Mit einer riesigen Palette an unverschämt günstigen Artikeln und offensivem Auftritt in sozialen Netzwerken läuft der Onlinekleiderhändler Shein Branchengrössen wie H&M und Zara in der Gunst um Geld und Gefühle junger Frauen den Rang ab.
So grell die Marke auftritt, so undurchsichtig bleibt die Firma dahinter. Eine Spurensuche – bis in die verwinkelten Gassen der chinesischen Millionenstadt Guangzhou, wo Tausende von Arbeiter*innen bis zu zwölf Stunden am Tag den Stoff vernähen, aus dem die Teenie-Träume sind.
Willie Gomez ist total begeistert. Er finde es grossartig, sagt der Popsänger aus der Karibik, dass Shein eine «so inklusive» Show auf die Beine gestellt habe, eine, in der «alle Ethnien, alle Formen und Grössen» vertreten seien. Schnitt. Wir sind jetzt im Backstage, «ich bin bereit», sagt Willie unter seiner Maske, «los geht’s».
Wieder Schnitt. Willie Gomez steigt aus einem Cadillac und schickt sich an, unter grossem körperlichem Einsatz eine Latino-Schnulze zu intonieren – begleitet von einer rasch wechselnden Schar extravagant gekleideter Tänzer*innen, sorgsam selektioniert nach der Prämisse der Diversität, gross und klein, dick und dünn, ein Panorama an Herkünften und Hautfarben.
Nach Willy Gomez tritt Blu Detiger auf, eine Sängerin und Bassgitarristin aus New York, die findet, Shein revolutioniere das Verständnis davon, «was eine Fashion-Show sein kann». Der Dancefloor ist begrenzt durch farbige Neonröhren, sonst ist alles schwarz, bis auf den riesigen, weissen Shein-Schriftzug am Boden. Publikum gibt es nicht. Dieser Ort könnte überall sein – oder nirgends.
Der «Shein X Rock the Runway» solle «die Dynamik der Mode, die Energie der Musik und die Kraft des Tanzes» vereinen, heisst es im Intro der Show, die Ende September live über Youtube, Instagram und die App von Shein ausgestrahlt wird.
Auf deren Webseite können an den Tagen danach in der Kategorie #SHEINXRockTheRunway bis zu 6000 verschiedene Kleidungsstücke bestellt werden – bis der Menüpunkt zehn Tage nach Ausstrahlung des Streams plötzlich wieder verschwindet.
«DAILY NEW»: An diesem Tag wurden 8017 neue Produkte in den Shop gestellt.
Doch die Auswahl bleibt beileibe gross genug. An einem Mittwochnachmittag Anfang Oktober finden sich in der Kategorie «Frauenbekleidung» 259’264 Produkte. In «Plus Size» sind es über 78’000, unter «Männerbekleidung» noch gut 32’000 Artikel. Auch nach «täglichen Neuheiten» lassen sich die Artikel filtern. 6753 Produkte sind an diesem Tag neu reingekommen: Zweiteiler und Jeans, Leggins und Tops, präsentiert von kurvigen Frauen mit dicken Lippen und schmalen Taillen, oft in lasziven Posen, zuweilen hart an der Grenze zum Vulgären. Das Trägertop mit Zebrastreifen kostet 8 Franken, die Jeansjacke mit Puffärmeln 22. Das teuerste Kleidungsstück, das an diesem Tag neu in den Shop gestellt wird, ein Trenchcoat mit Schlangenhautmuster, kostet 65 Franken. Zwei Drittel der Tagesneuheiten sind für weniger als 20 Franken zu haben.
Wo sind wir hier gelandet? Wer ist Shein?
Diese Frage stellten sich wohl ziemlich viele Menschen zum ersten Mal im Mai dieses Jahres – als berichtet wurde, die Shein-App habe in den USA soeben jene von Amazon als die am häufigsten heruntergeladene Shopping-App abgelöst.
Von den meisten über Dreissigjährigen gänzlich unbemerkt hat sich der Konzern in kurzer Zeit zu einem Giganten im Onlinekleidermarkt entwickelt, wie sich auch an Follower-Zahlen auf den sozialen Netzwerken zeigt. Stand Anfang Oktober: 22 Millionen Abonnent*innen auf Instagram und 23 Millionen auf Facebook (je rund halb so viele wie H&M und Zara), 2,8 Millionen auf TikTok (ein Vielfaches der beiden Konkurrentinnen).
Die Firma
Shein Hauls» – direkt übersetzt «Shein-Beutezüge» – sind im Netz längst eine eigene Kunstform: Junge Menschen – zumeist Frauen – packen vor der Kamera ihre Bestellung aus, probieren die Teile an und kommentieren, wie sie sich anfühlen. Auf Youtube werden manche dieser Videos mehrere Millionen Mal angeklickt, auf TikTok wurden Einträge mit dem Hashtag #sheinhaul insgesamt 3,7 Milliarden mal angesehen. Heisst: Es wird bestellt wie wild.
Shein gibt keine Umsatzzahlen bekannt. Gemäss einem chinesischen Bericht vom Dezember 2020, der seither immer wieder zitiert wird, soll die Firma im Jahr 2020 fast zehn Milliarden US-Dollar umgesetzt haben, und für 2021 erwartet ein grosser chinesischer Broker gar einen Umsatz von zwanzig Milliarden.
Auch auf der Webseite erfährt man kaum was über den Konzern: Shein sei ein «internationaler B2C Fastfashion Onlinehändler», heisst es dort. «B2C», kurz für «Business to Consumer», bezeichnet die direkte geschäftliche Beziehung zwischen einem Unternehmen und Endkonsument*innen. Sheins Hauptmärkte seien «Europa, USA, Australien, der mittlere Osten und weitere Verbrauchermärkte», insgesamt sei man «in mehr als 150 Ländern und Regionen» präsent. Woher die Kleider in all diese Länder verschickt werden – das erfährt man nicht. Im Impressum der Schweizer Webseite steht einzig die Adresse der Muttergesellschaft: Sie heisst Zoetop Business und hat ihren Sitz in Hong Kong (was wir über die Konzernstruktur herausgefunden haben, hier).
Die Zutaten des Erfolgs
Was sich über Shein, gestützt auf ausführlichste Analysen in einschlägigen Portalen, in Kürze sagen lässt: Die Vorgängerfirma wurde 2008 in der ostchinesischen Stadt Nanjing von drei Männern gegründet, unter ihnen Xu Yangtian, ein Spezialist für Suchmaschinenoptimierung. Verkaufte das Unternehmen erst vor allem Brautkleider, begann Xu Yangtian – nun ohne seine vormaligen Mitstreiter – ab 2012 unter der Domain Sheinside.com Frauenmode zu vertreiben. Ab 2015 nahm das Geschäft richtig Fahrt auf.
Ein paar der zentralen Erfolgszutaten:
- Direktversand statt teurer Läden
- Intensive Nutzung von Onlinetools für die Identifikation von Trends
- Automatisierte Auswertung der Käufe und Bewegungen in der App
- Einspannen von Influencer*innen im grossen Stil.
- Ein dichtes Netz an zumeist kleinen Zulieferern im südchinesischen Guangzhou, wohin Shein 2017 sein Hauptquartier verlegt hat.
Sie alle sind an die firmeneigene Software angebunden und können so automatisiert mit Aufträgen und dem dafür notwendigen Material versorgt werden – was es Shein ermöglicht, ungemein rasch auf Trends zu reagieren.
Galt bislang Zara mit einem Produktionszyklus von drei bis vier Wochen als Inbegriff von Fast-Fashion, soll Shein fähig sein, ein Kleid innert einer Woche herzustellen – vom Design bis zur Verpackung.
Nicht immer konnte Shein mit dem eigenen rasanten Aufstieg Schritt halten. 2018 wurde bekannt, dass bei einer Cyberattacke die Zugangsdaten und Passwörter von über 6 Millionen Kund*innen gestohlen worden waren. Im Juli 2020 kam die Firma zweimal innert einer Woche in die Schlagzeilen, weil sie erst eine muslimische Gebetsmatte als «Griechischen Teppich» verkauft hatte und – kaum hatte sie sich entschuldigt – eine Goldkette mit Swastika-Anhänger in den Shop stellte. Shein wurde mehrfach vorgeworfen, Online-Rezensionen zu manipulieren, und in zahlreichen Fällen konnten Designer*innen Shein nachweisen, ihre Entwürfe gestohlen zu haben.
Doch keiner dieser Skandale hat das Mindeste daran geändert: Shein wächst und wächst – und bleibt dabei ein Mysterium.
Zu einer der wichtigsten Fragen weiss die Öffentlichkeit heute immer noch kaum etwas: wo und unter welchen Bedingungen die Artikel der Billigmarke hergestellt werden.
Die Recherche
Ende 2020 schicken wir uns bei Public Eye an, das herauszufinden. Wir nehmen Kontakt auf mit einer Organisation, die sich im Süden Chinas für die Rechte von Arbeiter*innen einsetzt – und deren Namen hier aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden kann. Im April dann beginnen zwei Rechercheurinnen, in Guangzhou – einer Multimillionenstadt im Perlflussdelta, gut hundert Kilometer nördlich von Hong Kong – nach Zulieferbetrieben von Shein zu suchen.
In den Wochen darauf gelingt es ihnen, insgesamt 17 Betriebe zu lokalisieren, die für Shein produzieren. Sieben dieser Orte liegen in Nancun, einem Viertel im Stadtbezirk Panyu. Hier kann eine der Rechercheurinnen im Juli Gespräche mit drei Arbeiterinnen und sieben Arbeitern führen, die ihr Geld in sechs verschiedenen Betrieben verdienen: an Näh- und Steppmaschinen, in der Abteilung für Qualitätskontrolle und Verpackung, am Bügelbrett oder am Schnitttisch. Alle kommen sie ursprünglich aus Provinzen ausserhalb, und alle haben sie jahre- bis jahrzehntelange Erfahrung in der Industrie. In ihrem jetzigen Betrieb arbeiten die meisten jedoch seit weniger als einem Jahr.
Die Ergebnisse der Recherchen und die Aussagen der Interviewten erhalten wir schriftlich, in detaillierten Berichten, illustriert mit Mobiltelefonbildern. Wir sehen mit Säcken überstellte Fabrikflure, Arbeiter*innen an Stehtischen, Stapel von säuberlich in Shein-Plastiksäcke verpackten T-Shirts, neonlichterleuchtete Werkstätten.
Wie die Rechercheurin selbst aussieht, wissen wir nicht. Als sie uns per Videocall von ihren Eindrücken berichtet, bleibt die Kamera aus. Zu gross ist das Risiko, auf den Radar des chinesischen Überwachungsapparats zu geraten.
Was wir über sie sagen können: Sie ist seit rund zwanzig Jahren als Rechercheurin, Aktivistin und Ausbildnerin für in der Industrie Beschäftigte unterwegs, und kennt sich bestens aus im Textilsektor in der Region. Von einer Marke namens «Shein» jedoch hatte sie vor unserer Anfrage noch nie gehört.
Sicherheitsmängel im «Shein Village»
Machen wir uns mit ihr auf, und zwar ins Nancun Village, den ursprünglichen Standort des einstigen Dorfes namens Nancun. Die meisten der Betriebe hier – mehrere Dutzend Werkstätten finden sich in ein paar wenigen Strassen – sind in ehemaligen Wohnhäusern untergebracht. Ein Fabrikbesitzer habe ihr gesagt, im «Village» würde praktisch nur für Shein produziert, erzählt die Rechercheurin. Das habe sie überrascht. Denn solche kleinen, informellen Fertigungsstätten würden normalerweise für lokale Marken herstellen. International ausgerichtete Konzerne bevorzugten in der Regel grössere, besser regulierte Betriebe.
So eng wie in den verwinkelten Gässchen dieses informell gewachsenen Quartiers ist es auch innerhalb der Produktionsstätten. Kleidersäcke und Stoffrollen versperren Gänge und Treppen. Und das nicht nur in den zahlreichen kleinen Werkstätten, sondern auch bei manchen der paar grösseren Betriebe, die es im «Shein Village» ebenfalls gibt. In jener Firma etwa, zu der gemäss Arbeiter*innen sieben nebeneinanderliegende Betriebe gehören, in denen insgesamt mehr als 200 Menschen arbeiten. Gemäss einem an die Wand gepinnten Plakat ist das Unternehmen ein «Hauptzulieferer von Zoetop», der Shein-Muttergesellschaft, und stellt pro Monat 1,2 Millionen Kleidungsstücke her.
Sie habe hier keinen einzigen Notausgang gesehen, und die Eingänge und Treppen seien in keinster Weise darauf ausgerichtet, dass die Arbeiter*innen die Räume in kurzer Zeit verlassen könnten, berichtet die Rechercheurin im Gespräch. Zudem seien die Fenster in den oberen Etagen vergittert. «Ich möchte mir nicht ausdenken, was geschieht, wenn dort ein Brand ausbricht.»
Im September hat Shein auf seiner US-Webseite erstmals einen Verhaltenskodex für Zulieferbetriebe aufgeschaltet. Darin heisst es unter anderem, diese müssten für eine «sichere, hygienische und gesunde Arbeitsumgebung» besorgt sein. Offenbar gibt es da noch einiges zu tun.
In einem der sieben Betriebe kann die Rechercheurin mit einer Arbeiterin und zwei Arbeitern ein längeres Gespräch führen. Was beim Lesen der Gesprächsprotokolle als Erstes auffällt: wie viele Stunden die drei arbeiten. Sie geben alle in etwa die gleichen Arbeitszeiten an: morgens von acht bis mittags um zwölf, dann von halb zwei bis abends um viertel vor sechs, und dann noch einmal abends von sieben bis zehn oder halb elf. An einem einzigen Tag pro Woche wird nach dem Nachtessen nicht mehr gearbeitet. Und pro Monat haben die Arbeiter*innen gerade mal einen Tag frei.
Insgesamt ergibt das im Schnitt über 75 Arbeitsstunden pro Woche.
Das ist nicht nur unvereinbar mit der Forderung nach «angemessenen Arbeitszeiten» im Shein-Verhaltenskodex, sondern in mehrfacher Hinsicht illegal: Gemäss dem chinesischen Arbeitsgesetz darf eine Arbeitswoche maximal 40 Stunden betragen, die Überzeit darf pro Monat 36 Stunden nicht überschreiten, und pro Woche muss es mindestens einen freien Tag geben.
In der Textilindustrie seien solche Arbeitszeiten allerdings gar nicht so ungewöhnlich, sagt die Rechercheurin. Und sie entsprächen dem Wunsch vieler Arbeiter*innen. Denn diese seien ausnahmslos «Migrant Workers»: Frauen und Männer, die aus Provinzen stammen, in denen das Lohnniveau deutlich tiefer ist, die meist nur für eine begrenzte Zeit in der Stadt sind, ohne Familie und ohne Verpflichtungen ausser der, so viel zu verdienen wie möglich. «Im Büro eines Betriebs wirst du vielleicht mal eine Einheimische, einen Einheimischen finden», sagt die Rechercheurin, «aber in der Fertigung sind alles Migrant Workers.»
Und diese können – wenn sie bereit seien, faktisch für zwei zu arbeiten – tatsächlich recht hohe Einkommen erzielen. Alle drei Interviewten geben zu Protokoll, sie würden im Stücklohn bezahlt: je komplizierter das Kleidungsstück, desto höher der Ansatz. Insgesamt sei der Lohn pro Stück hier zwar tiefer als an anderen Orten, an denen er zuvor gearbeitet habe, sagt einer der Interviewten. Dafür seien die Qualitätsansprüche auch nicht all zu hoch. Überstundenzuschlag gebe es keinen.
In guten Monaten bringen die drei trotzdem bis zu 10’000 Yuan oder rund 1400 Schweizer Franken nach Hause, in schlechten Monaten könne es auch mal nur ein Drittel davon sein.
Was auch auffällt: Einen Arbeitsvertrag haben die drei ihrer Aussagen nach nicht unterschrieben. «Solche Fabriken wie diese hier» müssten keine Verträge ausstellen, meinen sie zu wissen.
Dass es in den kleinen, informellen Werkstätten keine Verträge gebe, sei nicht weiter überraschend, sagt die Rechercheurin. Dass auch Firmen mit über hundert Angestellten keine Arbeitsverträge abschliessen würden, erstaune sie dagegen sehr. Denn dazu wären sie gemäss Arbeitsvertragsrecht verpflichtet. Sie müssten den Arbeiter*innen zudem eine Kopie des Vertrags aushändigen. Firmen dieser Grösse gingen in der Regel das Risiko nicht ein, allenfalls hohe Entschädigungszahlungen leisten zu müssen, wenn sie für dieses Versäumnis belangt würden.
Hochautomatisiert und hyperflexibel
Auf der chinesischen Plattform WeChat finden sich zahlreiche Anzeigen von Shein, in denen der Konzern Aufträge an Fertigungsbetriebe ausschreibt. Diese kaufen dann die für das gewünschte Design benötigten Stoffe selbst ein. Allerdings wiederum bei Zulieferern, die von Shein vermittelt werden. Das ermöglicht es dem Konzern, die ganze Wertschöpfungskette zu kontrollieren – ohne viel Verantwortung für die Bedingungen in der Produktion übernehmen zu müssen.
Ob Shein in diesen Betrieben je irgendwelche Inspektionen durchführt, wissen wir nicht. In einem Statement auf seiner US-Webseite beteuert der Konzern, «erhebliche Anstrengungen und Ressourcen» in sein Audit-System zu investieren. Man habe in der Vergangenheit vorab angekündigte Inspektionen durchgeführt und werde künftig weitere – sowohl angekündigte wie auch unangekündigte – vornehmen. Von den zehn Arbeiter*innen, mit denen die Rechercheurin längere Gespräche führt, weiss allerdings niemand von einer Inspektion zu berichten.
In den grösseren Fabriken hängen Plakate an den Wänden, die die Arbeiter*innen daran erinnern, jeweils bei der Arbeit ein- und auszustempeln. Die Fabrikleitung teilt die Daten mit Shein, das Unternehmen vergebe die Aufträge danach entsprechend der Belegschaft, erfahren wir. Erst dieses computergestützte, hochflexible Zulieferersystem macht es offenbar möglich, die Hunderten von kleinen Fertigungsbetrieben effizient zu organisieren.
Meist besteht eine Shein-Bestellung aus lediglich hundert bis zweihundert Stücken, manchmal sind es noch weniger.
Wird ein Produkt in grosser Zahl bestellt, lässt Shein weitere Chargen herstellen – meist bei jenem Zulieferer, der bereits die erste hergestellt hat.
Das freut dann jeweils auch die Arbeiter*innen, die so ein Kleidungsstück herstellen können, mit dem sie bereits vertraut sind, wodurch sie schneller vorankommen und schliesslich auch mehr verdienen. Denn etwas vom Mühsamsten, wenn man für Shein arbeite, sei, dass man sich immer wieder mit neuen Schnittmustern herumschlagen müsse, beklagt der Zuschneider in einer der Fabriken.
Hohe Anforderungen
Die tiefen Stückzahlen, die dafür extrem rasch geliefert werden müssen, limitieren auch die Möglichkeit der Arbeitsteilung. Die Näher*innen in den Fabriken müssen zahlreiche unterschiedliche Arbeitsschritte durchführen können, an stets wechselnden Mustern. Das erklärt auch, weshalb man vor allem auf Frauen und Männer trifft, die jahre-, wenn nicht jahrzehntelange Erfahrung in der Industrie vorzuweisen haben. Unerfahrene wären den Anforderungen schlicht nicht gewachsen.
Für Arbeiter*innen dagegen, die in der Lage seien, relativ einfache Kleidungsstücke rasch zu nähen, gäbe es auf dem prekären Arbeitsmarkt in der chinesischen Textilindustrie wohl wenig andere Jobs, in denen sie mehr verdienen könnten, sagen Expert*innen vor Ort. Die meisten, mit denen sie gesprochen habe, seien mit ihrem Job alles in allem denn auch einigermassen zufrieden gewesen, sagt die Rechercheurin: «Ich glaube aber auch nicht, dass sie sich darüber sehr viele Gedanken machen.»
Gemäss chinesischen Medienberichten kann Shein allein im Stadtbezirk Panyu nicht nur auf ein Netz von 300 bis 400 Hauptlieferanten zählen, sondern zudem auf rund 1000 Subunternehmen, an die Aufträge weitervergeben werden. Deutliches Zeichen des lebendigen Subunternehmertums sind die vor manchen Fabriken parkierten Lastkarren, mit denen Textilien herumgekarrt werden. In vielen der kleinen Betriebe hier in Nancun Village werden ausschliesslich Abschlussarbeiten ausgeführt: letzte Fäden abschneiden, bügeln, verpacken, verladen. Aufträge alleine für die Endfertigung aber finden sich auf der WeChat-Plattform keine. Das heisst, dass diese Betriebe ziemlich sicher im Auftrag von Shein-Zulieferern arbeiten – und sich Shein im Falle eines Unfalls oder ausbleibender Lohnzahlungen wohl erst recht nicht in der Verantwortung sähe.
Kein Vertrag, keine Versicherung
Etwas westlich vom Shein Village, eine knappe halbe Stunde zu Fuss, befindet sich das Honghui Properties Building, ein Gebäude voller Kleiderwerkstätten. Alles hier ist etwas geregelter, die Gänge sind breiter, die Notausgänge markiert, die Fabriken haben bis zu 200 Arbeiter*innen. Auch hier kann die Rechercheurin eine Arbeiterin und einen Arbeiter aus zwei verschiedenen Betrieben interviewen, und was sie erzählen, unterscheidet sich kaum von den Berichten aus dem Nancun Village:
Bezahlt werden auch sie pro Stück, ein Grundgehalt gibt es ebenso wenig wie eine Überzeitentschädigung, sie arbeiten elf Stunden am Tag, haben ein bis maximal zwei freie Tage pro Monat, einen Arbeitsvertrag gibt es nicht.
Auch Sozialversicherungsbeiträge würden keine einbezahlt – obwohl Beiträge sowohl von Arbeitgebenden wie von Arbeitnehmenden gesetzlich vorgeschrieben wären.
Dem interviewten Arbeiter macht aber vielmehr Sorgen, dass die Stückpreise in der letzten Zeit konstant sinken. Und gleichzeitig würden zunehmend nur noch jene Stücke hier genäht, die kompliziert zu fertigen seien. Einfache Aufträge würden immer häufiger in andere Provinzen ausgelagert, nach Jiangxi, Guangxi oder Hunan, wo die Lohnkosten tiefer sind. Tatsächlich steht vor dem Gebäude ein Minivan, an dessen Seiten verschiedene Bezirke in der Provinz Jiangxi vermerkt sind. Eine Art Sammeltaxi für vorgeschnittene Stoffteile, die im Landesinnern zusammengenäht werden sollen. Unter welchen Bedingungen und zu welchen Löhnen dort produziert wird, wissen wir nicht.
Wir folgen unserer Rechercheurin nochmals ein paar Kilometer in Richtung Westen, wo sich zahlreiche weitere Textilfabriken finden; in der Regel sind sie nochmals etwas grösser, beschäftigen bis zu 300 Mitarbeitende, verfügen über leidlich funktionierende Belüftungssysteme und etwas geräumigere Arbeitsplätze, auch Kantinen und Unterkünfte für die Angestellten gibt es in der Nähe. Die fünf Arbeiter*innen dieser grösseren Betriebe, mit denen die Rechercheurin spricht, schildern jene Arbeitsbedingungen, die wir mittlerweile bestens kennen: elf Stunden pro Tag, kein Arbeitsvertrag, keine Sozialversicherungsabgaben.
In einem der Betriebe stossen wir allerdings auf etwas, das wir bislang noch nicht vorgefunden haben: einen garantierten Mindestverdienst. Auf einem Rekrutierungsplakat vor dem Fabrikeingang sind die Mindesteinkommen angegeben: Fäden abschneiden: 4000 Yuan. Verpacken: 5000 Yuan. Bügeln: 7000 Yuan. Beim Bügeln arbeitet man wegen des Dampfes in ständiger Hitze und kann sich kaum mal setzen. So erklärt sich die Diskrepanz.
Die Bestellung
In der Fabrikhalle gelingt es der Rechercheurin, einen Schnappschuss eines Mädchenkleides zu machen. Ein einfaches Teil, blaugeblümt auf weissem Grund. Für solch ein Kleid erhalte eine Näherin wohl höchstens 3 Yuan pro Stück, schätzt die Rechercheurin – 43 Rappen. Wir suchen und finden es auf der Homepage von Shein. Es kostet elf Franken und hat bereits über 200 Bewertungen erhalten. Letzteres erstaunt nicht, denn wer in der Shein-App gekaufte Artikel kommentiert, erhält dafür Punkte, mit denen sich wieder einkaufen lässt. Fast alle Kommentare sind in Arabisch verfasst, ein paar wenige in Englisch: «I lovvveeeeeeeee ittttt», «May baby like it so much».
Ich bestelle das Kleid am 7. September. Dank des Aktionscodes «CH Special» – irgendeinen Aktionscode gibt es immer – reduziert sich der Kaufpreis um 1.10 auf 9 Franken und 90 Rappen. Die Versandkosten betragen stolze 6 Franken und 41 Rappen. Auf Einzelbestellungen ist dieses System offensichtlich nicht ausgelegt. Tags darauf erfahre ich, das von mir bestellte Kleid sei im «International Warehouse» verpackt und das Paket desinfiziert, sterilisiert und verschickt worden. Einen Hinweis darauf, wo sich dieses internationale Warenlager befindet, gibt es nicht – weder in meiner Bestellübersicht noch auf der Webseite von Shein.
Lange Stunden im Warenlager
Rechercheur*innen der Organisation, mit der wir in Kontakt sind, gehen auch dieser Frage auf den Grund. Sie finden heraus: Das riesige Hauptlager von Shein heisst Ambo, gehört zum amerikanischen Logistikkonzern Prologis und steht in Foshan, rund eine Autostunde entfernt von den Fabriken in Guangzhou. Es beschäftigt rund 10’000 Arbeiter*innen, der Betrieb läuft 24 Stunden am Tag, an 365 Tagen.
Aus den zwölf Gesprächen, die die Rechercheur*innen mit Arbeiter*innen des Logistikzentrums führen, ergibt sich das folgende Bild: Auch hier sind die Arbeitszeiten extrem lang – um die 12 Stunden pro Tag im Normalfall, bis zu 14 in der Hochsaison. Gearbeitet wird mindestens 22 Tage pro Monat; die meisten aber schuften 24 bis 28 Tage. Das liegt in erster Linie daran, dass sich der Stücklohn ab dem 23. Tag verdoppelt; im Logistikzentrum setzt sich der Lohn aus einem Fixanteil und einem Betrag pro Stück zusammen. Auch hier gilt also: Wer bereit ist, für zwei zu arbeiten, kann ein ansprechendes Einkommen erzielen: 7000 Yuan (rund 1000 Schweizer Franken) in normalen Zeiten, bis zu 50 Prozent mehr zu Spitzenzeiten. Doch natürlich sind auch diese Arbeitszeiten nicht mit chinesischem Recht vereinbar.
Prologis, der Logistikkonzern aus San Francisco, bestätigt auf Anfrage, dass er Besitzer der Anlage sei. Aber: Für den Betrieb seien alleine die Kunden verantwortlich, die Räumlichkeiten auf seinem Gelände anmieteten. In Bezug auf die überlangen Arbeitszeiten habe man «keine Hinweise auf Verstösse».
Neun Tage nach Aufgabe der Bestellung liegt das Kleid bei mir im Briefkasten. Ich nehme es aus dem Plastikbeutel, betaste das Polyester – und verspüre umgehend den Drang, den Retourversand auf den Weg zu bringen. Als Rücksendeadresse wird mir nicht etwa das Logistikzentrum im belgischen Lüttich angegeben, in das Retouren aus Europa lange verschickt wurden (und in dem wir uns umgesehen haben), sondern eine Adresse in Hong Kong. Ich schaue online nach, wie viel mich der Rückversand kosten würde. Selbst falls es mir gelänge, das Kleidungsstück in ein Briefcouvert zu packen, müsste ich immer noch 9 Franken bezahlen – fast so viel, wie es gekostet hat.
Anders wäre es verlaufen, wenn ich in Deutschland leben würde. Das weiss ich, weil mein Kollege David Hachfeld das Kleid ebenfalls bestellt hat, an seine Adresse in Deutschland. Auch er hatte es zurückschicken wollen – aber Shein wollte das nicht. «Heute ist Ihr Glückstag», beschied man ihm. «Bitte behalten Sie den Artikel auf unsere Kosten.» Der Kaufpreis wurde ihm umgehend zurückerstattet. Der Grund für die Ungleichbehandlung: In Deutschland wirbt Shein mit kostenlosem Rückversand und hätte folglich die Portokosten selbst übernehmen müssen – was sich offenbar bei einem Kleid für unter 10 Euro nicht lohnt. «Man sieht, dass es schnell gehen musste»
Wenn wir das Teil schon nicht zurückschicken, wollen wir wenigstens wissen, was wir da erworben haben. Und zwar von Fachleuten. Im Nähwerk IDM in Thun wollen wir von angehenden Bekleidungsgestalter*innen wissen, wie sie die Machart des Kleides einschätzen. Die Shein-Etikette haben wir abgeklebt, in der Hoffnung auf ein möglichst neutrales Urteil. Es fällt nicht eben positiv aus.
«Ups, da wurde der Stoff nicht mitgesteppt», bemerkt eine Studentin, als sie den Saum inspiziert. «Bei den Nähten sollte es nicht so faltig sein, da wurde nicht gebügelt», bemängelt eine Kollegin. Weitere Kritikpunkte: «Die Fadenspannung ist schlecht.» «Die Nähte sind nicht regelmässig.» «Diese Fäden hätten abgeschnitten werden sollen.»
Die Beurteilung der Ausbildnerinnen, denen wir auch noch ein paar weitere Shein-Artikel vorlegen, fällt nicht ganz so negativ aus. Die Verarbeitung sei mal besser und mal schlechter, insgesamt aber wohl etwa Fast-Fashion-Standard. Die Materialien aber, sagen sie, seien zum Teil so billig, dass man in einem Laden wohl Mühe hätte, sie an die Kund*innen zu bringen.
Die Bilanz
Gehen wir zum Schluss noch einmal gut 9000 Kilometer ostwärts – vom Städtchen Thun in die Megacity Guangzhou – und versuchen, eine Bilanz zu ziehen. Wer aufgrund der Preise von Shein-Artikeln ultratiefe Löhne in den Produktionsstätten erwartet hatte, dürfte auf den ersten Blick erstaunt sein: Wer für Shein Kleider herstellt, kann ein Einkommen erzielen, das deutlich über den 5410 Yuan pro Monat liegt, welche die Asia Floor Wage Alliance, ein Bündnis aus Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen des Globalen Südens, als Existenzlohn berechnet hat.
Nur: Dieser Vergleich hinkt gewaltig. Denn sämtliche zehn Arbeiter*innen, mit denen wir sprachen, verrichten faktisch eher zwei Jobs als einen.
Sie arbeiten elf, zwölf, manchmal dreizehn Stunden, meist sieben Tage die Woche, ohne Aufschlag für Überzeit.
Shein macht es sich systematisch zunutze, dass diese Arbeiter*innen bereit sind, auf ein Mindestmass an Sicherheit, Freizeit und Lebensqualität zu verzichten – weil sie kaum eine Alternative haben.
Keine und keiner der Befragten hat einen Arbeitsvertrag vorzuweisen, gemäss unseren Informationen werden für niemanden von ihnen irgendwelche Sozialversicherungsbeiträge eingezahlt, und viele Betriebe lassen selbst die rudimentärsten Sicherheitsstandards vermissen.
All das sind Verstösse gegen chinesische Gesetze – und damit gegen Sheins Verhaltenskodex.
Im Kodex verlangt Shein von seinen Zulieferern, dass sie «die lokale Gesetzgebung (…) vollumfänglich einhalten».
Als wir Shein mit unseren gesammelten Erkenntnissen konfrontieren, erhalten wir flugs eine automatische Bestätigung: Das Nachhaltigkeitsteam von Shein habe «unsere Vorschläge und Rückmeldungen» erhalten und werde diesen «so schnell wie möglich nachgehen». Dann hören wir nichts mehr, auf eine Nachfrage erhalten wir die gleiche computergenerierte Meldung noch einmal. Ob unser Mail je von einem Menschen gelesen wurde, wissen wir nicht.
Nachdem Shein von Redaktionen namhafter Medien mit unseren Rechercheergebnissen konfrontiert worden ist, meldet sich am Tag vor der Veröffentlichung doch noch jemand bei uns: der «Vizepräsident für Öffentlichkeitsarbeit in den USA» bei «Shein Technology». Wir leiten ihm unseren Fragekatalog weiter – und erhalten einige Stunden später eine kurze Nachricht: «Shein gibt zum jetzigen Zeitpunkt keinen Kommentar ab, da wir auf eine Kopie des Berichts und eine Gelegenheit zur Überprüfung warten. Wir nehmen alle Belange der Lieferkette sehr ernst und freuen uns, wieder von Ihnen zu hören.»
Wie heisst es auf dem Kapuzenpullover, der im Shein-Shop in sechs verschiedenen Farben für 9 Franken erstanden werden kann?
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