Nur wenige Menschen kennen die Bundesagentur für Arbeit (BA) als gigantischen Daten – Pool, in dem es Zahlen über Zahlen gibt und gesammelt wird, was das Zeug hält. Da fallen Daten auf der Einnahmenseite z.B. von den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung an, aus denen man detaillierte Informationen über Beschäftigungs- und Unternehmensstrukturen, Erwerbseinkommen und Arbeitszeiten bekommen kann. Auf der Ausgabenseite erhält man Informationen über die Qualifikation, Geschlecht, Alter, Gesundheit und Umfeld der Leistungsempfänger.
Doch wenn es um Informationen über ihre eigene Arbeit geht, hält sich die BA bedeckt, so konnte die Agentur über Jahre hinweg angeblich keine Aussagen darüber machen, gegen wie viele Leistungsberechtigte im Rechtskreis Sozialgesetzbuch 2 (SGB II) und Leistungsempfänger im SGB III offene Forderungen bestehen. Als Grund für dieses Manko spricht die BA davon, dass ihr im Rahmen des Einzugsverfahrens genutzte IT Verfahren Auswertungen nur belegbezogen und nicht personenbezogen zulassen. Doch nun konnte im Rahmen einer kleinen Anfrage (BT-Drucksache 19/27674) an die Bundesregierung Licht ins Dunkel der Rückforderungen der Bundesagentur kommen und zwar mit unglaublichen Zahlen.
So wurde bekannt, dass im Jahr 2020, mitten in der Krisenzeit, die Ärmsten der Gesellschaft besonders benachteiligt waren. 1.198.169 Personen waren von einer SGB II-Aufrechnung betroffen, das entspricht einem Anteil von 21,2 Prozent der Menschen im Gesamtleistungsbezug. Im gleichen Jahr wurden 544.270 Widersprüche gegen SGB II-Bescheide entschieden, von denen 190.000 oder 35 Prozent vollständig oder teilweise stattgegeben wurde. Im Januar 2021 betrug der offene Forderungsbestand im SGB II insgesamt 2.889.454.456 Euro.
Das gewaltige Ausmaß der Einziehung bzw. Einbehaltung zeigen die Zahlen der Erstattungsbescheide aus den Jahren 2015, 2019 und 2020. Damals wurden im Rechtskreis des SGB II insgesamt rund 8,1 Millionen Bescheide erstellt, bei denen bis zu 30 Prozent des Regelsatzes vom Jobcenter einbehalten und verrechnet werden können.
Die Hauptursache für eine Überschuldung ist bei uns der Verlust des Arbeitsplatzes, für jeden fünften überschuldeten Menschen war die Erwerbslosigkeit im vergangenen Jahr der Grund für die finanzielle Notlage.
Damit beginnt für viele die Spirale abwärts in die Schuldenfalle. Weil Schulden ein wichtiges „Vermittlungshemmnis“ bei der Arbeitssuche ist, finanzieren viele Jobcenter für die betroffenen Menschen eine Schuldnerberatung in externen Beratungsstellen.
Ist das Jobcenter oder die Bundesagentur (BA) aber selbst Gläubiger, verhält man sich dort ganz anders. Da werden die Schulden gnadenlos eingetrieben und Geld verrechnet und nicht ausgezahlt, so dass neue Schulden gemacht werden müssen, um überhaupt das Existenzminimum zu erreichen.
Nur in besonderen Härtefällen dürfen sie sich bei der Schuldenregulierung auf eine außergerichtliche Einigung einlassen. Damit ist bei allen verschuldeten, erwerbslosen Menschen, die auch bei der BA Schulden haben, ein Insolvenzverfahren vorprogrammiert, weil bei diesen außergerichtlichen Einigungen der Grundsatz gilt, dass alle Gläubiger mitmachen und auf einen Teil der Forderung verzichten.
Jobcenter als Kreditgeber
Jeder Mensch, der im Rechtskreis des Sozialgesetzbuchs (SGB) Klienten berät, konnte in den letzten Jahren beobachten, dass die Zahl der Personen, die bei der BA verschuldet sind, unglaublich schnell angestiegen ist.
Vor allem verleihen die Jobcenter immer mehr Geld an die erwerbslosen Bedürftigen oder an die Geringverdiener. Im Januar 2021 erreichten die Darlehen, die Hartz-IV-Empfänger für Anschaffungen wie etwa einen Kühlschrank bekamen, eine vorläufige Rekordsumme. Der offene Forderungsbestand im SGB II betrug insgesamt 2.889.454.456 Euro. Der durchschnittliche Darlehensbetrag lag im vergangenen Jahr bei 459 Euro, der Höchstwert seit Beginn der Betrachtung im Jahr 2007. Damals lag der Durchschnittswert noch bei 231 Euro.
Auch müssen die „Aufstocker“ sich immer häufiger beim Jobcenter verschulden, weil ihr Einkommen und damit die Unterstützung im Rahmen von Hartz-IV schwankt und sie dann zeitverzögert Geld zurückzahlen müssen. Laut Statistischem Bundesamt, ist dieser Personenkreis „überproportional häufig überschuldet“.
Inkasso
Seit Anfang 2016 hat die BA einen eigenen Inkasso-Dienst installiert, der sich verstärkt um säumige Forderungen kümmern soll. Die Behörde versprach sich dadurch Mehreinnahmen von rund 70 Millionen Euro im Jahr. Schuldnerberatungsstellen machen seither die Erfahrung, dass sich Jobcenter auf keine Verhandlungen mehr einlassen.
Die rechtlichen Grundlagen für das Inkassoverfahren der BA finden sich vor allem in der Bundeshaushaltsordnung (BHO), den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur BHO und im Vierten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). Die Sachbearbeitung des Inkasso-Service erfolgt in den Standorten Recklinghausen und Bogen. In den Standorten Halle, Hannover und Kiel wird eine telefonische Sachbearbeitung mit den verschuldeten Menschen angeboten.
Eine Forderung ist zahlungsgestört, wenn nach Ablauf des Fälligkeitstermins keine vollständige Zahlung erfolgt ist und die Gesamtsumme der Forderungsbeträge mindestens 7 Euro überschreitet. Das Inkasso der BA umfasst ab dem Zeitpunkt der Zahlungsstörung einer Forderung alle notwendigen Aufgaben, die bis zum endgültigen Abschluss eines Einziehungsverfahrens notwendig werden, das sind
- Erstellung von Zahlungsaufforderungen und Mahnungen,
- individueller Kontakt mit den verschuldeten Menschen (schriftlich oder telefonisch),
- Auskünfte im Zusammenhang mit dem Einziehungsverfahren (telefonisch oder schriftlich),
- alleinige und abschließende Entscheidungen über Anträge in haushaltsrechtlichen Angelegenheiten im SGB III, Vorbereitung haushaltsrechtlicher Entscheidungen in allen Rechtskreisen (Stundung, Vergleich, Niederschlagung, Erlass) einschließlich Beteiligung des Beauftragten für den Haushalt (BfdH)
und der individuelle Kontakt zu Dritten.
Die Zahl der Beschäftigten beim Inkasso-Service der Bundesagentur für Arbeit ist von 2015 bis 2020 um 46 Prozent von 593 auf 863 Vollzeitkräfte gestiegen.
„Härtefälle“
Ein sogenannter Härtefall liegt für die BA immer dann vor, wenn eine Einziehung unbillig ist, d.h. wenn sie dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise widerspricht. Die BA weist ihre Beschäftigten dabei an, die gesamten Umstände des Einzelfalles, insbesondere die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners sowie Art und Höhe des Anspruchs, zu berücksichtigen. Pauschale Aussagen sollen seitens der BA aufgrund der Einzelfallbezogenheit der Erlassregelungen nicht gemacht werden, doch gelten die gesetzlichen Regelungen der Bundeshaushaltsordnung (BHO).
Erlass von Forderungen an (ehemalige) Leistungsbezieher
Der Erlass oder die Niederschlagung von Forderungen richtet sich grundsätzlich nach den Bestimmungen der Bundeshaushaltsordnung und ist an sehr enge und strenge Kriterien gebunden, wie z.B. die auch für den Erlass von Steuerforderungen angewendet werden.
Nachdem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Januar 2016 der BA neue Weisungen hinsichtlich des Erlasses von Forderungen an (ehemalige) Leistungsbezieher erteilt hat, werden die Kriterien von den Inkassostellen der Bundesagentur sehr viel konsequenter umgesetzt, als dies davor der Fall war.
Ein (Teil-)Erlass ist laut dieser Weisung an persönliche und sachliche Erlassgründe gebunden, die eng ausgelegt und geprüft werden müssen. So ist die Erlassbedürftigkeit schon verwirkt, wenn der einzelne Mensch aufgrund geringen Einkommens sowieso pfändungsgeschützt ist. Eine Krankheit oder das Alter stellen alleine keine persönlichen Erlassgründe mehr dar.
Genauso verhält es sich bei den sachlichen Gründen für einen Erlass. Es müssen hier besondere Härtefälle vorliegen, z.B. wenn der Mensch „unter dem Druck der Verhältnisse sozial abgleiten und gänzlich den Halt“ verlöre. Allein „ungünstige“ wirtschaftliche Verhältnisse sind nicht ausreichend, um die Schuld zu erlassen.
Im Jahr 2020 wurden im Rechtskreis SGB II 31 Forderungen im Volumen von 5.061 Euro erlassen.
Auslagerung des Inkassos
Seit Oktober 2016 beauftragt die BA die Inkassofirmen APONTAS und EOS-Group/Deutscher Inkassodienst mit dem Einzug von insgesamt 120.000 Rückforderungen. Vorausgegangen war eine entsprechende Ausschreibung.
Bei den Forderungen sollte es sich überwiegend um Forderungen aus den Jahren 2006 bis 2010 gegen ehemalige Arbeitslosengeld-I-Bezieher handeln. Im Durchschnitt lag eine Forderung bei 1.200 Euro. Forderungen aus steuerfinanzierten Leistungen der Jobcenter waren nicht betroffen.
Die beiden Inkassounternehmen sind in einem eng abgesteckten rechtlichen Rahmen als verlängerter Arm der BA-Verwaltung tätig und damit auch an die sehr engen haushaltsrechtlichen Vorschriften zum Erlass bzw. der Niederschlagung öffentlich-rechtlicher Forderungen gebunden. Für eine außergerichtliche Einigung haben sie deshalb auch keine Möglichkeit.
Nach Bekanntwerden der Einschränkungen erklärte das Bundesarbeitsministerium schnell, dass man weiterhin jeden Einzelfall prüfen werde. Wenn die wirtschaftliche Existenz des verschuldeten Menschen ernsthaft bedroht sei oder die Überschuldung ihn „dauerhaft demotiviert und ihn unter dem Druck der Verhältnisse sozial abgleiten“ lasse, sei eine Einigung noch immer möglich.
Nach Einschätzung der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen wird es für erwerbslose Menschen jedoch schwer sein, eine solch starke Belastung zu beweisen. Sie müssen auf jeden Fall für solch einen Beleg einen Arzt einschalten und ein Attest abliefern.
Schuldenfalle
Für jede Person, die bei der BA/Jobcenter ein Darlehen erhält, kann dies der Eingang in die Schuldenfalle sein. Gängige Praxis ist, dass mehrere Darlehen hintereinander bewilligt werden, für die es früher Beihilfen gab, die nicht zurückgezahlt werden mussten. Bei Menschen im Hartz-IV-Bezug werden in der Regel die Schulden aufgerechnet, d.h. ein Teil der Forderungen wird durch Einbehaltung erst gar nicht ausgezahlt und vermindert entsprechend das Einkommen erheblich. Nun kann der laufende Lebensunterhalt so nicht mehr gewährleistet sein und weitere Darlehen des Jobcenters werden erforderlich. Obwohl klar geregelt ist, dass nur 10 Prozent vom Regelsatz zurückfließen dürfen, kommt es in der Praxis sehr oft vor, dass bei Hartz-IV-Beziehern von dem Regelsatz von 446 Euro bis zu 120 Euro einbehalten werden oder ein Mix aus Ratenzahlung und Aufrechnung für eine enorme Einkommensminderung sorgt. Die Einnahmen reichen nicht aus, die Ausgaben zu decken, die Leute sind zahlungsunfähig, was wiederum ein Kriterium für die Beantragung eines Insolvenzverfahrens ist.
Insolvenzverfahren
Die BA fördert auf Anweisung des Arbeitsministers nicht nur die Zahlungsunfähigkeit, sondern sie darf sich nur in besonderen Härtefällen bei der Schuldenregulierung auf eine außergerichtliche Einigung einlassen. Mittlerweile ist es gängige Praxis, die Gesamtschuldensumme fällig zu stellen und bei Nichtzahlung auch in das unpfändbare Einkommen zu vollstrecken oder mit anderen Sozialleistungen aufzurechnen. Einigungsversuche wie angemessene Ratenzahlungen oder vorübergehende Stundungen werden kategorisch abgelehnt.
Damit ist bei allen verschuldeten erwerbslosen Menschen, die auch bei der BA Schulden haben, ein Insolvenzverfahren vorprogrammiert. Weil bei diesen außergerichtlichen Einigungen der Grundsatz gilt, dass alle Gläubiger dem Schuldenbereinigungsplan zustimmen und auf einen Teil der Forderung verzichten, scheitert der außergerichtliche Einigungsversuch in der Regel an der sturen Haltung der BA und es muss ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt werden.
Den Preis für die harte Linie des Arbeitsministeriums zahlen nicht nur die Arbeitssuchenden, sondern auch die Bundesländer. Etwa 2.000 Euro kostet ein Insolvenzverfahren, das den Menschen bei einer gescheiterten Einigung bevorsteht. Für mittellose Schuldner übernehmen die Länder die Verfahrenskosten.
Während das Bundesjustizministerium die teuren Insolvenzverfahren vermeiden will und es deshalb in der Insolvenzordnung die außergerichtliche Verhandlungspflicht gibt, will das Arbeitsministerium nur dann auf Geld verzichten, wenn dies für den Bund zweckmäßig und wirtschaftlich ist.
Erst werden die erwerbslosen Menschen mit Kettenkrediten in die Schuldenfalle getrieben, wenn sie dann überschuldet sind, ist der Weg für eine außergerichtliche Regulierung ihrer Schulden versperrt und sie müssen das aufwändige Insolvenzverfahren durchlaufen und sich dem Insolvenzverwalter unterwerfen.
Ursächlich für die Misere sind aber die zu geringen Regelleistungen, die schon lange nicht mehr bis zum Monatsende reichen. Die Erhöhung zum Jahresanfang 2021 um 14 Euro für volljährige alleinstehende Menschen wird die Darlehensproblematik bei den Jobcentern noch vergrößern.
Quellen: Statistisches Bundesamt, Focus, BA, Arbeitsministerium, LAG Schuldnerberatung Hamburg, VZ-NRW, Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage, BT-Drucksache 19/27674, Berichte von Betroffenen Bild: sozialberatung-kiel,