Der Streik bei Ford in Köln im August 1973 war ein tiefer Einschnitt in der Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg – der Arbeiterbewegung in Deutschland, nicht der „deutschen Arbeiterbewegung…“ Der Ford-Streik markierte als Teil der breiten Streikbewegung von Mai bis Oktober 1973 das Ende einer Zeit relativen „Klassenfriedens“. Die Periode des oft und gerne verklärten „Wirtschaftswunders“ war endgültig vorbei.
An den „wilden“ – nicht von den Gewerkschaften geführten – Streiks im Sommer 1973 beteiligten sich 300.000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Betriebe, in denen die Belegschaften aufbegehrten, waren unter anderem John Deere in Mannheim, die Klöckner-Hütte Bremen, die Hella-Werke Lippstadt, Pierburg in Neuss, AEG-Küppersbusch in Gelsenkirchen, Opel in Bochum, Philips/Valvo in Bremen, Rheinstahl in Bielefeld/Duisburg und Buderus in Lolla/Hessen.
Baha Targün war Streikführer des „Wilden Streiks“ (1973) bei Ford-Köln, der hauptsächlich von türkischen Arbeitern getragen wurde. In die Geschichte der türkischen Migranten ging dieser Streik als Wendepunkt ein. Er war das Ende des Bildes vom unterwürfigen türkischen „Gastarbeiter“. „Einfügsam und durchaus brauchbar, wenn man ihn nur richtig anpackt“ – so hieß es in einer zeitgenössischen Einschätzung. Für fast alle kam dieser Streik deshalb völlig unvorbereitet. Er war eine ungeheure Explosion, die mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wurde.
Der Streik brach Ende August 1973 aus. Der Anlass war die Entlassung der zu spät aus dem Urlaub in der Türkei zurück kommenden türkischen Arbeiter. Die Arbeitssituation verschlechterte sich, weil die Arbeit der fehlenden Arbeiter von den anwesenden übernommen werden musste. Schon lange war die schwere Arbeit und das Tempo am Fließband unerträglich. Mehr als fünf Jahre war die körperliche Belastung kaum zu überstehen. Doch genau dafür wurden über 11.000 türkische Arbeiter von Ford/Köln angeworben. Ford ersparte sich mit billiger Arbeit die sonst schon übliche Mechanisierung der Arbeit. So brauchte es nur eines Zündfunkens und ein Streik mit bisher nicht gekannter Radikalität nahm seinen Lauf.
Baha Targün gab dem explodierenden Zorn der türkischen Arbeiter ein Gesicht und seine Stimme. Bahas Leidenschaft und große Empathie hielt eine Mischung von Menschen zusammen, die bisher noch keine gemeinsame Streikerfahrung hatten.
Die türkischen Arbeiter entsprachen nicht dem gängigen Bild des türkischen „Gastarbeiters“ und auch nicht unserem Bild von der revolutionären Arbeiterklasse. Sichtbar wurden erstmals Muslime, Kommunisten, Antikommunisten, Bauern, Türken und Kurden, viele qualifizierte Facharbeiter aus der Westtürkei, Siedler aus den illegalen Siedlungen (gecekondu) Istanbuls, die schon in der Türkei Migranten waren, usw. Die Agitprop der linken Gruppen erwies sich als weltfremd und völlig ungeeignet die Menschen zu erreichen. Baha Targün hat sehr schnell diesen Ballast abgeworfen. Seine Sensibilität im Umgang mit der Vielfalt der Streikenden beeindruckte selbst seine politischen Gegner. Drei und einen halben Tag lang wurde die Fabrik gewaltlos besetzt. Die Streikleitung setzte durch, dass selbst gegen die bald gewalttätig auftretenden Provokateure nur passiver Widerstand geleistet wurde. Keine Maschine wurde beschädigt.
Der Streik mit bis zu 8.000 Türken und nach einem Tag nur noch ca. 20 deutschen Arbeitern musste seine Form in wenigen Tagen selbst finden. Deshalb griffen die Streikenden auf ihre gemeinsame türkische Militärerfahrung zurück. Der Streik wurde militärisch organisiert. Baha Targün wurde „Ba ¸ skan“ (Präsident/Hauptmann) genannt. Streikwachen bildeten sich nach regionaler Zusammengehörigkeit. Auf den Fotos von Gernot Huber ist das Leben der Streikenden zu sehen. Es wurde diskutiert, abgestimmt, gesungen, musiziert, gebetet, getanzt, gemeinsam gegessen, organisiert, einem Erzähler türkischer Märchen zugehört. Noch Jahre später, trotz der furchtbaren Niederlage, berichten Teilnehmer des Streiks: sie haben sich endlich wieder als Menschen gespürt. Ein Leben hier in Deutschland und nicht nur in den wenigen Wochen im Urlaub zuhause in der Türkei. Bei keiner Demonstration habe ich jemals eine solche Inbrunst und Lebensfreude erfahren. Bah a mit dem Megafon und tausende rufen: Alta hafta Urrlaub, (6 Wochen Urlaub), Bir marker zam (1 DM mehr). Das schallt heute noch in meinen Ohren.
Es war ein kurzer Moment, in dem die Situation der türkischen Arbeiter ans Licht der deutschen Öffentlichkeit geriet. Mit Gebrüll stürmte die Polizei den Betrieb. Mit dabei: Werkschutz, angeheuerte rechtsradikale Schläger, Gewerkschaftsfunktionäre, Meister, Vorarbeiter. Baha Targün wurde schwer verletzt. Die Werksleitung bedankte sich nach dem Streik öffentlich für den „persönlichen Einsatz der Betriebsräte unter der Führung des Betriebsratsvorsitzenden“.
Seitdem änderte sich Vieles, zum Guten und zum Schlechten. Zum einen: Hunderte türkischer Arbeiter wurden entlassen, wurden arbeitslos oder sofort ausgewiesen. Im Betrieb wurde die politische Verfolgung und Spitzelei perfektioniert. Bis weit in die bürgerliche Presse hinein brach offener Rassismus und Hass gegen die Streikenden aus. „Türkenterror“, „Das sind keine Gäste mehr“ (BILD), „Günstiger Nährboden für Agitation – Türken leben in einem selbstgewählten Getto“ (FAZ). Der soziale Konflikt wurde „ethnisiert“. Die ziemlich einflusslosen linken Gruppen wurden aufgeblasen zu Verführern der „gutwilligen und disziplinierten“ türkischen Opfer.
Zum anderen aber: Gewerkschafter sehen heute das Verhalten des Betriebsrats als eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Gewerkschafts-Geschichte nach 1945. Die Arbeit der Gewerkschaft veränderte sich langsam. Die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen verbesserten sich. Über den Ford-Streik entstand eine unüberschaubare Vielfalt von TV-Filmen, Reportagen, Büchern, Dokumentationen, Fotoausstellungen, Theaterstücke usw. Dabei kamen auch die türkischen Arbeiter endlich selber zu Wort. Vier türkische Migranten gründeten 1990 das „DOMIT“ (Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei), heute eine bundesweit einzigartige Sammlung an sozial-, alltags- und kulturgeschichtlichen Zeugnissen zur Geschichte der Migration in Deutschland. (Köln-Ehrenfeld).
Schematische Bilder vom türkischen Migranten begannen sich aufzulösen. Baha Targüns Lebenslauf ist dafür ein drastisches Beispiel. Geboren 1943 in Istanbul, Abitur am Eyüp-Gymnasium, wegen einer Lungenerkrankung vorzeitige Beendigung des türkischen Militärdienstes, reiste als Bühnenleiter einer kleinen Theatergruppe durch die Türkei, 1969 Einreise nach Deutschland als Tourist, seine Schwester wohnte bereits in Köln. Er immatrikulierte sich für Soziologie in Köln und arbeitete als ungelernter Schlosser, später Dolmetscher bei einer Versicherung und am Schalter einer Filiale der Deutschen Bank. 1973 Arbeiter bei Ford. In der Türkei nach 1969 Journalist, Rundfunkautor und Reiseführer.
Die schon Wochen vor dem Streik vor den Werkstoren versammelten linken Gruppen spielten eine gewisse Rolle bei der Vorbereitung des Streiks. Sie lieferten Informationen über das Werk und über Streiks in anderen Fabriken. Mit Ausnahme Baha Targüns hatten die im Betrieb arbeitenden, meist studentischen Kader wenig Einfluss auf den Verlauf des Streiks. Von außen lieferten die linken Gruppen Megaphone, Schilder, Stoff und Farbe für Transparente, manchmal Essen und Getränke und sie druckten Flugblätter. Das war noch das Beste, was sie tun konnten. Nach dem Streik bilanzierten die meisten ihre „Fabrikintervention“ recht nüchtern.
Einen Schatten auf den Streik warfen die zahllosen „Solidaritätskampagnen“. Das Solidaritätskomitee, gegründet zur Unterstützung der verfolgten und entlassenen Ford-Arbeiter, wurde gespalten und geriet unter den Einfluss der KPD (AO) und ihrer „Roten Hilfe“. Das konnte nur gelingen durch die Ausnutzung Baha Targüns. Mit ihm als Zugpferd sollte im Nachhinein der Kampf um die politische Führung des Streiks gewonnen werden.
Baha Targün konnte sich diesem Spuk entziehen und begann in der Türkei ein neues Leben. Zu den verschiedenen Gedenkveranstaltungen zum Streik kam Baha nicht mehr aus der Türkei zurück. Er wolle sich nicht mehr „funktionalisieren“ lassen. Und wir sollen ihn in Erinnerung behalten, wie wir ihn vom Streik kennen.
———————————-
Baha Targün starb am 17.7.2020 im Krankenhaus von Zonguldak nach einem Kletterunfall. Eine Gedenkveranstaltung in Köln musste wegen Corona abgesagt werden.
———————————–
Der Autor:
Götz Schmidt, geb. 1941 in Lodz/Polen. Herkunft Bessarabien/Russland. Flucht 1945 über Berlin nach Württemberg. Studium Tübingen. Seefahrt Handelsmarine. FU Berlin. K-Gruppe Dortmund, Köln. Arbeit in der Landwirtschaft, Landjugend. Redakteur Bauernblatt. Gemüseanbau. Dozent biolog. Landbau Uni Kassel/Witzenhausen. Ab 2009 Autor. Themen: Landwirtschaft, Kindheit in Krieg und Nachkrieg.
———————————–
Siehe auch: ford73.blogsport.de und https://domid.org
Zitat 1:
„lch bin mit 22 Jahren hierher gekommen und bin jetzt seit 16 Jahren hier. Noch zwei Jahre, dann bin ich 40, und dann kehre ich also mit 40 Jahren in die Türkei zurück. Kann denn ein Arbeiter noch mit 40 Jahren eine Arbeit bekommen? Unmöglich! Ich kann nicht zurück. Das ist der Grund. Wenn ich dort Arbeit suche, werden sie mich fragen, wie alt ich bin, und wenn sie in meinem Pass sehen, dass ich 40 bin, werden sie sagen: „Tut mir leid, wir nehmen nur 25- bis 3O-Jährige, warum bist du nicht früher gekommen.“ „Ja, ich war in Deutschland.“ „Du hast deine Jugend dort verbraucht, was soll ich noch von dir bekommen?“ Ich bin ein ausgetrockneter Baum, wie soll ich noch groß was hergeben können?“
Ali, ehemaliger Ford-Arbeiter; aus: Giefer/Baumgarten: „Diese spontane Arbeitsniederlegung war nicht geplant“. WDR TV-Reportage, 1982.
Zitat 2:
„Wenn ich ein Deutscher wäre, würde ich mindestens soviel verdienen wie ein Vorarbeiter. Weil ich ein Türke bin, muss ich wie ein Tier arbeiten und bekomme das wenigste Geld. Wenn ich krank bin, kommt gleich die Kündigung ins Haus. Was mache ich? Krank wie ich bin, wieder zur Arbeit, die eine Seite vor Schmerzen haltend, die andere Seite verbunden, auf zur Arbeit mit Leistenbruch. Warum der Leistenbruch? Der kommt von der schweren Arbeit. Dreimal bin ich deswegen operiert worden – jedes Mal haben sie mich wieder die gleiche Arbeit machen lassen.
Warum das Ganze? Weil es in Deutschland keine Gewerkschaft gibt. Wenn es richtige Gewerkschaften gäbe, hätte ein Meister oder Hallenchef nicht so viel zu sagen. lmmer wieder haben sie mich an den gleichen Arbeitsplatz geschickt. Weil ich Ausländer bin.
Wenn ich Deutscher wäre, hätte ich an die IG Metall nach Frankfurt geschrieben oder hätte dem Meister die richtige Antwort gegeben. Als Deutscher hätte ich auch meine Familie hier gehabt, die mich unterstützt hätte… Aber nein, trotz Attest haben sie mich, ob ich wollte oder nicht, die schwere Arbeit machen lassen. „Muss, muss“ heißt es da immer. Ja, einmal habe ich gestreikt, aber jetzt – aus Angst, meine Kinder werden nichts mehr zu essen bekommen, habe ich angefangen alles in mich reinzufressen. Sie sagen, wir Türken wären alle verrückt. Klar, irgendwann dreht einer eben durch und haut dem Meister den Hammer auf den Kopf… Die Arbeit, die Hitze, irgendwann…“
Mehmet, ehemaliger Ford-Arbeiter; aus: Giefer/Baumgarten: „Diese spontane Arbeitsniederlegung war nicht geplant“. WDR TV-Reportage, 1982)
Der Beitrag erschien auf https://www.lunapark21.net/ und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt. Bild: 1 Gernot Huber 2 Baha Targün privat