Von TikTok bis Darknet: Warum das Internet für unsere Kinder so gefährlich ist

Mediale Bildung ist bei einer modernen Erziehung dringend geboten. Doch viele Eltern sind dahingehend total überfordert. 

Von Andres Männer

Erziehung legt das Fundament unserer Gesellschaft. Eltern geben Wissen, Lebensweisheiten und Risiken an ihre Kinder weiter, auf dessen Basis Heranwachsende dann in einem sicheren Rahmen neue Erfahrungen machen, neue Regeln schreiben und zur Innovation der Gesellschaft beitragen können.

So funktioniert das seit Jahrtausenden. Jedoch scheint sich dieses Konzept in der sich schnell ändernden digitalen Welt geändert zu haben. Im Informationszeitalter wirkt der Generationenkonflikt größer denn je. Dies ist nicht nur schädlich für unsere Jugend, sondern birgt das Potenzial, die Zukunft unserer Gesellschaft nachhaltig zu verändern.

Es ist kaum erforscht, wie sich intensiver Medienkonsum auf die Psyche von vorpubertären Jugendlichen auswirkt.

Wie das Ärzteblatt im Jahr 2018 berichtete, gehört Deutschland in Europa zu den Ländern mit der höchsten Rate an selbstverletzendem Verhalten bei Jugendlichen. Zwischen den Jahren 2009 und 2019 stieg die Zahl Jugendlicher in psychotherapeutischer Behandlung um 104 Prozent. Gibt es da einen Zusammenhang zur Mediennutzung?

Laut Statista gaben im Jahr 2017 knapp 80 Prozent der Befragten dauerhafte Erreichbarkeit und Informationsflut als Ursache für Depressionen an. Es ist also denkbar, dass sich diese Zahlen durch den Onlinezwang für Homeschooling während der Pandemie in den letzten Jahren noch einmal verschärft haben.

Doch wie stehen Social-Media-Unternehmen zu derartigen Studien? Im Jahr 2021 berichtete das Wall Street Journal über eine durch Facebook durchgeführte Studie, welche bestätigte, dass Instagram für die jugendliche Psyche schädlich sei. Meta (früher Facebook) wehrte sich medienwirksam gegen diesen Artikel und nannte die Studie ein Missverständnis.

Die Debatten sind nur Augenwischerei

Ebenfalls im Jahr 2021 hat der britische Entwickler Louis Barclay eigenverantwortlich ein Hilfstool geschrieben, um den Aufwand zum „entfolgen“ aller Newsfeeds bei Instagram zu reduzieren. Die Universität Neuchâtel (Schweiz) bekundete Interesse, dieses Tool für eine Studie zu verwenden, um zu erforschen, ob sich dadurch die allgemeine Zufriedenheit der Nutzer verbessern könnte. Wer jetzt meint, Facebook würde Studien unterstützen, welche den Einfluss seiner Dienste auf die Gesundheit seiner Nutzer erforschte, der irrt. Facebook ging rechtlich gegen den Entwickler vor, gab ihm lebenslanges Verbot für die Verwendung der Meta-Produkte und unterband somit auch die Durchführung der geplanten Studie.

Dieses Beispiel zeigt, dass blindes Vertrauen auf die Sicherheit von sozialen Medien nicht angebracht ist. Das Vertrauen auf einen durchsetzbaren Jugendschutz im Internet ist ein Trugschluss, welcher nicht zuletzt durch politische Debatten zur Regulierung von Hassreden und Fakenews, sowie den scheinbaren Druck auf einzelne Dienstanbieter wie Telegram ausgelöst wird.

Diese Debatten sind aus meiner Sicht Augenwischerei, denn die Architektur des Internets ist nicht für eine zentralistische Kontrolle von Inhalten ausgelegt. Diskussionen darüber, wie zum Beispiel Telegram reguliert werden könnte, führen bei Eltern zu der Idee, dass ein Verbot der Telegram-App für den Schutz ihrer Kinder ausreichend ist. Doch dieser Ansatz ist bei Weitem zu kurz gedacht, denn das grundlegende Problem ist viel fundamentaler, wodurch der politische und mediale Angriff auf spezifische Unternehmen auf Grundlage fehlenden Jugendschutzes entweder auf technischem Unverständnis, oder aber auf anderen, nicht offen kommunizierten Gründen basieren muss.

Das Problem liegt also eher in der Natur des Menschen als in den Angeboten der Unternehmen. Denn egal, ob es sich um Telegram, X, Facebook, TikTok oder gar das Darknet handelt – das Internet und allen voran die sozialen Netzwerke ermöglichen einen Zugriff auf globale Informationen in Echtzeit und entmachten somit die etablierten Leitmedien genauso wie regionale Regularien. Warum eine Zeitung über den Krieg lesen, wenn ich diesen im Livestream von Handykameras vor Ort mit verfolgen kann? Welcher Information schenke ich Glauben, wenn sich diese beiden Quellen widersprechen?

Das erzieherische Weltbild gerät ins Wanken

Wenn sich beispielsweise ein 13-jähriges Mädchen während eines Computerspieles darüber beschwert, dass Discord nun vermehrt gegen pornografische Inhalte vorgeht und entsprechende Gruppen löscht, da sie durch den Erlös aus Nacktbildern bisher ihre Familie finanziell unterstützt hat, so wirft dies einige schockierende Fragen auf und bringt das erzieherische Weltbild ins Wanken. Ganz nebenbei zeigt dann ein 12-jähriger Junge, wie einfach er im Darknet an verbotene Inhalte kommt. Die Anleitung dazu gab es leicht verständlich auf YouTube.

Doch wir müssen gar nicht so tief in die dunklen Bereiche des Internets vordringen. Über den Livestream, in welchem sich Ronnie M. mit einer Schrotflinte in den Kopf schoss, berichteten damals mehrere Medien. Viele Jugendliche und sogar Kinder bekamen damals diesen schockierenden Clip über diverse Kanäle unbeabsichtigt zu sehen. Zur medialen Erlebenswelt von Jugendlichen gehört also teilweise direkte Konfrontation mit schockierender Gewalt, Sexualität und emotionaler Belastung. Die Beispiele dafür sind schier endlos – über die „Blue whale challenge“, die Kettenbriefe, welche mit dem Tod der Mutter drohen oder Sexszenen in Videochat-Programmen wie Chatroulette oder Omegle.

Ich denke, das genügt, um zu begreifen, welche Einblicke sich unseren Kindern eröffnen, wenn wir ihnen unregulierten Zugriff auf das Internet gewähren. Es zeigt auch, dass ein Jugendlicher mit Headset auf dem Kopf ganz andere Einblicke in die Probleme dieser Welt hat, als es die vermeintlich aufgeklärten Eltern haben. Der Generationskonflikt könnte nicht größer sein. Doch wie kann Erziehung funktionieren, wenn die Generationen in verschiedenen Welten aufwachsen?

Wo in der realen Welt eine Warnung vor heißen Herdplatten genügt, wissen Eltern oft nicht, wovor sie im Internet warnen sollen – oder wie das Risiko für Kinder greifbar gemacht werden soll. Anders als beim Fernsehen sind im Internet Jugendschutz durch Inhaltsfilter und Altersbeschränkungen nahezu nicht existent. Viele Dinge, welche Jugendliche nicht einmal als erwähnenswert empfinden, da sie für sie zur Normalität gehören, wären für Eltern durchaus erschreckend. So sehen sich Kinder schon sehr früh mit Hardcore-Pornografie, Spielsucht und Konsumdrang konfrontiert – um nur einige Risiken zu nennen.

Mediale Bildung muss in den Fokus geraten

Aus bereits genannten Gründen zu fehlenden global wirksamen Gesetzen bleibt als einziger Schutzwall der Kinder das Elternhaus – was gute Eltern zur Aneignung medialer Kompetenz zwingt. Wichtig ist die Erkenntnis, dass sich der Wissenstausch umgekehrt hat. Wo früher Eltern Wissen an die Kinder vermittelt haben, haben jetzt die Kinder meist mehr technisches Verständnis als die Eltern. Daher ist es umso wichtiger, das Gefahrenpotenzial weitestgehend unabhängig von der Technik zu betrachten und in die Erziehung aufzunehmen.

Erziehung heißt heutzutage, von der Geschichte mit den Bienchen und Blümchen abzurücken und das große, komplexe und ungefilterte Gefahrenpotenzial einer vernetzten Welt in die Aufklärung mit aufzunehmen. Eltern bleibt leider meist nur diese Aufklärung, um ihre Kinder zu sensibilisieren. Durch ein offenes Ohr für die Probleme der Kinder und vor allem eine aufmerksame Beobachtung der Aktivitäten ihrer Kinder im Internet sind die Eltern letztendlich selbst verantwortlich, den Jugendschutz auch medial aufrechtzuerhalten.

Wie kann das funktionieren? Aus meiner Sicht gibt es zwei wesentliche Grundlagen für moderne Erziehung.

Erstens: Eltern müssen mehr denn je dafür sorgen, dass der Generationenkonflikt nicht zur Spaltung führt. Sie müssen das Vertrauen ihrer Kinder genießen, sodass diese offen mit Problemen oder verstörenden Erlebnissen auf sie zukommen können, ohne unverhältnismäßige Reaktionen ihrer Eltern befürchten zu müssen. Dies kann nicht von oben herab geschehen, auch wenn Interessen und Wertvorstellungen in medialen Communitys kaum mit konservativen Werten vereinbar sind, so sind sie doch nicht mehr wegzudenken und müssen als die Erlebenswelt der Jugend akzeptiert werden.

Zweitens: Mediale Bildung muss in Deutschland dringend in den Fokus geraten. Dazu gehört vor allem das erneute Erlernen des Hinterfragens. Mediale Selbstverteidigung besteht nicht aus Verschlüsselung oder dem Meiden bestimmter Programme. Es hat sich in den letzten Jahren eine Art Schubladendenken entwickelt, in welcher komplexe Systeme in Gut-Böse-Kisten verpackt, und fremde Gedanken wie ansteckende Krankheiten behandelt werden. Doch genauso wie unser Immunsystem, welches mit Keimen und Viren trainiert werden muss, um funktionieren zu können, so müssen wir auch unseren Geist trainieren. Wir sollten daher gezielt die Komfortzone verlassen und in die Richtungen schauen, welche uns unbehaglich erscheint und versuchen, diese zu verstehen, um sie anschließend für uns ablehnen zu können.

Diese Übung hilft nicht nur bei der Erziehung

Diese Übung hilft nicht nur bei der Erziehung. Sie ist fundamental wichtig, um eine funktionierende Demokratie zu bewahren, denn dozierte und normierte Meinungen entsprechen dem Versuch der Wahlmanipulation. Daher sollte in Schulen und im Elternhaus frühestmöglich mit dem Üben des Denkens begonnen werden. Das Erkennen von Trollen und Manipulationsversuchen, Unterscheidung von objektiven und subjektiven Berichten und die Filterung von relevanten und irrelevanten Informationen sind nur einige Ansätze.

„Zweifel ist kein angenehmer Zustand, Gewissheit jedoch absurd“ (Voltaire – französischer Philosoph).

Voltaire trug dazu bei, das Denken von der Kirche zu befreien. Meiner Meinung nach ist es für die Jugend wichtig, das Denken von den Medien zu befreien. Wenn wir vergessen zu hinterfragen, verliert unsere Meinung an Bedeutung.

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Der Autor:

Andres Männer ist Digitalisierungsexperte und Autor des Buches „Apps Fakes & Nudes“, erschienen im Milizke Schulbuchverlag. Er arbeitet als Softwarearchitekt in der Forschung und Entwicklung.

 

 

 

 

 

Quelle: https://www.berliner-zeitung.de

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