Tacheles – Vorschläge zum Umgang mit der Corona-Krise für einkommensschwache Haushalte

Wie wir in den letzten Tagen schmerzlich zu spüren bekamen, hat die Corona-Krise mittlerweile den nahezu vollständigen Stillstand des gesellschaftlichen Lebens zur Folge. Mit diesem Stillstand werden leider erhebliche wirtschaftliche und soziale Folgen einhergehen. Insbesondere aufgrund des Wegfalls von Aufträgen und Arbeitsplätzen werden deutlich mehr Menschen als bislang auf staatliche Leistungen angewiesen sein – und sei es nur für eine Übergangszeit. Denn neben den Menschen, die bereits jetzt Sozialleistungen beziehen (SGB II/SGB XII/AsylG/KIZ/WoGG), werden auch Selbständige, Künstler*innen, Geringverdienende, Minijobber*innen und durch die Corona-Krise wirtschaftlich Strauchelende auf soziale Leistungen der Arbeitslosenversicherung  und Grundsicherung angewiesen sein.

Da es einkommensschwachen Haushalten in der Regel auch an entsprechenden Rücklagen fehlt, um die ausfallenden Einkünfte eine Weile lang auszugleichen, erlauben wir uns eine Reihe von Vorschlägen zu machen, wie die Krise für alle Beteiligten abgefangen werden kann.

Im Folgenden haben wir deshalb 29 Vorschläge ausgearbeitet, die zum Teil sofort, zum Teil erst nach vorheriger Gesetzesänderung umgesetzt werden könnten und einen wertvollen Beitrag leisten würden, um die Versorgung aller Betroffenen sicherzustellen:

I. Finanzielle Zusatzleistungen

1. „Corona-Einmalzahlung“ für SGB II-, SGB XII-, AsylG-, KIZ-, WoGG- und geringverdienen Haushalte 

Im Zuge der Krise haben in den meisten, wenn nicht gar allen Städten die Tafeln, die einen maßgeblichen Beitrag zur Lebensmittelversorgung von Sozialleistungsbeziehern leisten, geschlossen. Hinzu kommen Preissteigerungen und Mehrkosten.

Um all dies zu kompensieren, schlagen wir eine Einmalzahlung in Höhe von 500 € für jeden SGB II-, SGB XII-, AsylG-, KIZ – und WoGG-Single-Haushalt, sowie in Höhe von 250€ für jede weitere Person vor, um dies zu kompensieren.

Wenn kein  SGB II-, SGB XII-, AsylG-, KIZ- und WoGG-Bezug vorliegt, sollen auch Haus-halte mit geringem Einkommen, sog. Niedriglohnhaushalte, aufstockende Einmalzahlungen in Höhe des Differenzbetrages zwischen dem (nach SGB II-Regeln bereinigten) Einkommen und ihrem SGB II-Bedarf zzgl. des Einmalzahlungsbetrages erhalten

2.  „Corona – Zuschlag“: Temporäre Erhöhung der SGB II-, SGB XII-, AsylbLG-Regelbedarfe

Während der laufenden Corona-Krise sollten die SGB II-, SGB XII-, AsylbLG – Regelbedarfe um einen Corona-Zuschlag von 100 € erhöht werden.

Damit sollen Mehrkosten für gesundes, vitaminreiches und ausgewogenes Essen abge-federt werden. Dies ist Voraussetzung für die Stärkung des Immunsystems und Schutz vor Krankheiten.
Zudem fällt die kostenlose Essensversorgung von  Kindern wegen Kita- und Schulschließungen weg. Die Tafeln schließen und die Lebensmittelpreise steigen. Ältere, kranke und behinderte Menschen werden Probleme bei der Beschaffung von Lebensmitteln haben und sich teilweise mit Lebensmitteln beliefern lassen müssen. Dies ist mit erheblichen Mehrkosten verbunden. Ferner soll damit einkommensschwachen Menschen der Risikogruppen die Möglichkeit gegeben werden mit Taxi oder sonstigen Verkehrsmitteln zu Ärzten und Therapeuten zu kommen.
Das sollte als befristeter Corona-Zuschlag umgesetzt werden.

3.  Anspruch auf Übernahme von Kosten für einen Computer zum Zwecke des E-Learning
Aufgrund der Corona-Krise  haben auch immer mehr Schulen geschlossen und bieten stattdessen einen virtuellen Unterricht an. Viele Haushalte im SGB II-, SGB XII-, AsylbLG-, KIZ- und WoGG-Leistungsbezug haben nicht die wirtschaftlichen Ressourcen um die dafür notwendigen Geräte anschaffen zu können. Es wird daher vorgeschlagen, für diese Haus-halte einen Zuschuss von 350 € für einen Laptop und 100 € für einen Drucker, Papier und Tinte zu erbringen. Der Personenkreis sollte der gleiche sein, der Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket erhält oder erhalten könnte.
Im SGB II besteht hierfür beispielsweise in Form des § 21 Abs. 6 SGB II bereits eine entsprechende Anspruchsgrundlage (vgl. im Hinblick auf Mehrbedarfszuschüsse für einmalig anzuschaffende, aber laufend benötigte Bedarfe die Schulbuchurteile des BSG v. 08.05.2019 – B 14 AS 6/18 R und B 14 AS 13/18 R).

4.   Anspruch auf Übernahme von Kosten für einen Computer zur gesellschaftlichen Teilhabe
Es ist zu erwarten, dass es  im Rahmen der Corona-Krise drastischen Isolationsmaßnahmen und Ausgehverbote angeordnet werden, hier ist die gesellschaftliche Teilhabe durch internetfähige Geräte sicherzustellen.

Deshalb sollten Menschen, die im SGB II-, SGB XII-, AsylbLG – Bezug sind, Leistungen in Höhe von 350 € zum Kauf eines Laptops oder Computers gewährt werden. Auch dies könnte im SGB II auf § 21 Abs. 6 SGB II (Mehrbedarf) gestützt werden. Im SGB XII ließe sich § 73 SGB XII und im AsylbLG § 6 AsylbLG (sonstige Leistungen) heranziehen.

5.  Hilfen für Freiberufler, Selbstständige, Künstler und Kulturschaffende und in wirtschaftliche Not kommende Gewerbetreibender

Durch die Schließungsverfügungen nach dem IfSG ist dieser Personenkreis in besonderem Maße betroffen. Denn während auf der einen Seite die Einnahmen komplett weggebrochen sind, müssen auf der anderen Seite Miete, Energiekosten, Versicherungen und Kosten für ein Kfz trotzdem laufend gezahlt werden. Um diesen Personenkreis in der schwierigen wirtschaftlichen Lage zu unterstützen, sollten die bestehenden Zuschuss- und Darlehensregelungen (§16c SGB II) umfassend genutzt und zugunsten der Leistungsberechtigten ausgelegt werden. Der Höchstbetrag für Förderungen nach § 16c Abs. 1 S. 2 SGB II sollte angesichts der Krisensituation auf 20.000 € erhöht werden. Zudem sollte die Regelung von einer Kann Regelung in eine Soll-Regelung umgewandelt werden und dahingehend modifiziert werden, dass diese Leistungen auf Zuschussbasis zu erbringen sind.

II. Verfahrensbeschleunigung und -vereinfachung

6.  Aussetzen aller sanktionsbewehrten Meldetermine

Derzeit gilt in sämtlichen Bundesländern die Devise, dass alle nicht notwendigen Kon-takte auf ein Minimum reduziert werden sollen. Hinzu kommt, dass in der derzeitigen Ausnahmesituation, alle Betroffenen mit erheblichen Sorgen um ihre Existenz und Gesundheit beschäftigt sind.

Als Reaktion hierauf, sollte die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter in den jeweiligen Rechtssystemen alle sanktionsbewerten Meldetermine nach § 309 SGB III und § 59 SGB II aufgeben, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren und den Menschen nicht eine zusätzliche Bedrohung in Form der vollständigen oder teilweisen Leistungsver-sagung aufzubürden. Dazu gehören auch alle Aufforderungen zum persönlichen Erscheinen nach § 61 SGB I.

Zudem sollten die Sozialleistungsträger in der Zeit der akuten Phase der Corona-Krise jede Belehrung mit Hinweis auf die vollständige oder teilweise Leistungs-versagung im Regelfall aufgeben.

7.  Befristete Aussetzung der persönlichen Arbeitslosmeldung im SGB III

Arbeitslose müssen sich um den Anspruch auf ALG I-Leistungen erhalten, sich binnen einer Woche persönlich arbeitslosmelden (§ 137 Abs. 1 Nr. 2 SGB  III). Diese Regelung ist in der Zeit der Corona-Krise wegen unnötiger Belastung und Gefährdung für Arbeitslose und Behördenmitarbeiter*innen außer Kraft zu setzen.

8.  Vereinfachtes Antragsverfahren, keine Verweisung auf vorrangige Leistungen und Umsetzung der Regelung zur vorläufigen Leistungsgewährung und Vorschüsse

Aufgrund der zu erwartenden zunehmenden Zahl an Antragsteller*innen in Verbindung mit der eingeschränkten Erreichbarkeit vieler Sozialleistungsträger, muss sichergestellt werden, dass die Menschen die SGB II und SGB XII–Leistungen beantragen an diese Leistungen durch ein vereinfachtes Antragsverfahren kommen. Die Leistungen müssen möglichst unbürokratisch, zuverlässig und schnell zur Auszahlung gebracht werden.

a.   Daher sollte sichergestellt werden, dass das Antragsverfahren entbürokratisiert wird. So könnte u.a. die Zahl der einzureichenden Unterlagen vor der erstmaligen Leistungsgewährung deutlich auf das Notwendigste reduziert werden (z.B. nicht die Geburts- und Heiratsurkunde, vollständige Konto-auszüge der letzten Jahre…). Die weiteren Unterlagen könnten dann im laufenden Bezug noch nachgefordert werden.

b. Um zu verhindern, dass Menschen aufgrund einer Quarantäne oder anderer Schutzmaßnahmen keinen förmlichen Weiterbewilligungsantrag stellen können, sollte vorläufig eine formlose telefonische oder digitale Folgebeantragung im SGB II-, SGB XII-, AsylG-, KIZ- und WoGG-Bezug akzeptiert werden.

c.  Da die Zeit drängt und viele Betroffenen nicht die notwendigen Mittel haben, um sich auf andere, scheinbar vorrangige Träger verweisen zu lassen, sollte die Versagung von SGB-II – Ansprüchen unter Berufung auf andere Träger gestoppt werden. Mittel anderer Leistungsträger, die nicht konkret im Bedarfsmonat zufließen und zur Sicherung des Lebensunterhalts zur Verfügung stehen, dürfen in keinem Fall zur Ablehnung von SGB II-Leistungen benutzt werden. Das ist durch Weisung und Gesetzesänderung sicherzustellen.

d.   Im Hinblick auf die Sicherstellung der Versorgung sollte umfangreich vom Instrument der vorläufigen Leistungsbewilligung Gebrauch gemacht werden. In Verfahren, in denen der Sachverhalt zwar noch nicht zur Gänze ermittelt ist, aber bei summarischer Prüfung geklärt ist, dass der Leistungsanspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit besteht, sollte eine Leistungsbewilligung innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Diese beschleunigte Bewilligung könnte zunächst durch Weisung und später durch gesetzliche Regelungen sichergestellt werden.

Wir regen daher an, in der jeweiligen Vorschrift die Neuregelung einzufügen, dass bei Erst- und sonstigen Antragsstellungen Leistungen innerhalb von zwei Wochen zu erbringen und auszuzahlen sind. Dazu könnte für das SGB II nach § 41a Absatz 1 Satz 1 SGB II eine Regelung eingefügt werden, in der bestimmt wird, dass nach Eingang eines gesonderten Antrages auf vorläufige Leistungs-gewährung diese bis spätestens nach Ablauf von zwei Wochen zu erbringen ist.

9.   Einfacher Zugang zur Beratungshilfe

Die Regelungen zum Zugang zur Beratungshilfe müssen gelockert werden.

Jedem*Jeder Bürger*in, der*die einen Beratungshilfeanspruch geltend macht und der*die die finanziellen Voraussetzungen dafür erfüllt, ist Beratungshilfe zu gewähren. Die Prüfung, ob er*sie anderweitig Hilfe bekommen kann, ebenso wie die gängige Praxis Beratungshilfe für Widerspruchsverfahren nicht zu gewähren, sind aufzugeben.

In den Bundesländern Bremen und Hamburg, ist, da es hier keine Beratungshilfe gibt, entsprechend der Berliner Regelung ein Wahlrecht zwischen einer öffentlichen Beratung und einer anwaltlichen Beratungshilfe einzuführen.

10.  Fortführung der Finanzierung von Arbeitsmarktmaßnahmen

Durch Quarantänemaßnahmen, berechtigtes Fernbleiben von Maßnahmen und auf Anordnung der Ministerien und der Bundesagentur für Arbeit, werden und müssen alle Arbeitsmarktmaßnahmen beendet werden. Für die Maßnahmenträger entfällt somit eigentlich auch die Finanzierung. Diese Trägerkosten sind während der Corona-Krise weiter zu zahlen. Eine Nichtzahlung hätte zur Folge das die Träger Pleite gingen und nach der Corona-Krise nur noch ein kleiner Teil von Trägern existieren würde.

11. Aussetzung des Schriftformerfordernis bei Widersprüchen

Nach § 84 Abs. 2 SGG bedürfen Widersprüche der Schriftform. Eine Mail, insofern sie nicht nach dem DE-Mail-Gesetz zertifiziert ist, erfüllt dieses Formerfordernis nicht. Da vom Robert-Koch-Institut angeraten wird, persönliche Kontakte nach Möglichkeit zu vermeiden, wird unsererseits angeregt diese Regelung für sechs  Monate auszusetzen. Denn Leistungsbezieher verfügen in der Regel weder über einen DE-Mail Zugang noch über ein Faxgerät und wären somit gezwungen, die Bescheide bestandskräftig werden zu lassen oder persönlich zu den jeweiligen Jobcentern zu gehen oder mit dem ÖPNV zu fahren und sich dadurch einer möglichen Ansteckungsgefahr auszusetzen.

12. Verpflichtung zur Bestätigung von Anträgen, Widersprüchen, eingereichter Unterlagen innerhalb von zwei Wochen

Soweit die Sozialleistungsträger in der Praxis dazu übergegangen sind (bzw. noch übergehen werden), Unterlagen nur noch über Ihre Hausbriefkästen anzunehmen bzw. die Stellung von Anträgen am Telefon zu ermöglichen, so ist dies zunächst aufgrund der verringerten Kontaktmöglichkeit zu begrüßen. Für die Leistungs-berechtigten stellt dies aber gleichzeitig ein Beweisproblem dar, da sie in diesen Fällen keinen Zugangsnachweis erhalten. Daher sollte für alle Sozialleistungsträger geregelt werden, dass sie binnen einer Woche eine schriftliche Eingangs-bestätigung zu geben haben. Sofern eine solche nicht erfolgt, wissen die  Leistungsberechtigten, dass ihre Unterlagen vermutlich verloren gegangen sind und erhält die Gelegenheit diese erneut (fristwahrend) einzureichen.

13.   Aussetzung der Regelung über Ortsabwesenheit und postalische Erreichbarkeit

§ 7 Abs. 4a SGB II bestimmt, dass SGB II – Beziehende einer Residenzpflicht unterliegen und werktäglich persönlich, postalisch erreichbar sein müssen. Erfüllen sie diese Anforderungen nicht, verlieren sie ihren Leistungsanspruch. Diese Regelung ist in Zeiten der Corona-Krise komplett auszusetzen. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum in Zeiten von drohender Ausgangssperre eine Residenzpflicht bestehen soll. Es ist vielmehr auch den Leistungsbeziehenden die Möglichkeit zu geben in der Krisenzeit bei Freund*innen oder Angehörigen zu wohnen.

Aus diesem Grund ist auch die Pflicht täglich und höchstpersönlich seine Post kontrollieren zu müssen, auszusetzen.

Das BMAS hat hier eine Rechtsverordnung zu erlassen, die diese Regelung außer Kraft setzt.

14.   Monatsweise Zahlungsweise auch bei Wohnungslosen

Wohnungslose erhalten derweilen oft Tagessätze. Sie müssen sich zum Teil bei speziellen Auszahlstellen zu einer bestimmten Uhrzeit anstellen umso ihre existenzsichernden Leistungen ausgezahlt zu bekommen. Damit Wohnungslose gesichert ihre Leistungen erhalten können, krankenversichert bleiben und sich in Corona-Notstandszeiten nicht in langen Schlangen anstellen müssen und sich dort infizieren können, ist die Leistungserbringung auf eine monatliche Auszahlung umzustellen. Ist kein Konto vorhanden ist auf das „Barzahlen-System“ umzustellen, sodass die Auszahlung von Grundsicherungsleistungen an Supermarktkassen erfolgen kann.

15.   Aussetzen von Pflichten in der EGV / Keine Pflicht zur Teilnahme an Maßnahmen / Kein Kostenersatz für nicht Teilnahme  

a.  In der Zeit der Corona-Krise ist  bis auf weiteres durch verbindliche öffentliche Erklärung der SGB II- und SGB XII–Leistungsträger jede Pflicht von Leistungsbeziehenden Bewerbungen vorzulegen, Termine einzuhalten oder an Maßnahme teilzunehmen auszusetzen.

b.  Auch ist jede Pflicht zur Teilnahme an Arbeitsmarktmaßnahmen, laufende wie zukünftige, durch verbindliche öffentliche Erklärung, wegen der damit verbundenen Infektionsgefahr sowie fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten, auszusetzen.

c.  Ebenfalls ist durch verbindliche Erklärung der SGB II- und SGB XII–Leistungsträger klarzustellen, dass bei Beendigung einer solchen Arbeitsmarktmaßnahme kein Kostenersatz wegen vorsätzlicher Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit nach § 34 SGB II ff geltend gemacht wird.

16.   Sanktionsmoratorium für sechs Monate

Für den Zeitraum von sechs Monaten ist

a.  die Umsetzung von jeglicher Sanktion nach § 31, § 31a, § 32 SGB II komplett auszusetzen,

b.  die Umsetzung von Sperrzeiten nach § 159 SGB III, nach § 38 SGB III (verspätete Arbeitsuchend-Meldung), nach § 309 SGB III (Meldeversäumnis), nach § 45 SGB III (Ablehnung oder Abbruch einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme) komplett auszusetzen.

17.  Keine Sanktion, Sperrzeit und Kostenersatz bei Aufhebungsverträgen

Es ist davon auszugehen, dass viele Arbeitgeber in der Corona-Krise ihre Arbeit-nehmer*innen dazu nötigen werden Aufhebungsverträge zu unterschreiben. Diesbezüglich fordern wir ein Sanktionsmoratorium für sechs Monate im SGB II/SGB III und keine Anwendung von Kostenersatzregelungen wegen vermeintlich vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführter Hilfebedürftigkeit nach § 34 SGB II.

III. Maßnahmen zur Wohnraumsicherung

18.   Zwangsräumungen aussetzen, Miet- und Energieschuldenübernahme

a.  Während der Corona-Krise darf kein Mensch wegen Mietschulden obdachlos gemacht werden. Menschen, die ihre Wohnungen aufgrund einer Zwangsräumung verlassen müssen, werden in Notunterkünfte verwiesen oder halten sich in Tagestreffs der Wohnungslosenhilfe auf. In diesen Einrichtungen ist aber eine Kontaktreduzierung, wie sie durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Virus-Pandemie vorgesehen ist, bereits jetzt kaum umzusetzen. Um die Situation nicht weiter zu verschärfen, sind daher, alle Zwangsräumungen wegen Mietschulden auszusetzen.

b.  Die Regelung zur Mietschuldenübernahme im SGB II und SGB XII sind konsequent anzuwenden. Das heißt, immer dann, wenn Schulden von mehr als zwei Monatsmieten angefallen sind, sollten Mietschulden im Rahmen des § 22 Abs. 8 S. 2 SGB II bzw. § 36 Abs. 1 S. 2 SGB XII übernom-men werden. Das Ermessen der jeweiligen Sozialleistungsträger sollte durch entsprechende Weisungen auf null reduziert werden. Die Mietschulden sind auch dann zu übernehmen, wenn die Unterkunft im Sinne der örtlichen Angemessenheitsgrenze nicht angemessen ist, denn dem Erhalt der Wohnung ist gegenüber Obdachlosigkeit und Notunterkünften, gerade während der aktuellen Krise, absoluter Vorrang einzuräumen.

c.  Zahlungsrückstände, die zu einem Abstellen der Energiezufuhr führen können (offene Beträge oberhalb von 100 EUR), sind konsequent nach § 22 Abs. 8 S. 2 SGB II bzw. § 36 Abs. 1 S. 2 SGB XII zu übernehmen.
In Zeiten von Ausgehverboten, geschlossenen Schulen und Kitas darf es nicht dazu kommen, dass Menschen de facto in ihren Häusern eingesperrt sind ohne Zugang zu Strom und damit letztlich jeglicher sozialer Teilhabe (Telefon, Internet, Fernsehen) sowie der Möglichkeit sich selbst zu ver-sorgen (Kühlschrank, Herd, Waschmaschine) beraubt werden.

d.  Alternativ ist § 19 StromGVV und § 19 GasGVV dahingehend zu ändern, dass es für zunächst sechs Monate zu keiner Unterbrechung der Versorgung von Strom, Wasser, Gas oder Fernwärme kommen darf.

19.   Zustimmung zur Anmietung von höherpreisigen Wohnungen

Insbesondere in der Corona-Krise müssen Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen von der Straße weg und aus Notunterkünften raus. Die SGB II-, SGB XII- und AsylbLG-Leistungsträger haben in der Corona-Krisenzeit deutlich höhere Unterkunftskosten anzuerkennen. Damit möglichst viele Menschen von der Straße wegkommen, ist bei den Unterkunftskosten bis zu 50 % Mehrkosten als angemessen zu akzeptieren. Alternativ sind Kosten für Hotel- und Pensionszimmer in tatsächlicher Höhe zu übernehmen.

20.   Aussetzung von Kostensenkungsaufforderungen / Begrenzung wegen fehlender Umzugserfordernis

Im Hinblick auf die Wohnraumsicherung und die Vermeidung von Obdachlosigkeit und der damit einhergehenden Ansteckungsgefahr sind zudem folgende Maßnahmen dringend anzuraten:

a.   Für die nächsten sechs Monate hat bundesweit keine Kostensenkungsaufforderung wegen unangemessener Miete zu erfolgen.

b.   Alle laufenden Kostensenkungsaufforderungen der SGB II-, SGB XII- und AsylbLG–Leistungsträger sind für unwirksam zu erklären.

c.   Alle umgesetzten Kostensenkungsaufforderungen, in denen SGB II-, SGB XII- und AsylbLG–Beziehende Unterkunftskosten aus ihren Regelbedarfen zuzahlen sind für zunächst sechs Monate auszusetzen und es sind die tatsächlichen Unterkunftskostenkosten zu zahlen.

d.  Alle Begrenzungen der Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 1 S. 2 SGB II wegen fehlender Umzugserfordernis sind grundsätzlich aufzuheben.

21.   Anspruch von Wohnungslosen auf Unterbringung in Pension / Hotel

Wohnungslose, die das möchten, müssen von der Straße. Das bedeutet aber nicht eine Unterbringung in (überfüllten) Obdachlosenunterkünften, sondern eine Einzelunterberingung. Diese Einzelunterbringung ist z.B. möglich in derzeit leerstehenden Pensionen und Hotels. Es muss als politische Forderung formuliert werden, dass Wohnungslose, die nicht mehr auf der Straße leben wollen oder  können, einen Anspruch auf Unterbringung in einem Einzelzimmer haben. Nur so ist effektiver Schutz für diesen Personenkreis möglich.


IV. Ausweitung der Leistungsberechtigten

22.   Anwendung der Härtefallregelung für Studierende

Einige Studierende finanzieren ihren Lebensunterhalt durch studentische Aus-hilfstätigkeiten, sei es zusätzlich zum BAföG oder statt dem BAföG. Ein ganzer Teil dieser Tätigkeiten fällt jetzt weg und wird auch durch die zu treffenden Maß-nahmen bei der Corona-Krise auf längere Zeit wegfallen.
Um diese Lücken zu decken, ist die Härtefallregelung in § 27 Abs. 3 S. 1 SGB II dahingehend zu ändern, dass es nicht mehr einer „besonderen“ Härte, sondern einer „einfachen“ Härte bedarf, um hier einen Leistungsanspruch zu ermöglichen.
Auf diesem Weg wird verhindert, dass eine Reihe von Studierenden gezwungen wird, aufgrund der aktuellen Krise ihr Studium abzubrechen, um dann Ansprüche auf SGB-II Leistungen geltend machen zu können.
Dahingehend hat auch das BVerfG mit Beschluss v. 17.12. 2019 – 1 BvL 6/16 unter Rn 23 argumentiert und in Fällen des Leistungsausschlusses auf eine Anwendung der Härtefallvorschrift nach § 27 Abs. 3 SGB II hingewiesen.

23.   Aussetzung der Tilgung von Darlehen, Ersatz- und Erstattungsansprüchen

a.   Während der Corona-Krise sind für mindestens sechs Monate die Tilgung von Darlehens-, Ersatz- und Erstattungsansprüchen der SGB II-, SGB XII- und AsylbLG–Leistungsträger, sei es durch Aufrechnung im Leistungsbezug, die Geltendmachung durch die Regionaldirektion oder sonstige Forderungseinziehungsstellen, komplett einzustellen.

b.   Ebenfalls hat die Kindergeldkasse für mindestens sechs Monate auf die Geltendmachung von Forderungen wegen Erstattungsansprüchen zu verzichten.

24.   Uneingeschränkter Zugang zu Sozialleistungen für EU-Bürger*innen / Menschen ohne regulären Leistungsanspruch

Zu den Betroffenen der Krise gehören auch zahlreiche nicht (mehr) erwerbstätige EU-Bürger*innen, Drittstaatsangehörige mit einem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche (z. B. Fachkräfte nach Verlust der Arbeit oder nach Abschluss eines Studiums) sowie in bestimmten Fällen Geflüchtete, die keinen Anspruch auf reguläre Sozialhilfeleistungen nach SGB II oder XII haben.

Die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels (z. B. für Fachkräfte, aber auch für Freiberufler*innen) hängt oft von einem eigenständig gesicherten Lebensunterhalt ab. Die Teilhabe an Sozialleistungen wiederum vielfach von einem entsprechenden Aufenthaltstitel. Von diesen Voraussetzungen muss nach unserer Überzeugung in der gegenwärtigen Situation abgesehen werden, da sie für viele Betroffene aus unverschuldeten Gründen nicht mehr erfüllt werden kann. In der Folge besteht oftmals auch kein ausreichender Krankenversicherungsschutz. Eine Unterbringung in Wohnungsloseneinrichtungen wird oft an den Sozialleistungsanspruch geknüpft, so dass in manchen Fällen (Straßen-) Obdach-losigkeit besteht. Gerade diese Personengruppen unterliegen aufgrund einer extrem prekären Lebenssituation einem erhöhten Infektionsrisiko.

Im Zuge der Krise wurde zB bundesweit die Schließung von Prostitutionsstätten verfügt. Die überwiegend osteuropäischen Frauen haben oft nur in der Prostitutionsstätte ein Dach über dem Kopf. Sie brauchen Unterkunft, etwas zu Essen, Zugang zum Gesundheitssystem und – wenn gewünscht – Geld, um nach Haus zu kommen.

Grundsätzlich muss es gerade während der Corona-Krise Aufgabe der Sozialämter und Jobcenter sein, für alle Menschen mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deut-schland das dringend notwendige Existenzminimum zu sichern. Es darf nicht sein, dass in einer Situation wie jetzt Menschen auf der Straße leben müssen oder keinerlei Mittel für ihr Existenzminimum haben. Auch für EU-Bürger*innen ohne regulären Leistungsanspruch, Geflüchtete und andere Drittstaatsangehörige muss nun das menschenwürdige Existenzminimum sichergestellt werden. Eine sichere und angemessene Unterkunft und die finanziellen Mittel für Vorsorge, Hygiene und Lebensmittel sind erst recht in der momentanen Situation unabdingbar. Niemand darf gezwungen werden, auf der Straße zu leben und zu hungern. Zugleich haben viele Einrichtungen der solidarischen Notversorgung (Tafeln, ehrenamtliche Notfallmedizin usw.) ihren Betrieb eingestellt oder eingeschränkt.

Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht deutliche Zweifel an der einfachgesetzlichen Regelung angemeldet hat, dass ein verfestigter Aufenthalt erst nach 5 Jahren angenommen wird (vgl. BVerfG v. 4.12.2019 – 1 BvL 4/16 u. v. 17.12. 2019 – 1 BvL 6/16), auch wenn es hierzu nicht verbindlich Stellung nehmen konnte, da der Vorlagebeschluss des SG Mainz bereits aus formellen abgelehnt werden musste. Nichtsdestotrotz ist dieser eindeutige Hinweis des BVerfG schon jetzt zum Schutz aller Betroffenen umzusetzen und diesen umgehend Nothilfeleistungen zu gewähren.

Insoweit halten wir folgende Maßnahmen für zwingend geboten:

a)  Es dürfen bis auf weiteres, keine Einstellungen von laufenden Leistungen nach SGB II erfolgen (etwa wegen Verlust des Arbeitnehmer*innen-Status bei Unionsbürger*innen). Der SGB-II-Anspruch darf nicht aus ausländerrechtlichen Gründen („Aufenthaltszweck für die Arbeitsuche“) abgelehnt werden. Zumindest vorläufige Leistungen müssen unbürokratisch und schnellstmöglich gewährt werden.

b)  Es müssen bis auf Weiteres für alle nicht regulär leistungsberechtigten Unionsbürger*innen und Drittstaatsangehörigen ungekürzte Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3ff SGB XII erbracht werden. Die Befristung auf regelmäßig einen Monat darf schon deshalb nicht gelten, da eine Ausreise momentan faktisch nicht möglich ist. Die derzeitige Situation stellt unzweifelhaft eine „besondere Härte“ im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 6ff SGB XII dar. Die Erbringung von Überbrückungsleistungen darf nicht von der Erklärung eines „Ausreisewillens“ abhängig gemacht werden.

c)  Nur durch eine solche extensive Anwendung der Regelungen zu den Überberückungs- und Härtefallleistungen ist gewährleistet, dass auch Leistungen zur Sicherung der Gesundheit in angemessenem Maße erbracht werden können.
Eine Unterbringung in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe bzw. eine ordnungsrechtliche Unterbringung muss bis auf weiteres unabhängig von einem Anspruch auf Sozialhilfeleistungen erfolgen. Konkret sollen diese Menschen ebenfalls einen Anspruch auf Unterbringung in einer Pension/Hotel haben. Auf eine Beendigung dieser Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft muss verzichtet werden. Niemand darf in die Straßenobdachlosigkeit gezwungen werden.

d) Auf Leistungskürzungen im Rahmen des § 1a AsylbLG und auf den Vollzug von Leistungsausschlüssen nach § 1 Abs. 4 AsylbLG muss verzichtet werden. Schon mit ungekürzten Sozialhilfeleistungen ist es kaum möglich  das Existenzminimum in der gegenwärtigen Ausnahmesituation zu sichern (Stichwort: Vorratshaltung, Knappheit bestimmter Produkte, erhöhter Hygienebedarf). Mit gekürzten Leistungen, die nur bei etwa der Hälfte des regulären Regelsatzes liegen, ist dies gänzlich ausgeschlossen.

e) Die Erteilung oder Verlängerung von Aufenthaltstiteln darf bis auf weiteres nicht von der Sicherung des Lebensunterhalts abhängig gemacht werden.

25.   Verlängerung von ALG I um ½ Jahr

Als Corona-Notfallhilfe sind der Bewilligungszeitraum für ALG I-Leistungen um ein halbes Jahr zu erweitern. Durch diese Maßnahme sollen schon arbeitslose Menschen von dem Absturz in das SGB II–Leistungssystem bewahrt werden.

V. Inhaftierung

26.   Aussetzen der Haftantritte für Ersatzfreiheitsstrafen / Bagatelldelikte

In den Gefängnissen besteht aufgrund des beengten Raumes ein extrem hohes Ansteckungsrisiko. Zudem werden die Besuchsmöglichkeiten vermutlich eingestellt. Die Gefängnisse sollten deshalb im Bereich der Ersatzfreiheitsstrafen und der Bagatelldelikte geleert und die Gefangenen entlassen werden. Alle Haftantritte wegen Bagatelldelikten, insbesondere Ladendiebstahl und Schwarzfahren sollten aufgehoben werden und in Geldstrafen umgewandelt werden. Alle Haftantritte für Ersatzfreiheitsstrafen sollten für ein Jahr aufgegeben werden.

 

27.   Öffnung der Abschiebegefängnisse

In Zeiten der Corona-Krise und weltweiter Grenzschließungen sind keine Abschiebungen möglich. Damit entfällt der Haftgrund. Es sind daher alle Abschiebehäftlinge zu entlassen.


VI. Weitere nötige Änderungen

28.   Kurzfristige Erhöhung der Mittel für Frauenhäuser

Der Appell möglichst nicht mehr das Haus zu verlassen, Quarantäne und Ausgangssperre wird zu erhöhter häuslicher Gewalt führen. Es ist daher kurzfristig notwendig die Frauenhäuser mit weiteren Mitteln auszustatten, damit weitere Unterkünfte für gewaltbedrohte Frauen geschaffen werden. Auch muss sichergestellt werden, dass derzeit aus den Existenzsicherungssystemen SGB II und SGB XII ausgeschlossene Frauen (meist Osteuropäerinnen) Anspruch auf Übernahme der Frauenhauskosten und Anspruch auf Existenzsicherungsleistungen in den Frauenhäusern haben.

29. Sozialberatung muss ausgebaut und gestärkt werden

Die Corona-Krise wird zu einer deutlichen Ausweitung von Arbeitslosigkeit führen. Viele Menschen werden Sozialleistungen beantragen müssen. Dabei bedarf es einer behördenunabhängigen Unterstützungs- und Beratungsstruktur, an die sich die Menschen wenden können und von der sie eine umfassende Unterstützung und Beratung bekommen. In NRW will Arbeitsminister Laumann diese Struktur deutlich reduzieren. Die Reduktion der Beratungs- und Unterstützungsstrukturen in NRW muss sofort gestoppt werden. Die Sozialberatung muss in allen Bundesländern gestärkt werden, es ist daher ein Sonderfinanzierungsprogramm zum Aufbau und Förderung von Erwerbslosen- und Sozialberatung zu  schaffen.

 

 

Erwerbslosen – und Sozialhilfeverein Tacheles e.V., 

Wuppertal den 21.03.2020 

Forderungen in einem Papier zum Download

weitere Infos: https://tacheles-sozialhilfe.de