkuliert, als dienstbereites Individuum zu unterstellen, das nur an einer Stelle, quasi aufgrund eines persönlichen Defekts, beim loyalen Mitmachen behindert ist. „Die Tatsache des Krieges entdeckt der Pazifist, die Frage nach dem Grund des Krieges ist für ihn irrelevant. Er verurteilt den Krieg, nicht aber die Politik, die die Kriegsgründe schafft und für die Durchsetzung ihrer Vorhaben bisweilen zu dieser letzten Konsequenz schreitet. Dabei ließe sich dem politischen Getriebe in der Zeit zwischen den Kriegen durchaus einiges über deren Gründe entnehmen…“ (GS,1/2, 1996)
Wie gesagt, das ist eine Analyse, die sich auf die Entwicklung bis 1995 bezog, als die Großtaten des grünen Bellizismus noch gar nicht stattgefunden hatten. Außerdem wäre daran zu erinnern, dass die Marxistische Gruppe, der Vorläufer des Gegenstandpunkt, mit ihrer Kritik am Nationalismus der Friedensbewegung bei den einschlägigen Demos der 80er von Anfang an vertreten war, sogar selber eine Großdemo in Bonn veranstaltete; dass diese Kritik also in der Republik öffentlich präsent war, von den friedensbewegten Aktivisten jedoch entschieden zurückgewiesen wurde, da die Herstellung eines „breitesten Bündnisses“ Priorität habe. Die nationale Borniertheit der damaligen Friedensbewegung war aber auch Thema an anderer Stelle, etwa beim März-Verleger Jörg Schröder, der später mit der Rubrik „Schröder erzählt“ sein erzählerisches Talent unter Beweis stellte.
Schröder konnte wirklich viel erzählen, wenn der Tag lang wurde, und seine Oral History „COSMIC“, die er zusammen mit dem Journalisten Uwe Nettelbeck verfertigte, wartete mit der steilen These auf, er, Schröder, sei der Erfinder der westdeutschen Friedensbewegung gewesen. Denn er habe das Schreckensszenario „Atom-Rampe Deutschland“, so der reißerische Stern-Titel von 1981, in die Welt gesetzt und damit den Startschuss für die öffentliche Aufregung gegeben. Was er in der Tat belegen kann ist ein allgemeines Totschweigen der konkreten Atomkriegsgefahr, das Ende der 70er Jahre in der westdeutschen Öffentlichkeit vorherrschte. Qualitätsmedien wie Spiegel, FR, FAZ wollten von Atomwaffen, die bereits auf deutschem Boden lagerten und das atomare Risiko für Deutschland auch ohne die neuen Pershings und Cruise Missiles der Nachrüstung erhöhten, nichts wissen (vgl. Jörg Schröder/Uwe Nettelbeck, COSMIC, in: Die Republik, Nr. 55-60, 3. Juni 1982).
Der März-Verlag teilt resümierend über den „Politskandal“ von 1980 mit: „Schröder entdeckt die Depots von Mininukes entlang der Zonengrenze, welche in sogenannten ‚Wasserwerken‘ lagern, erzählt davon in ‚Transatlantik‘ und der ‚taz‘. Verfassungsschutz und CIA reagieren panisch, der ‚Stern‘ steigt ein mit ‚Atomrampe Deutschland‘, Beginn der neuen Friedensbewegung.“ Der nationalistische Geist der Bewegung wird bei Schröder deutlich, wenn auch eher in gehässigen Bemerkungen über einzelne Aktivisten und über den provinziellen Geist dieses Heimatschutzes, Entwicklungen zum Ökofaschismus inbegriffen: „es muß dieser ganze Müslimuff und Moralmuff und Bewegungsmuff sich nicht unbedingt wie schon einmal gehabt transformieren, aber weiß der Teufel, aus welchem Ei es kriechen wird“.
Wir verweigern uns!
Man wird in der BRD jetzt natürlich abwarten müssen, wie die Neufassung oder Wiederinkraftsetzung der Wehrpflicht im Einzelnen aussieht und welche Neuerungen (Einbeziehung des weiblichen Nachwuchses, Einführung eines allgemeinen Dienstjahres…) sich eventuell ergeben. Die Abschaffung des KDV-Rechts ist dabei kaum zu erwarten. Wenn es bei der bisherigen gesetzlichen Regelung bleibt, unterstützt es ja auch die Herstellung einer individualistischen Haltung, die nicht zu Opposition anregt. Und das mehrstufige Prüfverfahren ist so angelegt, dass auf dem Verwaltungswege die Anerkennungskriterien ohne großen Aufwand verschärft werden können. Die Ausschussmitglieder prüfen ja eine innere Einstellung und haben daher ziemliche Freiheiten, um sich vom persönlichen Auftreten des Prüflings und seiner moralischen Inszenierung beeindruckt zu zeigen oder auch nicht.
Der Bundeskongress der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG/VK) kam Ende 2024 unter dem Motto „Kriegsdienstverweigerung ist Menschenrecht! Weltweit!“ in Halle zu ihrem letzten Kongress zusammen, um über die gegenwärtigen Kriege und eine mögliche Reaktivierung der Wehrpflicht zu diskutieren. „Mit der Debatte über die von Pistorius im Juni vorgestellten Pläne für einen sogenannten Neuen Wehrdienst rückt auch hierzulande das Thema Verweigerung wieder auf die Tagesordnung“, resümiert das Neue Deutschland die Einschätzung der Kongressteilnehmer. Der DFG-Geschäftsführer erklärte dazu: „Wir bieten schon wieder Beratung an und wir bekommen auch Anfragen“. „Wehrpflicht ohne mich“ lautet denn auch das Motto einer Kampagne, die die Friedensorganisation „in der nächsten Zeit“ durchführen will.
Natürlich kann man Kriegsdienstverweigerung als Möglichkeit zum antimilitaristischen Einspruch nehmen, d.h. das KDV-Recht tendenziell missbrauchen. Es gab ja sogar eine Zeit, als Kriegsdienstverweigerung, die von Anfang an mit gewissen bürokratischen Hürden versehen war, eine Verbindung mit einer Protestbewegung einging. In den zehn Jahren nach der Wiederbewaffnung führte sie zunächst ein Schattendasein und stieg erst danach, im Zuge der Unruhen von APO und antiautoritärer Revolte, zu einer Massenbewegung auf. Sich „dem System“ zu verweigern, wurde zum Programm einer lautstarken und tonangebenden Minderheit, die nach dem Urteil der Jugendforschung damals das Profil der „protestierenden Generation“ bestimmte.
Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt haben zuletzt in ihrem Videopodcast „Wir diskutieren über Herbert Marcuse!“ (2024) an diese Zeit erinnert. Sie beschäftigen sich mit Marcuses „Versuch über die Befreiung“ (Frankfurt/Main 1969), in dem sich der Kritische Theoretiker aus dem Kreis um Adorno und Horkheimer mit dem herrschenden „korporativen Kapitalismus“ auseinandersetzte und mit dem damaligen Protestpotenzial – mit Studentenbewegung, Bürgerrechtsprotesten, antiautoritärer Rebellion in den Metropolen, mit Revolten oder Aufständen im globalen Süden. All das müsste man miteinander verbinden, Chancen dazu gebe es. „Die Große Weigerung nimmt verschiedene Formen an“, hieß es eingangs in Marcuses Statement (Marcuse 1969, 9). Der Widerstand beschränke sich nicht auf die Front gegen die Kapital-Interessen, sondern ziele auch darauf, „Frieden zu verwirklichen“, denn die „jungen Rebellen wissen oder fühlen, daß es dabei um ihr Leben geht, um das von Menschen, das zum Spielball in den Händen von Politikern, Managern und Generälen wurde.“
Das Duo Nymoen/Schmitt, das den Podcast Wohlstand für alle betreibt, diskutiert Marcuses Hauptthese, die „korporativ“ ins System integrierte Arbeiterbewegung müsse durch weitere Protestbewegungen wiederbelebt, verstärkt und erweitert werden – aber ohne dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit aus dem Blickfeld gerate und ohne dass ein Abgleiten in reformistische, kultur- oder konsumkritische Verbesserungsprogramme stattfinde. Marcuses Vorschläge erweisen sich, so könnte man das Fazit der Diskussion ziehen, als wenig hilfreich; im Grunde werde ein Wunschtraum ausgebreitet, der gleichzeitig wieder mit „realistischen“ Argumenten ein Dementi erfahre.
Am Schluss bleibt vielleicht als wichtigster Punkt aus Marcuses Überlegungen die Warnung, nicht im Vertrauen aufs Völker- oder Menschenrecht der Staatsautorität entgegenzutreten – so als könnte man sie auf die Einhaltung höherer Normen verpflichten. Wenn die DFG Kriegsdienstverweigerung zum Menschenrecht – „Weltweit!“ – erklärt, dann ist das eben auch nur ein Wunschtraum. Die UN-Charta der Menschenrechte kennt kein spezifisches Recht auf Kriegsdienstverweigerung, das weiß auch die heutige Protestbewegung. Wenn es wirklich zu einer Großen Weigerung kommen soll, dann bedarf es des Oppositionsgeistes und nicht der Vertrauensbildung in die dem Volk gewährten Grundrechte.
Bild: Symbolbild