Während die Wohlhabenden mitgestalten möchten und wählen gehen, koppeln sich die Ärmeren immer mehr ab, sie stellen den übergroßen Teil der Wahlverweigerer. Dementsprechend haben die reichen Menschen deutlich mehr Einfluss auf die Zusammensetzung der Bundes- und Landtage und der Kommunalparlamente genommen, als die armen.
Die Gründe, nicht zur Wahl zu gehen, sind von ihnen schnell benannt. Sie finden keine Partei mehr, die ihnen ein Angebot macht, niemand fragt sie nach ihren Interessen und keiner setzt sich für ihre Belange ein. Sie haben eine fundamentale Enttäuschung gegenüber der Politik erfahren. Das Gefühl am Rand zu stehen mit dem ohnmächtigen Wissen, auf demokratischem Weg in ihrem Umfeld und in der Gesellschaft allgemein nichts mehr verändern zu können, macht sie immer passiver. Sie haben gemerkt, dass sie Produkt einer Politik sind, die ihnen die Lebensgrundlagen systematisch entzogen hat und dies dann ihnen auch noch als Fortschritt verkauft wird. Die gewählten Politiker selbst haben sich damit abgefunden, dass sie nicht mehr mit den sogenannten Abgehängten in den „Problemstadteilen“ als Wähler rechnen und erreichen können, weil die Kommunikation abgebrochen ist.
So entsteht ein Kreislauf, der nur den konservativen und rechten Parteien nützt und die ganze Gesellschaft weiter nach rechts ausrichtet.
Bei den Bundestagswahlen sind in der Regel rund 25 Prozent der Bevölkerung nicht wahlberechtigt. Ein Viertel der Wahlberechtigten hat auch an der Wahl im September 2021 nicht teilgenommen. 9,7 Millionen Menschen im wahlberechtigten Alter, das sind etwa eine Million mehr als vor vier Jahren, durften nicht zur Wahl gehen, weil sie keinen deutschen Pass haben.
In Zahlen ausgedrückt heißt dies, dass 21 von 83 Millionen Menschen nicht wählen konnten. Doch begründet sich ein Regierungsauftrag daraus, dass gerade einmal etwa jeder siebte von der Bevölkerung für die Partei mit dem Regierungsauftrag gestimmt hat. Weitere 400.000 Menschen wählten ungültig. Hinzu kommen 4 Millionen, das sind 8,6 Prozent, die Kleinparteien gewählt und ihre Stimme verschenkt haben, weil diese Parteien unter der undemokratischen Fünf-Prozent-Klausel blieben.
Vom Wahlergebnis aus betrachtet, wird das Dilemma ebenfalls deutlich. Die Wahlsiegerin SPD erhielt 11,9 Millionen Stimmen, was 25,7 Prozent der Wähler entspricht. Das sind aber zugleich nur 19 Prozent der Wahlberechtigten und weniger als 15 Prozent der Bevölkerung im wahlberechtigten Alter. Trotzdem wird ritualmäßig davon geredet, dass die Partei die Mehrheit errungen hat. Bei den übrigen Parteien, mit noch geringerem Stimmanteil als die SPD, sind die realen Zustimmungswerte noch geringer.
Da gibt es keine Scham, das Parteiengeschäft geht seinen Weg, die Karawane zieht weiter.
Bei den vergangenen Bundestagswahlen lag die Wahlbeteiligung in Dortmund insgesamt bei 73,5 Prozent. In der Innenstadt Nord haben von den knapp 60.000 Bewohnern nur 10.700 ihre Stimme abgegeben, ein Trend, der sich vor allem bei den letzten Kommunalwahlen abzeichnete, deren Auswirkungen für die Menschen im Stadtteil viel größer sind, als bei den Bundestagswahlen.
Kommunalwahl 2020
In der Dortmunder Nordstadt, dem statistischen Bezirk Innenstadt-Nord, lebten am 31.12.2019 genau 59.604 Menschen, 27.739 von ihnen haben einen deutschen Pass und 31.865 besitzen eine andere als die deutsche Staatsbürgerschaft. Von den EU-Bürgern einmal abgesehen, konnte fast die Hälfte der Gesamteinwohner der Nordstadt erst gar nicht an der Kommunalwahl teilnehmen.
Extrem niedrige Wahlbeteiligung
Zur Kommunalwahl 2020 in Dortmund waren im September im Stadtteil 31.255 wahlberechtigte Menschen aufgerufen. Gegenüber der vergangenen Kommunalwahl 2014 hat sich ihre Zahl im Stadtbezirk um rund 700 Personen verringert.
Auffallend ist die extrem niedrige Wahlbeteiligung in der Innenstadt Nord. Von den 31.255 Wahlberechtigten haben hier nur 7.663 Wähler ihre Stimme abgegeben, das macht eine Wahlbeteiligung von nur 24,52 Prozent.
Insgesamt gesehen hatten rund vier Fünftel aller Einwohner der Nordstadt mit der Zusammensetzung ihrer Vertretung rein gar nichts mehr zu tun oder wollen nichts damit zu tun haben.
SPD – zweitstärkste Partei
Die SPD wurde zweitstärkste Partei, aber mit nur rund 2.000 Stimmen. Jeder 15. der wahlberechtigten Stadtteilbewohner und etwa jeder 30. der Gesamtbevölkerung der Nordstadt hat die SPD gewählt, sie wurde im Stadtteil von 3,5 Prozent aller Bewohner gewählt.
Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl im Stadtteil
Die Wahlbeteiligung zur Kommunalwahl im Stadtteil ist kontinuierlich gesunken. Lag sie im Jahr 2004 noch bei 32,6 Prozent, stürzte sie 2009 auf 27,4 Prozent ab. Bei den Wahlen 2014 sank sie weiter auf eine Beteiligung von 25,3 Prozent, um 2020 bei 24,52 Prozent zu landen.
Wahlkreises 3106
Im Gebiet rund um die Stahlwerkstraße in der Nähe des Borsigplatzes liegt der Wahlkreis 3106. Hier wurde den 919 Wahlberechtigten die Unterlagen zugesandt. 111 Menschen haben dort an der Wahl teilgenommen, das sind 12,08 Prozent. Interessant wäre einmal zu rechnen, wie hoch der Anteil der 111 Wähler an der Gesamtbevölkerung über dem 16. Lebensjahr im Wahlkreis 3.106 ist.
In diesem Wahlkreis wurde auch noch einmal deutlich, dass man mit wenigen Stimmen eine hohe Prozentzahl erreichen kann. Die CDU kam hier mit nur 15 Stimmen auf etwas über 14 Prozent.
Wahlbezirk 3
Um ein Ratsmandat oder einen Sitz in der Bezirksvertretung zu erlangen, braucht es gar nicht so viele Stimmen, wie man es sich vielleicht von außen betrachtet, vorstellt. Der Borsigplatz ist der Mittelpunkt des Wahlbezirks 3. Der dort neu gewählte Ratsvertreter hat von den abgegebenen Stimmen nur 650 erhalten, das reicht für einen Sitz im Rat der Stadt Dortmund, einer Stadt mit 600.000 Einwohnern. Die Wahlbeteiligung im Borsigplatzviertel betrug nur 21,95 Prozent. Das neu gewählte Mitglied des Stadtrats erklärt sich das so: „Die Leute haben die Einstellung, dass sich eh nichts ändert“
Ergebnisse in den wohlhabenden Wohngebieten
Die Wahlbeteiligung ist in den wohlhabenden Wohngebieten von Dortmund eine ganz andere, in Kirchhörde/Lücklemberg lag sie bei 64,84 Prozent, der Spitzenwert in Dortmund. Diese Beobachtung lässt sich auf die gesamt Stadt übertragen. In den wohlhabenden Stadtteilen im Süden, Südosten und der Innenstadt Süd haben durchweg rund 60 Prozent gewählt.
Die offiziellen Wahlergebnisse der Bezirksvertretungswahl Dortmund Innenstadt Nord am 13.09.2020
Wahlberechtigte 31.255, Wahlbeteiligung 24,52 Prozent
SPD absolut 1.964 // macht 26,10 %
CDU absolut 729 // macht 9,69 %
Grüne absolut 2.033 // macht 27,02 %
Linke absolut 1.099// macht 14,61 %
FDP absolut 177// macht 2,35 %
Bürgerliste absolut 38 // macht 0,51 %
Die Rechte absolut 130 // macht 1,73 %
DKP absolut 57 // macht 0,76 %
AfD absolut 386// macht 5,31 %
BVT absolut 354 // macht 4,70 %
Die Partei absolut 379 // macht 5,28 %
Piraten absolut 91 // macht 1,21%
DOS absolut 69 // macht 0,92 %
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Einer der Gründe für das sinkende Interesse an der gängigen Parteienpolitik in der Kommune ist der Niedergang der Parteien selbst.
Die Herzkammer der Sozialdemokratie ist blutleer
Die SPD in Dortmund hatte in den 1990er Jahren noch über 25.000 Mitglieder, davon 3.000 Jusos, bei fast 600.000 Einwohnern insgesamt. Es gab über 100 Ortsvereine, deren monatliche Versammlungen mit 30 bis 40 Personen durchweg gut besucht waren. Bei besonderen Anlässen konnte man aber schnell ein Drittel der meist über 300 Ortsvereinsmitglieder mobilisieren, eine besonders effektive Politik, die vor allem die Jusos gut beherrschten.
Die „Parteikultur“ prägte auch noch die Stadtteile wie den Dortmunder Norden. Es gab keinen Verein, keine Initiative, keine Gewerkschaftsgruppe, die von der Sozialdemokratie nicht beeinflusst und meistens auch gegängelt wurde. Alles, was vor Ort passierte, ob gutes oder schlechtes, wurde in die Partei transportiert. Was dann daraus gemacht wurde, war nicht immer besonders gut, aber die Beteiligung der Menschen war weitgehend gewährleistet.
Heute hat die SPD in Dortmund noch knapp 5.500 Mitglieder, die in der Mehrzahl überaltert und inaktive Karteileichen sind. Wichtige Posten und gesellschaftliche Funktionen können schon lange nicht mehr von der SPD beschickt und besetzt werden.
Eine heftige Entwicklung, die in der „Herzkammer der SPD“ abgelaufen ist – in anderen Orten ist der Untergang der SPD noch krasser.
Wenn man nachschaut, wie viele Menschen sich in Dortmund politisch engagieren, ist man erstaunt. Knapp 50.000 politisch Interessierte sind in den zahlreichen (Bürger)-Initiativen, Gruppen der sozialen- und Umweltbewegung und kleinräumigen Stadtteilgruppen aktiv. Von „Politikverdrossenheit“ keine Spur.
Niedrige Wahlbeteiligung und prekäre soziale Situation
Das neu gewählte Mitglied des Stadtrats aus dem Wahlbezirk 3, Sohn von Zuwanderern, der in der Nordstadt aufgewachsen ist, weiß wohl gut, warum in seinem Wahlkreis die Wahlbeteiligung seit Jahrzehnten dramatisch sinkt und er erklärt das so: „Die Leute haben die Einstellung, dass sich eh nichts ändert“, er wird damit wohl richtig liegen.
Die Menschen stimmen schon ab, aber mit ihren Füßen und nicht mit dem Wahlzettel.
Sie wissen genau, wie sie als Nordstädter in den Augen der „leistungstragenden” Besserverdiener und Wohlhabenden gesehen werden, nämlich als Hartz-IVer, Prekär-Beschäftigte, Zuwanderer, Obdachlose, Langzeitarbeitslose, Behinderte etc.
Sie wissen, dass sie zur wachsenden Gruppe der Verlierer gehören, Produkt einer Politik sind, die ihnen die Lebensgrundlagen systematisch abgegraben hat.
Sie leben in einem Stadtteil mit schlecht ausgestatteten Schulen, Armut und Schulden, hoher Gift- und Lärmbelastung und einer miserablen Wohnsituation mit steigenden Mieten und sinkenden Einkommen.
Sie haben erfahren, dass sie nicht mehr mit der Selbstoptimierung im beinharten Konkurrenzkampf mithalten können, in dem alles zur Ware geworden ist.
Sie leben in einem Umfeld, in dem die monetäre Bewertung des Menschen das ganze Alltagsleben bestimmt und derjenige überhaupt noch etwas zählt, wenn er etwas leistet, nützlich und effizient ist.
Sie haben ein Bildungssystem erlebt, das sie schon früh ausgesondert hat.
Sie werden von den Behörden schikaniert und bekommen nicht einmal das Lebensnotwendige zugestanden, auf das sie ein Recht haben. Die gesetzlich vorgeschriebene Beratungs- und Auskunftspflicht gilt für sie nicht, sie werden einfach von den Securitys aus den Ämtern hinausgeschmissen.
Sie werden schon bei geringen Vergehen von der Polizei und den Ordnungskräften verfolgt und von der Justiz drakonisch bestraft.
Sie wissen, dass in den Kommunalparlamenten Personen sitzen, die studiert haben, reich sind und nicht die Bevölkerung widerspiegeln, die sie vertreten sollen.
Sie wissen, es bestimmen Wähler mit ihrer Wahl Ratsmitglieder, die auf sie herabschauen und sie verachten.
Niemand interessiert sich dafür, dass sie sorgende Väter, liebevolle allein erziehende Mütter, fleißige, ehrliche und hilfsbereite Menschen sind.
Was sie nicht wissen, aber vielleicht erahnen, ist die große Angst der wohlsituierten Menschen aus den anderen Stadtteilen davor, morgen auch schon nutzlos zu sein und auch abzustürzen. Deshalb werten sie die Schwächeren ab, um sich damit zu beweisen, dass noch jemand unter ihnen auf der sozialen Treppe steht.
Quellen: WAZ, Stadt Dortmund, Wilhelm Heitmeyer Bild: flickr cco