Die Debatte um den Nachholfaktor nimmt kein Ende. Immer wieder wird mit den gleichen falschen Argumenten und Behauptungen die nächste massive Rentenkürzung gefordert. Alle Fakten sprechen gegen die Erzählung von der betrogenen Jugend. Angesichts einer komplexen Materie und verzerrter Fakten ist dies aber kaum zu durchschauen.
Anders als vielfach behauptet, wurde der Nachholfaktor nicht während der Finanzkrise 2008 im Kontext sinkender Löhne eingeführt. Er wurde bereits 2007 eingeführt im Kontext der Rente mit 67 (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz). Ziel des Nachholfaktors war, Rentenkürzungen durchzusetzen, um das Rentenniveau wie vorgesehen zu kürzen. Mit Einführung wurde bereits eine Rentendämpfung von 1,75 Prozent als nachzuholen festgeschrieben, damit das Rentenniveau mittelfristig wieder den erwünschten abgesenkten Wert erreicht. Der Nachholfaktor ist also Ergebnis der politischen Idee des Beitragssatzdogmas und eines sinkenden Rentenniveaus. Damit zielt die Forderung zur Wiederanwendung des Nachholfaktors darauf, die Renten langsamer steigen zu lassen als die Löhne.
Dennoch verstummt die Forderung um die Wiedereinsetzung des Nachholfaktors aus wirtschaftsnaher und wirtschaftsliberaler Ecke nicht.
Einen Einstieg in die aktuelle Debatte und die verschiedenen Positionen finden Sie hier.
Angesichts der permanent vorgetragenen falschen Behauptung, die Renten würden stärker steigen als die Löhne, die Beschäftigten übervorteilt und der ewigen Mär von der Generationengerechtigkeit erscheint es angebracht, den Sachverhalt noch mal zu objektivieren, damit sich alle eine eigene Meinung bilden können. Denn schon ohne Nachholfaktor steigen die Renten bis 2025 bereits etwas langsamer als die Löhne. Zwar steigen die Renten in den Jahren 2020, 2022 und 2023 tatsächlich sogar deutlich schneller als die Löhne. Andererseits aber steigen die Renten in den Jahren 2021, 2024 und 2025 deutlich langsamer als die Löhne. Von 2020 bis 2025 addieren sich die Rentenerhöhungen auf insgesamt 15,67 Prozent, während die Löhne insgesamt um 16,15 Prozent steigen.
Schon aus dieser einfachen Betrachtung zeigt sich, dass die Renten keineswegs schneller steigen als die Löhne. Wer nun fordert, den Nachholfaktor einzusetzen, will die Renten bis 2025 noch langsamer steigen lassen. Die Renten würden bei reaktiviertem Nachholfaktor dann mit rund 12,4 Prozent bis 2025 um fast vier Prozent langsamer steigen als die Löhne. Offensichtlich geht es bei der Forderung zur Reaktivierung des Nachholfaktors also gerade nicht darum, dass die Renten wie die Löhne steigen. Auch wenn die Forderung, die Renten sollten wie die Löhne steigen, stets lautstark als Begründung für die Wiederanwendung des Nachholfaktors vorgetragen wird. Dass es den Protagonist*innen wohl schlicht um weitere Rentenkürzungen geht, zeigt sich auch daran, dass sie sonst keine Gelegenheit auslassen, weitere Rentenkürzungen, ein immer tiefer sinkendes Rentenniveau und steigende Rentenalter fordern.
Unabhängig davon, wird die Debatte von den einschlägigen Ökonom*innen und Expert*innen auch noch höchst unehrlich geführt und die Fakten bewusst verdreht bzw. ausgelassen. Die Forderung zur Reaktivierung des Nachholfaktors wird mit der „Lohnentwicklung“ im Jahr 2020 begründet. Angeblich seien die Löhne 2020 um rund 2,3 Prozent gesunken. Die Protagonist*innen beziehen sich dabei auf den Lohnfaktor in der Rentenanpassungsformel. In diesen Lohnfaktor gehen aber mehrere Komponenten ein (vergleiche hierzu bspw. die Stellungnahme des DGB zur Rentenanpassung 2021). Der Lohnfaktor in der Anpassungsformel für 2021 ist das Produkt aus der Lohnentwicklung für 2020 nach Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung (VGR-Löhne) und der Abweichung aus 2019 zwischen der Lohnentwicklung nach VGR und den rentenbeitragspflichtigen Entgeltgelten nach Statistik der Deutschen Rentenversicherung (RV-Entgelte). Die VGR-Löhne sind im Jahr 2020 um 0,28 Prozent gesunken. Deutlich mit gut zwei Prozent im Minus ist die Abweichung aus 2019 zwischen VGR-Löhnen und RV-Entgelten. Diese Abweichung geht jedoch auf einen statistischen Effekt zurück, der durch eine Datenrevision der RV-Entgelte entstanden ist und hat nichts mit einer tatsächlichen Lohnentwicklung zu tun (vergleiche hierzu: den Rentenversicherungsbericht 2020 der Bundesregierung; aber auch https://www.dgb.de/-/03P, https://www.dgb.de/-/0BB, http://www.portal-sozialpolitik.de/uploads/sopo/pdf/2021/2021-04-06_Rentenanpassung_2021_PS.pdf sowie Antworten auf Frage 38 in https://dserver.bundestag.de/btd/19/285/1928552.pdf sowie Antwort auf Frage 56 in https://dserver.bundestag.de/btd/19/302/1930285.pdf).
Fast ausschließlich durch diesen Statistikeffekt beläuft sich der Lohnfaktor in der Rentenanpassungsformel auf rund 2,3 Prozent. Hinzu kommt, dass der Nachhaltigkeitsfaktor bei der Rentenanpassung 2021 eine zusätzliche Rentenminderung um rund 0,9 Prozent bewirkt hätte. Der fiktive Lohnrückgang sowie der Nachhaltigkeitsfaktor machen damit rund drei Prozent der im Jahr 2021 aufgrund der Schutzklausel nicht umgesetzten 3,24 Prozent rechnerischer Rentenminderung aus. Die Forderung, den Nachholfaktor wieder anzuwenden, bedeutet, dass die Renten künftig um diese 3,24 Prozent langsamer steigen würden. Die Protagonist*innen wissen alle um diese Fakten, wollen also ganz bewusst die künftigen Renten um rein fiktive Lohnrückgänge und die politischen Kürzungsfaktoren mindern. Diese Forderung bleibt ihnen unbenommen. Aber es ist politisch bewusste Irreführung, diese Kürzungsziele mit dem Prinzip zu begründen, die Renten sollen wie die Löhne steigen, wenn doch das Gegenteil gefordert wird. Von Generationengerechtigkeit kann hierbei ohne keine Rede sein, denn der Nachholfaktor und ein sinkendes Rentenniveau trifft gerade die jüngeren Menschen.
„In mittlerer Frist jedenfalls steigen mit Ausnahme der Jahre 2022 und 2023 die Renten langsamer als die Löhne. Und ab 2025 steigen die Renten nach geltendem Recht bis 2035 um über 10 Prozent langsamer als die Löhne, denn nach 2025 gilt die Haltelinie nicht mehr und das Rentenniveau darf wieder ungebremst sinken. Vor dem Hintergrund ist es sehr zu begrüßen, dass das Rentenniveau – ohne statistischen Effekt – dauerhaft bei mindestens 48 Prozent liegen soll. Dies ist das wichtigste Versprechen für die künftigen Generationen.
Dass sich die Koalition dann trotzdem darauf verständigt hat, den Nachholfaktor ab 2022 wieder anzuwenden, ist vor dem geschilderten Hintergrund und angesichts des Ziels eines stabilen Rentenniveaus nahezu grotesk, wenngleich auch der Nachholfaktor nur „im Rahmen der geltenden Haltelinien wirken“ soll. Der Nachholfaktor darf also nicht zu einem Rentenniveau von unter 48 Prozent – ohne statistischen Effekt – führen. Auch der vermeintliche, rein statistisch erzeugte, Lohnrückgang aufgrund der Revision ist herauszurechnen.
Mit aktiviertem Nachholfaktor werden die Renten jedoch nicht nur im Jahr 2022 langsamer steigen als die Löhne, sondern auch 2024 wird es eine Nullrunde geben. Die Rentenerhöhung 2025 wird tendenziell noch weiter hinter den Löhnen zurückbleiben. Der DGB fordert dagegen, dass die Rentnerinnen und Rentner an der Wohlstandsentwicklung beteiligt werden sollen, dazu müssen aber die Renten wie die Löhne steigen und eben nicht langsamer. Die Ampelkoalition hat noch die Chance, hier umzusteuern.“
Weiterführende Links (sind auch im Text enthalten)
Position des DGB zum Nachholfaktor
Stellungnahme des DGB zur Rentenanpassung
Beitrag von Ingo Schäfer aus WSI-Blog zum Thema „Corona und Rente“ allgemein
Quelle: https://www.dgb.de/ Bild: Sozialpolitik