Was wird aus Sozialstaat und Arbeit?

Claus Offe ist einer der bekanntesten deutschen Soziologen und Politikwissenschaftler. Seine Studien zu Strukturproblemen im Spätkapitalismus sowie seine jüngeren Interventionen zur europäischen Politik waren und sind maßgebend für kritische Gesellschaftsforschung und linke Politik. Maya Razmadze hat mit ihm über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft gesprochen.

Maya Razmadze: Einer der bekannten Definitionsversuche von „Arbeit“ geht auf die Philosophin Hannah Arendt zurück. Sie verdeutlichte, dass die Neuzeit damit begann, die Arbeit als menschliche Grundtätigkeit aufzuwerten, jedoch führte diese Aufwertung im vergangenen Jahrhundert dazu, dass sich die Gesellschaft im Ganzen in eine „Arbeitsgesellschaft“ und die „Arbeit“ in verschränkte Erwerbsarbeit verwandelt haben. Sie haben in ihren früheren Arbeiten von einem „arbeitszentrierten Gesellschaftsmodell“ gesprochen. Welche Aspekte umfasst die Arbeit in unserer Gesellschaft und wodurch zeichnet sich die arbeitszentrierte Gesellschaft aus?

Prof. Claus Offe: Eine gute, verträgliche Beziehung bedeutet, dass sie formell freiwillig eingegangen wird und nicht etwa in feudalen Abhängigkeitsverhältnissen, in die man hineingeboren wird, stattfindet. Wobei die schwächere Seite gar nicht die Option hat, solche Verträge nicht einzugehen. Ein Vertrag ist, technisch gesprochen, eine übereinstimmende Willenserklärung. Das zweite Merkmal ist, sobald der Wille nicht mehr vorhanden ist, kann der Vertrag gekündigt werden. Dann kommt es zur Beendigung des Vertrages. Wenn man all das auf der Makroebene zusammenzieht, sieht man, dass die Arbeitslosigkeit das Resultat entweder der nicht zustande gekommenen Verträge oder aufgekündigten Verträge ist.

Was für mich interessant ist und was bei Karl Marx deutlich herauskommt, ist, dass dieser formell freie Vertrag auf einer Machtbeziehung beruht. Eine Machtbeziehung ist eine Beziehung, in der die eine Seite von der anderen stärker abhängig ist, als die andere. Im Gegensatz zu der Freiheit des Vertragsabschlusses kommt hier eine asymmetrische Abhängigkeit als Tatsache zur Geltung.

Eine Besonderheit des Arbeitsvertrages ist darüber hinaus, dass bei Arbeitsverträgen ein Doppeleigentum besteht: Der Käufer der Arbeitskraft hat einen Anspruch darauf, aus der Arbeit als nützliche Tätigkeit den Nutzen zu ziehen. Andererseits gehört die Arbeitskraft dem Arbeiter, der seine intellektuellen und körperlichen Fähigkeiten einbringen muss. Der Arbeiter muss nicht nur arbeiten müssen, sondern auch arbeiten wollen. Wenn er dies nicht will, dann muss er sanktioniert werden, d. h., es besteht ein innerbetriebliches Herrschaftsverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Dies kommt durch das Anordnungsverhältnis, oder anders gesagt, durch Direktionsrecht zum Ausdruck. Es gibt ein Machtverhältnis auf dem Arbeitsmarkt und ein Machtverhältnis in der Arbeitsorganisation. Deshalb spreche ich von einer doppelten Machtbeziehung: Einmal sagt der Boss den Arbeitnehmern, was heute getan werden muss. Das, was getan werden muss, weiß der Boss vorher nicht, sondern die Auftragslage bestimmt das. Außerdem gibt es einen Kontrahierungszwang (gesetzliche Verpflichtung zum Abschluss eines Vertrages). Das ist die Ausgangssituation.

Die politische Situation ist die, dass von beiden Seiten, sowohl von der Arbeitgeberseite, als auch von der Gewerkschaftsseite im Kollektiv der Arbeitskraftanbieter versucht wird, dieses Machtverhältnis einzuebnen. Von den Gewerkschaften wird versucht, diese Einebnung oder Entmächtigung der schwächeren Seite rückgängig zu machen und zu modifizieren. Das ist ein ständiges Mikro- und Makro-Tauziehen, unter Einsatz der Ressourcen, des kollektiven Handelns und des Appells an Normen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit und so weiter.

Die Dynamik des Klassenkonflikts kann auf diese Weise verständlich gemacht werden. Das ist auch nicht nur bei Marx, sondern auch bei Max Webers „Berufsmenschentum“ zum Ausdruck gekommen. Der Berufsmensch muss die Pflichten des Arbeitsvertrags gewissenhaft erfüllen. Dabei kommt es zu einer vollkommenen „Fellachisierung“ des Geistes – nach Max Weber – eine geistlose und sinnlose Routine des Vollzugs der Arbeitsaufgaben, eine vollkommene Sinnentleerung. Das erinnert an Adam Smiths Stecknadelbeispiel – die vollkommene Sinnentleerung des Berufsmenschentums, der eben funktionieren muss und keine Alternative dazu hat. Da liegt die Weber’sche Formulierung der Marx’schen durchaus nahe.

Maya Razmadze:  Sie haben die Sinnentleerung des Berufsmenschen beschrieben, aber wie erklären wir diese ungebrochene Zentralität der Erwerbsarbeit und beharrliche Fixierung auf das Erwerbsarbeitsverhältnis?

Prof. Claus Offe: Das ist natürlich auch eine Quelle der Disziplinierung. Alle Gewinner aus diesem Verhältnis, wie alle Gewinner überall, sind darauf bedacht, dieses Verhältnis aufrechtzuerhalten und als einzig Mögliches zu etablieren. Wer im fortgeschrittenen Kapitalismus, in dem das alles stattfindet, die Erwerbsarbeit nicht bringt oder an Erwerbsarbeit nicht beteiligt ist, ist minderwertig, und zwar im wörtlichen Sinne. Er kann sich nicht leisten, an der gesellschaftlichen Produktion in gleichem Maße teilzuhaben. Wer in diesem Sinne keine Arbeit hat, befindet sich in einer Abhängigkeitsbeziehung und strebt danach, diese Abhängigkeitsbeziehung vom Ehegatten oder von anderen Mitgliedern der Familie aufzuheben, indem man in ein Erwerbsarbeitsverhältnis eintritt. Familienarbeit, Schularbeit, Kinderarbeit und so weiter ist auch Arbeit, aber eben nicht Erwerbsarbeit. Diese Tätigkeiten werden nicht bezahlt und führen nicht zu Geldeinkommen. Die Nobilisierung, also der Veredelung der Erwerbsarbeit ist ein durchgängiger kultureller Zug unserer Gesellschaft.

Diese Festlegung auf Erwerbsarbeit wäre gut, richtig und akzeptabel, wenn wirklich jeder und jede zu jeder Zeit und mit einer gewissen Verlässlichkeit und Sicherheit die Chance hätte, eine solche Erwerbsarbeit tatsächlich zu erwerben, darin tätig zu werden bzw. die Rolle des Arbeitnehmers zu übernehmen. Das ist aber nicht der Fall, weil aus konjunkturellen und sekundären Gründen immer mehr ungewiss wird, dass man gegen Geld arbeiten kann. Es hängt von Umständen ab, die der Arbeitnehmer selbst nicht zuverlässig kontrollieren kann. Selbst, wenn der potenzielle Arbeitnehmer alles tut, um die Arbeitskraft zu qualifizieren und damit für potenzielle Vertragspartner attraktiver zu machen, werden alle anderen das auch tun. Dann gilt der schöne Spruch, der immer zitiert wird „Wenn alle den Zehnspitzen stehen, kann keiner besser sehen“.

Es gibt drei Konkurrenzbeziehungen, nämlich die Konkurrenzbeziehung unter Arbeitnehmern, die besser werden wollen, das kann man zum Teil dadurch austarieren, indem man kollektive Tarife macht. Dann gibt es auch eine Konkurrenzbeziehung zwischen Arbeitgebern, die sozusagen bessere Arbeiter anwerben wollen. Dann gibt es eben diese Wettbewerbsbeziehung zwischen Kapital und Arbeit. Das heißt, was für eine Seite Gewinn und Sicherheit ist, ist für die andere Seite ein Verlust der Gewinnchancen. Dies hat niemand besser dargestellt als Max Weber. Es ist zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit geworden, dass voll funktionierende Menschen Berufsmenschen sind, die lebenslänglich und ohne Alternative eine Berufstätigkeit ausüben – eine Berufstätigkeit, die sich im Rahmen von Arbeitsverträgen abspielt.

Maya Razmadze: Im Zusammenhang mit der „Arbeit“ und  der „Arbeitsgesellschaft“ ist es sinnvoll auch auf den Sozialstaat einzugehen, da die Arbeit als Basis für die Entstehung und den Ausbau des Sozialstaates diente, insbesondere ab der Nachkriegszeit. Sie haben in Ihren früheren Werken gegen eine enge Auffassung des Sozialstaates ausgesprochen, das heißt ihn lediglich als Dienstleister bestimmter Services und quantifizierter Ergebnisse aufzufassen. In der Tat kann der Sozialstaat mehr sein als nur bloßer Lieferant bestimmter Sozialpolitiken und Dienstleistungen. Gegenwärtig gibt es den Sozialstaat staatssozialistischer Prägung überhaupt nicht mehr, und der westlich-kapitalistische Sozialstaat wurde zum Gegenstand mehrerer marktliberaler Reformversuche. Wie sehen Sie die Bedeutung und Funktion des Sozialstaates und in welchem Zustand befindet er sich heute?

Prof. Claus Offe: Sozial- und Wohlfahrtsstaat, ich benutze sie jetzt gleichsinnig, ist ein System von Institutionen, das kaum jemand in seinem vollen Umfang kennt. Das ist eine unglaublich komplexe, im steten Wandel begriffene, historische Errungenschaft gesellschaftlicher Entwicklung. Man kann es sich vorstellen wie die Struktur eines Gebäudes, das ein Keller hat, einen zweiten Stock, dritten Stock und so weiter. Im Keller ist die vormoderne Fürsorge für Arme, die oft auf der Ebene der Gemeinde angesiedelt war und eher Sachleistungen beinhaltete. Auf der ersten Etage gibt es die Lizenzierung von Gewerkschaften, die streikberechtigt sind. Dann gibt es im zweiten Stockwerk Versicherungen, das heißt man zahlt sogenannte paritätische Beiträge, die dazu dienen, im Alter, bei der Krankheit und sehr viel später bei der Arbeitslosigkeit und noch viel später bei der Pflegebedürftigkeit Transferleistungen zu beziehen. In der dritten Etage gibt es Transferleistungen zum Beispiel Kindergeld, die nicht an das Arbeitsverhältnis geknüpft und relativ neu sind. Hinzu kommen auch Dienstleistungen, von denen die wichtigsten die Bildungsleistungen sind und die nicht an Arbeitsverhältnisse geknüpft sind, sondern an die Bürgerrolle.

Die Funktionsfähigkeit und Finanzierbarkeit hängt von diesen ganzen Systemen ab, die alle laufend im Umbau begriffen sind. Es kommt darauf an, dass das Dach auf diesem Gebäude dicht ist. Das bedeutet, es muss eine annähernde Vollbeschäftigung bestehen. Vollbeschäftigung ist nicht nur deshalb wichtig, weil der Reichtum der Nation sozusagen durch die Vorausgaben von möglichst viel Arbeitskraft gesichert werden muss, sondern deshalb, weil der Sozialstaat selbst finanziell zum großen Teil auf Beiträgen und zum geringsten Teil auf Steuern beruht. Die Beiträge können nur aufgebracht werden, wenn es so etwas wie Vollbeschäftigung gibt. Wenn es keine Vollbeschäftigung gibt und kein kontinuierlich wachsendes reales Einkommen aus Vollbeschäftigung, dann kommt es zu Problemen. Deshalb kann man sagen, dass der Sozialstaat ein Korrektiv ist zur kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, gleichzeitig aber von deren Funktionieren abhängt.

Eine Konkurrenzbeziehung, die auch maßgeblich für die Entstehung und Entwicklung des Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg war, ist diese sogenannte Systemkonkurrenz gewesen. Wir hätten keinen westlichen Wohlfahrtsstaat entwickelt, ohne der von Adenauer gepflegten und total falschen Hypothese, dass es drüben im Osten vielleicht mal attraktiv werden könnte, sowohl vom Einkommen, als auch von der sozialen Sicherheit. Er hat gesagt, die Kommunisten könnten dort eine vorzugswürdige Gesellschaft aufbauen und wir müssen darauf vorbereitet sein und vorsorgen. Er hatte keine Ahnung, dass die Kommunisten ihre Effizienz nicht in gleichem Maße anpassen konnten. Das war eine Triebkraft.

1957 in Deutschland hat es so etwas gegeben, was unerhört war, nämlich eine Dynamisierung der Renten. Die Renten wurden nicht nur nach geleisteten Arbeitsjahren und dabei erzielten Arbeitseinkommen berechnet, sondern sie wurden errechnet nach dem gegenwärtig erzielten Arbeitseinkommen. Damit hat er den Wahlkampf im Jahr 1957 mit absoluter Mehrheit gewonnen. Nachdem es mit den Kommunisten vorbei war, hörte man hier auch damit auf.

Die Aufbauphase des Wohlfahrtsstaates in der Nachkriegszeit im deutschen Fall dauerte circa 30 Jahre, genau genommen von 1949 bis 1974.

Diese erste Phase war beherrscht durch die Idee der Sozialen Marktwirtschaft im Namen der Gerechtigkeit: Wohlstand für alle, aber auch Sicherheit für alle, unter den motivierenden Rahmenbedingungen des Kalten Krieges.

Dann kam eine zweite Phase, wo das Kapital und die konservativen Regierungen, in Amerika und England, die auch hegemonial geworden sind, zu dem Ergebnis kamen: Das wird uns zu teuer. Anschließend gab es eine Entwicklung, die als investive Sozialpolitik bezeichnet worden ist. Hier kommt es nicht mehr darauf an, dass gerechte Ansprüche bedient werden sollen, sondern dass wir Investitionen tätigen, die sich später auszahlen, zum Beispiel Bildungsinvestitionen, aber auch Wohnungsbau und arbeitsfördende Maßnahmen. „Investiv“ heißt, dass die Sozialpolitik nicht auf die Befriedigung der Bedürfnisse der Sozialbedürftigen ausgerichtet ist, sondern der Steigerung der Effizienz der Volkswirtschaft insgesamt dient.

Die dritte Phase der Entwicklung des Sozialstaates setzt nach dem Ende des Staatssozialismus ein. Dann wurde gesagt, dass wir uns auch dies nicht mehr leisten können, sondern die Bedürftigen zur Mitwirkung ihrer eigenen Sicherheit heranziehen müssen. „Aktivierung“ ist der Schlüsselterminus. Ein extrem neoliberaler Autor, Lawrence Mead, hat gesagt, dass der Mensch als „Staats- und Wirtschaftsbürger“ fünf Pflichten hat und wenn er diese Pflichten nicht einhält, dann kann er ruhig untergehen. Das bedeutet in der milderen Version, dass die Bürger nicht nur für die Haltung und Aufrechterhaltung der eigenen Erwerbsfähigkeit zuständig sind, sondern für ihre eigene Sicherheit, d. h., man muss sparen. Man kann sich nicht auf die Rente verlassen, weil die Rente sozusagen gesockelt wird. Das ist nur 40% des Einkommens, das man im Alter bezieht und der Rest beruht auf Sparleistungen, auf Familiensubsidiarität, auf Erbschaft und so weiter. Es folgt die Eigenbeteiligung der Krankenversicherung und Einführung der Gebühren für Schulwesen, Universitätswesen, aber auch für Kindergärten. Eine sekundäre Kommodifizierung, das heißt die Kommodifizierung all der Leistungen, die der Staat bisher als Transferleistungen bezahlt hat. Dafür muss man selbst aufkommen. Das ist, was im Begriff der Aktivierung zum Ausdruck kommt. „Sie müssen sich selbst schützen“, „Sie müssen selbst Ihre Arbeitsfähigkeit herstellen“.

Also, das sind die drei Phasen der Nachkriegsentwicklung und die dritte Phase ist wesentlich gefördert durch das Ende des Staatssozialismus. Die Adenauerschen Befürchtungen, dass in der Systemkonkurrenz etwas zu unserem Nachteil passieren könnte, sind nicht mehr präsent. Vielmehr ist es so, dass das staatssozialistische Denken jede hegemoniale Potenz verliert. Im kapitalistischen wohlfahrtsstaatlichen Denken ist es so, dass zuerst die Arbeit kommt und wenn man gearbeitet hat, wird man sogar vor Arbeitslosigkeit gesichert, was ein großes Problem am Ende der 20er Jahre war. Der Staatssozialismus denkt anders, in der umkehrten Reihenfolge: Erst wird man zum Arbeiter gemacht, indem man zuerst vom Staat Bildung, eine Wohnung etc. bekommt. Dort gibt es keine Arbeitsverträge, sondern die Arbeiter werden vom Staat eingesetzt. Dann wird man politisch und moralisch in der Weise geformt, dass man wirklich zu vaterlands- und parteitreuen Werktätigen wird, also alles tut, was die Partei beschlossen hat: Die Partei sorgt für dich, dafür muss du aber was tun. Der Staatssozialismus hat eine ganz andere Logik.

Maya Razmadze: Sie würden sagen, dass der sozialistische Staat wesentlich auch dazu beigetragen hat, dass im Westen der Wohlfahrtsstaat entstanden und entwickelt wurde?

Prof. Claus Offe: Ja, das sehen die Historiker auch so. Das muss man aber auch nicht überbetonen, denn es gab in Skandinavien ab den 30er Jahren die sozialstaatlichen Einrichtungen. Es gab in den USA den New Deal, das war alles vor dem Kalten Krieg. Aber der Kalte Krieg war die Triebkraft für den Aufbau und die Expansion des westlichen Wohlfahrtsstaates.

Maya Razmadze: Heute gehen die Meinungen über die letzten Sozial- und Arbeitsmarktreformen auseinander. Diese Reformen begründeten einen signifikanten Wechsel im Sozialstaat vom „fördernden“ zu „fordernden“ Sozialstaat und betonten die sogenannte „Wettbewerbsfähigkeit“, kollektiv wie individuell…

Prof. Claus Offe: „Fördern und Fordern“. Aber es wurde nun gesagt, wir müssen mehr Wert auf Fordern legen, als wir es bisher getan haben.

Maya Razmadze: Während die einen diese Reform, die vor allem als „Hartz IV“ bekannt wurde, eher als Verlust des Lebensstandards bei längerer Arbeitslosigkeit und Deregulierung des Arbeitsmarktes bewerten, betrachten die anderen diese als notwendige und richtige Maßnahme, um die wachsende Arbeitslosigkeit in Griff zu bekommen und Wirtschaft und Arbeitsmarkt durch die aktivierende Politik wettbewerbsfähig zu machen und finanzielle Grundlage für die Finanzierung der Renten zu schaffen. Dass Deutschland im Unterschied zu anderen europäischen Nachbarländern wirtschaftlich viel besser dasteht, wird als Beleg angeführt, dass die aktivierende Reform doch richtig war. Denn die aktuelle Arbeitslosenquote liegt aktuell bei 5,2 Prozent. Die Fachkräfte werden händeringend gesucht und die deutsche Wirtschaft befindet sich in Aufschwung. Welche Folgen brachte diese Reform mit sich, wenn wir den Fokus nicht nur auf Zahlen, sondern auf Gesellschaft, Individuum und Kultur legen?

Prof. Claus Offe: Ich war damals – im Hinblick auf diese Reform – sehr skeptisch und heute bin ich es noch. Die günstige Arbeitsmarktentwicklung, wie sie allgemein dargestellt wird, wird unter anderem daran gemessen, dass wir innerhalb von zehn Jahren eine Steigerung der Erwerbsbevölkerung haben, also Menschen, die am Erwerbsleben teilnehmen und teilnehmen wollen. Von 38 Millionen auf heute 44,7 Millionen, mehr als die Hälfte der Wohnbevölkerung ist erwerbstätig. Fantastisch! Man kann auch sagen, pathologisch! Das ist ja Berufsmenschentum, das alle anderen Lebensbezüge und Tätigkeitssphären an den Rand gedrängt hat. Es gibt keine Hausfrauen mehr, denn alle scheinen Erwerbsarbeit zu verrichten.

Doch das ist kein Anlass zum Jubel. Erstens muss man feststellen, dass es morgen wieder ganz anders sein kann. Die Konjunkturabhängigkeit schafft eben ein Maß von Unsicherheit, das bei der aktuellen niedrigen Arbeitslosigkeit nicht verschwindet. Zweitens muss man sagen, dass trotz dieser hohen Zahlen von 44 Millionen, die Zahl der gearbeiteten Stunden – 58 Milliarden Stunden pro Jahr – konstant bleibt. Das bedeutet, dass pro Arbeitnehmer eine geringere Anzahl an Stunden hinzukommt, weil Teilzeitbeschäftigung, geringfügige Beschäftigung und so weiter zugenommen hat. Drittens, es ist eine Prekarisierung der Arbeit eingetreten. Das heißt eine Zwangsflexibilisierung, die sich auf Arbeitsort, Arbeitsaufgaben, Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und so weiter erstreckt. Viele Leute können buchstäblich nicht sagen, was sie in zwei Monaten tun werden, wovon sie leben werden. Das ist ein Stressfaktor, der sozialmedizinische Auswirkungen hat. Und die Arbeit ist sehr ungleichmäßig verteilt. Viele Leute sind unter Dauerstress, weil sie nicht wissen, was sie morgen tun sollen und tun werden.

Man muss auch Weiteres hinzufügen, nämlich, dass die Bundesrepublik Deutschland im Gegensatz zu allen anderen Mitgliedstaaten einen Exportüberschuss hat, der durch die Begünstigungseffekte des Euro entsteht. Wenn die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Ökonomie noch eine D-Mark hätte, dann wäre ein solcher Exporterfolg undenkbar, weil nämlich der Währungsmechanismus eintreten würde. Da der Euro Einheitswährung ist, ist er für die deutsche Wirtschaft sehr viel billiger, als er sonst wäre. Und davon hängt ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze ab. Wenn Herr Trump weiter solche Sachen macht, wie er gerade macht, nämlich den internationalen Handel abwürgen, dann würde Deutschland in hohem Maße verwundbar sein. Also soviel zu dem sogenannten Jobwunder und Hartz IV. Das sind sehr spezielle Bedingungen.

Ich finde es extrem riskant, was die deutsche Wirtschaftspolitik macht, das Wachstum auf Export und nicht auf inländische Nachfrage zu stützen. Das ist nicht nur unmoralisch, weil man von den Exportschwächen der anderen profitiert, sondern es ist brandgefährlich.

Außerdem muss man auch Folgendes als Misserfolgsfaktor in der Bilanz hinzufügen: Die Hartz IV-Gesetzgebung hat sich ja vorgestellt, dass, wenn die Menschen gefordert und gefördert werden, sie sogar so fleißig und diszipliniert sind, morgens früh aufzustehen, sich abends auf ihre Kosten Kurse reinziehen, um ihr Arbeitsvermögen auf neustem Stand zu halten, und eines Tages im primären Arbeitsmarkt, in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung unterzukommen. Der Übergang vom sekundären zu primären Arbeitsmarkt ist so miserabel, dass es nur ein geringerer Teil der Hartz IV-Begünstigten im regulären Arbeitsmarkt auftauchen. Es sind zwei Arbeitsmärkte, die so gut wie voneinander getrennt sind.

Maya Razmadze: Wir beobachten aktuell widersprüchliche Entwicklungen in der Arbeitswelt. Einerseits gibt es gesicherte, gut bezahlte Arbeit. Beispielsweise hat die Gewerkschaft IG Metall neulich das Recht auf eine 28-Stunden-Woche und mehr Lohn für die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie mit Erfolg durchgesetzt. Andererseits gibt es immer mehr prekäre, unsichere, nicht existenzsichernde Arbeit. Zugleich kommen neue Arbeitsformen hinzu, wie New Work.

Prof. Claus Offe: Ja, einerseits gibt es die IG Metall, die als Tarifpartner deshalb so stark ist, weil sie zum Erhalt all dieser exportabhängigen Arbeitsplätze zum Beispiel in der Automobilindustrie beiträgt, die durchaus Lohnzurückhaltung übt. Sie hätten sehr viel mehr rausholen können, tun sie aber nicht, weil sie sehen, dass wir dadurch unsere Produkte verteuern. Damit riskieren wir den Absatz auf den amerikanischen Märkten und so weiter. Gewerkschaftliche Forderungen, die nicht unmittelbar kostensteigernd sind, sind allgemein sehr populär.

Wir kommen von einem Thema zum anderem, aber eins ist mir sehr wichtig, weil ich dazu viel gearbeitet habe. Man kann Arbeit dafür entschädigen, dass man jedem höheren Lohn zahlt oder man kann die Arbeit entschädigen, wie es die Klassiker Marx und Keynes vorgestellt haben, indem man das zeitliche Volumen der Erwerbsarbeit reduziert. Man kann die Arbeiter mit Geld bezahlen oder mit Zeit oder irgendeine Kombination von beiden finden. Jetzt stellt sich überraschenderweise heraus, dass die Arbeiter gar nicht auf mehr Zeit Wert legen, sondern vielmehr auf Geld. Deshalb ist die temporäre Entschädigung der Arbeitskraft, also die zweitbeste Möglichkeit, nicht besonders attraktiv.

Warum ist das so? Dafür gibt es drei Gründe. Einmal deshalb, weil man Zeit nicht sparen kann. Denn 20 Minuten heute, 20 Minuten morgen, ergeben keine 40 Minuten am Wochenende. Die Zeit ist sozusagen „sticky“. Zweitens, die Zeit an sich ist nur attraktiv, wenn man Geld hat, etwas Interessantes zu tun, zu verreisen, ins Restaurant zu gehen und so weiter. Man braucht immer Geld dazu. Also die Kombination von Geld und Zeit ist von Interesse. Drittens, wenn man zwischen Chronometrie und Chronologie unterscheidet, ist die Zeit unterschiedlich wertvoll zu verschiedenen Zeitpunkten. Mittwochvormittag ist deshalb weniger wertvoll, weil alle anderen arbeiten und es wird langweilig, während das Wochenende sehr viel wertvollere Zeit ist. Die Gewerkschaft sagt, wir wollen mehr Zeit und die Arbeiter sagen, wir wollen mehr Geld.

Der erfolgreichste politische Slogan in der Geschichte der Bundesrepublik war ein Plakat mit einem Arbeiter und einem kleinen Mädchen an der Hand und das kleine Mädchen sagt: „Samstags gehört Papa mir!“ Das ist die Erfindung des Wochenendes! Mit der Zeitpolitik hat es jetzt geklappt, mit der Optionalisierung der Arbeitszeitreduktion für große und größere Betriebe. Aber Geld ist schon das Medium der Wahl. Keynes hat 1930 einen Aufsatz mit dem Titel „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“ geschrieben und darin die 15-Stunden-Woche vorgestellt. Dies ist nicht mehr aktuell.

Andererseits entsteht eine Plattformökonomie, die man in Amerika gut beobachten kann, aber hier auch zunimmt. Angenommen in einer Garage muss eine Wand gestrichen werden oder ein Dach muss gedeckt werden, einfache Bauarbeiten. Diese werden öffentlich ausgeschrieben und man bezahlt für eine Leistung. Das nennen wir Werkvertrag. Und genau das ist nun auf einer Plattform. Wenn man Geldbedarf hat, schaut man rein, wo ist das und was ist das. Das ist eine extreme Form, auf eine digitale Plattform gestützte Erwerbsarbeit, ohne dass es einen Arbeitsvertrag gibt. Wenn die Arbeit erledigt ist, hört unsere vertragliche Beziehung auf. Da kann man jeden Tag suchen, was man machen will. Das, was wir hier jeden Tag sehen, zum Beispiel Personentransport, Taxi, Uber, Fensterputz, Essenskurier, sogar die Kommodifizierung der hauswirtschaftlichen Arbeit, sind die neuen Arbeitsverhältnisse, die in der Regel nicht erfreulich sind. Sie sind prekär und lebensphasentypisch. Es ist ein großer Erfolg der IG Metall, dass sie diesen Tarifvertrag zustande gebracht hat.

Maya Razmadze: Nun möchte ich den Blick auf osteuropäische Gesellschaften erweitern. In einer Vorlesung haben Sie neulich gesagt: „Nur ein starker Staat kann ein demokratischer Staat sein. Ein Staat der nur Gewichtseinheiten und Straßennamen bestimmt, und sonst nichts, kann kein demokratischer Staat sein.“ Gibt es einen Zusammenhang zwischen Demokratie und Sozialstaat? Ist vielleicht ein schwacher Sozialstaat oder gar die Abwesenheit des Sozialstaats mögliche Ursache dafür, dass die osteuropäischen Gesellschaften immer wieder in nationalistische Alleingänge und autoritäre Formen zurückfallen? Denn es gibt keine andere Instanz, um etwa die von Ihnen genannte Rekommodifizierung, also den Marktdruck, abzuwenden, Marktversagen zu korrigieren und insgesamt für die Herstellung des sozialen Zusammenhalts zu sorgen. Die Enttäuschungen, Frustrationen, Sorgen und Ängste werden in vielen Fällen gerade in das Aufkommen rechter, demokratiefeindlicher Tendenzen geleitet.

Prof. Claus Offe: Ja, das ist so. Es ist so, dass in allen Theorien über die sozialgeschichtliche Entwicklung der westlichen, liberalen Demokratien eine Dreiteilung eine Rolle spielt: Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem die Idee des Rechtsstaates, die Unterwerfung der Staatsgewalt unter die Verfassungsgewalt entstand. Das hat mit der französischen und amerikanischen Revolution zu tun. Im 19. Jahrhundert ist die Demokratie erfunden worden, also die Möglichkeit zunehmender Mündigkeit der Bevölkerung an der politischen Willensbildung teilzunehmen und für die staatliche Politik Verantwortung zu übernehmen. Im 20. Jahrhundert ist der Sozialstaat erfunden worden.

Das ist eine kumulative Entwicklung. Wir haben als Ergebnis, dass der Staat, der demokratisch und Rechtsstaat ist, der handlungsfähige Verwaltungsstaat ist. Der Staat, der eine Verwaltung hat und deren Angehörige durch formale Ausbildung gelernt haben, das zu tun, was sie tun; sie sind kompetent und unbestechlich. Das sind die Bedingungen einer rationalen Bürokratie nach Max Weber. In Osteuropa, in den nachkommunistischen Gesellschaften hat es keines dieser drei Elemente gegeben.

Zudem hat der Staatssozialismus unter anderem einen ganz wesentlichen Mangel gehabt hat, nämlich die Fähigkeit der Gesellschaft zur Selbstbeobachtung, Selbstüberprüfung. Das sind wichtige Funktionen der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Also die Pressefreiheit ist ein Organ der Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Die Presse berichtet, die Journalisten berichten, niemand kann sie daran hindern. Die Wissenschaft tut das auch auf andere Weise. Die Kunst tut das. Aber auch die Buchhaltung tut das. Und das alles hatten sie nicht.

Andererseits beruht die ganze Demokratisierung und Liberalisierung in postsozialistischen Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa auf einem fantastischen neoliberalen Missverständnis, nämlich dass sich durch die Einführung der Marktwirtschaft alles zum Besseren wenden wird. Ein Kollege aus Frankfurt/Oder hat das mal als die Karikatur eines „grab and run capitalism“ bezeichnet: Zugreifen, Profit machen, Abhauen. Der Wettbewerb bedarf rechtstaatlicher Einrahmung. Man hat gedacht, wenn wir den Markt haben, wird hier alles in Ordnung kommen. Wenn wir dazu noch Demokratie mit der Parteienkonkurrenz und parlamentarische Gesetzgebung, wie wir sie im Western haben, einführen, dann wird dies zum Wohlstand führen.

Weit gefehlt! Die Abwehr gegen den Staat und die staatliche Bürokratie, gegen die wichtigen politischen Leistungen der Verwaltung, hat unter neoliberaler Absegnung einen Höhenpunkt erreicht. Das bedeutet, wenn etwas passiert, passiert es durch Oligarchen, durch Korruption, durch Familienbande, also alles, was im Gegensatz zu der Weberschen bürokratischen Rationalität steht. Niemand hält sich an die Regel und das ist ein verhängnisvolles Ergebnis. Manche werden sehr reich dabei, aber die Zufriedenheit der Bevölkerung – sowohl mit der wirtschaftlichen, als auch mit der demokratischen Entwicklung – sinkt kontinuierlich, wie zuletzt in Armenien. Die Leute sind zurecht aufgebracht, weil falsche Versprechungen nicht eingetreten sind und weil sie keine solide Staatlichkeit haben.

Um zum Thema zurückzukommen: Dasselbe Phänomen haben wir im Westen, in Europa. Auch da kann der Staat wesentlich mehr tun, als nur Straßennamen zu benennen und Gewichte zu bestimmen. In Berlin können sie nicht mal einen Flughafen bauen! Auch auf der europäischen Ebene haben wir keine Staatlichkeit. Was die Korruption in Osteuropa ist, ist diese ungeklärte Verfassungssituation in Westeuropa. Wenn wir mit der Migrationskrise fertig werden wollen, müsste man eine staatliche Entscheidungsinstanz haben. Stattdessen haben wir dieses Gewurschtel zwischen Herrn Seehofer, Frau Merkel und Herrn Macron und niemand weiß, was passiert. Zur geregelten Staatsetikette gehört auch ein verlässliches System der Regelbildung. Irgendjemand muss entscheiden, wie wir in der Zukunft mit den Migranten verfahren wollen und wie wir damit gegenüber unserer Binnenbevölkerung zurecht kommen. Wie das finanziert werden soll und so weiter. Ich meine, die wichtigsten Fragen sind nicht mögliche Entscheidungsgegenstände, das ist der Punkt. Im Osten und Westen haben wir die Gemeinsamkeit eines schwachen Staates – eines hilflos, ratlos und tatenlos werdenden Staates.

Maya Razmadze: Meine letzte Frage dreht sich um die Zukunft der Arbeit: Wie sehen Sie die Zukunftsperspektive für die „Arbeitsgesellschaft“?

Prof. Claus Offe: Was man wissen kann, ist, dass wir Vollbeschäftigung im Sinne einer dauerhaften, sicheren, vollzeitigen und nach den geltenden Standards angemessen entschädigten Berufstätigkeit nie wieder haben werden. Und zwar zu 20 Prozent, weil die Produktion woanders stattfindet und nicht hier. Die Zahlen sind interessant, nicht? Deutschland ist überindustrialisiert: Viel zu viele Leute beschäftigen sich in Deutschland mit der Herstellung von Gegenständen, ein Fünftel der Beschäftigten. In England und in den USA sind es 10 Prozent. Die Produktion findet woanders statt. 50 Prozent des Wirtschaftswachstums von 2011 fand in Indien und in China statt. Dort wird produziert und sie können dies billiger tun und haben das gleiche technische Niveau. Damit müssen wir uns abfinden.

80 Prozent dieser absehbaren Abweichung von der Normalität der Erwerbsarbeit ist darauf zurückzuführen, dass wir künstliche Intelligenz haben, dass wir Vorgänge automatisieren, also arbeitssparenden technischen Wandel herbeiführen können. Nur um ein Beispiel zu nennen: In der Hälfte der amerikanischen Bundesstaaten ist der einzelne häufigste Beruf, der dort ausgeübt wird, der des Kraftfahrers. Wenn es autonome Fahrzeuge gibt, werden alle arbeitslos und die Sicherheit im Verkehr steigt noch, wenn alles gut geht. Das ist nicht mehr weit entfernt! Also wir haben die technische Einsparung. Die technischen Möglichkeiten, Arbeit zu substituieren, sind gewaltig.

Und gleichzeitig bewegen wir uns auf eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation hin. Je reicher die Volkswirtschaften sind, desto geringer ist ihr weiteres Wachstum. Das heißt, die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums durch Arbeitsverträge und Arbeitslöhne, ist ein Modell, das nicht mehr ausreicht. Deshalb muss es andere Modelle geben, nämlich Grundeinkommen, Transfer, nationale Dividenden, also die Verteilung gesamter volkswirtschaftlicher Leistungen und Erträge an Bürger, und solche Sachen. Es geht darum, dass die Bürger bezahlt werden und nicht die Arbeiter und Arbeitnehmer. Das ist die Überzeugung, die ich mir gebildet habe.

Maya Razmadze: Sie sind also dafür, dass die anderen Arbeitsformen, die nicht zur Erwerbsarbeit gehören und Einkommenserzielung zum Ziel haben, aber sinnvolle Tätigkeiten sind, gesellschaftlich aufzuwerten und politisch zu stabilisieren?

Prof. Claus Offe: Ja, absolut. Das läuft zum Teil unter dem Titel „Sharing Economy“. Man kauft keine Autos oder Bohrmaschinen, sondern man leiht sie und teilt sie. Schreckliche Nachricht für die Automobilindustrie! Aber eine lohnende Art auch unter den ökologischen Gesichtspunkten, weniger Material zu verbrauchen. Aber es ist sehr schwer die Menschen davon zu überzeugen. Alles, was man tut, kann man auch für andere mittun, nicht besitzen, sondern ausleihen. Wenn man das Essen für eine Familie kocht, kann man mit wesentlich weniger Aufwand auch das Essen für drei Familien kochen und da braucht man bloß jeden dritten Tag zu kochen. Das ist Freizeitgewinn. Also, über solchen Formen informeller Ökonomie, die nicht Erwerbsarbeit ist, sondern Eigenarbeit darstellt, lohnt es sich nachzudenken. Es ist sehr viel in Bewegung.

 

 

Claus Offe ist einer der bekanntesten deutschen Soziologen und Politikwissenschaftler. Sein jüngstes Buch Europa in der Falle erschien 2016 bei Suhrkamp.

Maya Razmadze ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und arbeitet zum Thema Subjektivierung und Arbeit.

 

 

Der Artikel erschien zuerst in „Ada Magazin“ https://adamag.de/ und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion gespiegelt.
Bild: ver.di