Der Ruf nach punktueller Aufstockung einzelner Sozialleistungen reicht nicht – gewerkschaftliche Lohnpolitik mit Biss war nie so wichtig wie heute

Das soziale Sicherungssystem ist in Deutschland auf die Lohnarbeit ausgerichtet, egal ob HARTZ-IV-Regelsätze mit ihren verstecktem   Lohnabstandsgebot, die Höhe von Alters- oder Erwerbsminderungsrenten, Kurzarbeiter-, Insolvenz-, Kranken- oder Arbeitslosengeld, alles richtet sich nach dem Arbeitsentgelt, den Löhnen aus den sozialversichersicherungspflichtigen abhängigen Arbeitsverhältnissen.

Wenn aber oben auf der politischen Agenda seit 30 Jahren der Ausbau des Niedriglohnsektors steht und die Reallöhne kontinuierlich gesunken sind, darf man sich nicht wundern, wenn auch die an die Löhne gebundenen Sozialleistungen zu niedrig sind.

In der derzeitigen Krise wird der Ruf nach höheren Sozialleistungen als Einmalzahlung oder als zeitlich begrenzte regelmäßige Zahlung wieder lauter, ebenso die Forderung nach einer zurückhaltenden Lohnforderung an die Gewerkschaften, paradox, eigentlich zwei sich gegenseitig ausschließende Sachverhalte.Bereits vor der weltweiten Wirtschaftskrise hatte laut dem Paritätischen Armutsbericht 2020 mit den Zahlen aus dem Jahr 2019 die Armutsquote in Deutschland den historischen Wert von fast 16 Prozent erreicht. Konkret heißt das, über 13 Millionen Menschen sind von Armut betroffen und es ist die größte gemessene Armut seit der Einigung 1989.

Die COVID-19-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung führten und führen zusätzlich dazu, dass immer mehr Menschen erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen müssen und infolgedessen in eine ihre Existenz bedrohende Situation geraten.

Nach lautstarken Protesten hatte die Bundesregierung bzw. der Koalitionsausschuss mehrere sozialrechtliche Sonderregelungen, auch in Form von Zuschüssen für „einkommensgeminderte Personenkreise“ beschlossen. Auch wurden Einmalzahlungen aufstockend auf die Leistungen des Sozialgesetzbuchs seitens des Staates geleistet.

Das mag dem einzelnen Menschen die Not etwas lindern, strukturell und nachhaltig ändert sich für ihn aber wenig.

Die temporären oder einmalig gewährten Hilfen tragen nicht dazu bei, dass sich die Situation der armen Menschen ohne große Lohnsteigerungen in unserem System ändern wird und ändern kann, weil das soziale Sicherungssystem an der Lohnarbeit ausgerichtet ist, dem Arbeitsentgelt aus den sozialversichersicherungspflichtigen abhängigen Arbeitsverhältnissen.

Tariflöhne stiegen zuletzt nominal um 3,0 Prozent- real erzielen die Tarifbeschäftigten ein Plus von 1,6 Prozent

Die Tariflöhne stiegen 2019, dem Jahr auf das sich auch die Zahlen des Armutsberichts des Paritätischen beziehen, gegenüber dem Vorjahr um durchschnittlich 3,0 Prozent. Nach Abzug des Verbraucherpreisanstiegs von 1,4 Prozent ergibt sich daraus ein realer Zuwachs der Tarifvergütungen von 1,6 Prozent. Zu diesem Ergebnis kam die Bilanz der Tarifpolitik des Jahres 2019, die das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung ermittelte.

Eine für die Beschäftigten kämpfende Interessenvertretung sieht anders aus und diese Abschlüsse tragen kaum dazu bei, Mitglieder zu gewinnen, geschweige denn gewerkschaftliche Kampfkraft zu zeigen.

Gewerkschaftliche Lohnpolitik

Die Binsenweisheit, dass gewerkschaftliche Lohnpolitik mehr ist als die Ankurbelung der Binnennachfrage, dürfte auch den Gewerkschaftseliten klar sein, doch wird seitens der Gewerkschaften folgendes überhaupt nicht mehr kommuniziert:

  • Löhne bzw. Entgelte sind der größte Kostenfaktor für die Unternehmen, deshalb hat die Auseinandersetzung um sie immer einen besonderen Stellenwert für die Gewerkschaftsbewegung. Lohn- und Entgelterhöhungen steigern die Konsumnachfrage, stabilisieren damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und tragen so zur Sicherung der Arbeitsplätze bei, ohne dass von der Lohnseite inflationstreibende Effekte ausgehen.
  • Wenn die Einkommen durch höhere Tarifabschlüsse steigen, schlägt sich das auch bei den Renten nieder. Entscheidend für die Rentenberechnung ist die Entwicklung der Bruttolöhne. Der Rentenwert ergibt sich aus den Bruttolöhnen des Vorjahres. Steigen diese an, wird auch dieser Wert angehoben.
  • Das Lohndumping der letzten Jahre bei uns mit seinen geringen Lohnstückkosten ist eine der wichtigsten Ursachen für die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse, für das Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit der Mitglieder der Europäischen Währungsunion (EWU), für die Handelsungleichgewichte und somit eine Hauptursache der Eurokrise.
  • Die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung ist verantwortlich für das Außenhandelsgleichgewicht, d.h. für das Verhältnis von Im- und Exporten. Wenn der Handel auch noch mit Ländern im gleichen Währungsraum stattfindet, sind die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten im Vergleich zu denen der Währungspartnerländer der wichtigste verbleibende Faktor dafür, ob es Handelsüberschüsse oder -defizite gibt. Auch der europäische und weltweite Markt funktioniert so: Wächst eine Volkswirtschaft, so muss eine andere naturgemäß schwächer werden. Das Vermögen der einen bildet die Schulden der anderen.
  • Das Märchen von der Lohnentwicklung, die im Vakuum der Tarifparteien stattfindet, wird immer wieder erzählt, ist aber nicht zutreffend. Lohnpolitik ist abhängig von der Wirtschaftspolitik der Regierung, was seit der HARTZ-IV-Gesetzgebung ganz einfach zu belegen ist.
  • Die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung hat einen besonderen Einfluss auf die Entwicklung der Preise, weil die Vorleistungen, die die Industrie neben dem Faktor Arbeit zusätzlich zur Produktion benötigt, aus anderen inländischen Unternehmen stammen, sofern sie nicht importiert werden. Deren Produktpreise werden von den dort anfallenden Kosten bestimmt. Diese Vorleistungen bestehen gesamtwirtschaftlich betrachtet vor allem aus Lohnkosten.
  • Die Lohnentwicklung hat maßgeblich zur Verarmung beigetragen, mit Auswirkungen bis in die sogenannten Mittelschichten hinein.
  • Die Umverteilung von unten nach oben ist als Ursache für die seit nunmehr zwölf Jahren anhaltende und sich nun verschärfende wirtschafts- und finanzpolitische Krise zu sehen. Die wachsende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen hat nachweislich zur Destabilisierung des gesamten Finanzsystems beigetragen.

 

Den Gewerkschaften sollte das Loblied der organisierten Unternehmerschaft in den Ohren  klingeln, das nach den Tarifabschlüssen der letzten Jahre gesungen wurde. Übersetzt lautet der Singsang, dass die Belastungen der Unternehmen deutlich unter denen der Vorjahre liegen, dass die Laufzeit der Tarifverträge erheblich länger geworden ist und dass den Unternehmen immer häufiger die Möglichkeit gegeben wird, Teile des Abschlusses differenziert anzuwenden und schließlich aus den Tarifen auszusteigen.

Um einer weiteren Verarmung  keinen Vorschub zu leisten ist es unabdingbar, die Löhne kräftig anzuheben und zu den Flächentarifen zurückzukehren.

 

 

 

 

Quellen: Quellen: Pariätische,  SGB,  Hans-Böckler-Stiftung, Hubertus Heil/BMAS
Bild: https://www.gegen-hartz.de/