Der Krieg in der Ukraine war gerade einen Tag alt, da wusste die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ), der Jugendverband der DKP, bereits über seine Ursachen Bescheid. In einer Erklärung vom 25. Februar 2022 heißt es: „Dabei steht außer Frage, dass Russland ein imperialistisches Land ist. (…) Die kapitalistischen Großmächte kämpfen wirtschaftlich, diplomatisch, politisch und eben auch militärisch um Einflussgebiete, Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten. Die kapitalistische Konkurrenz findet ihre logische Fortsetzung im imperialistischen Krieg. Der Krieg ist die Fortsetzung der kapitalistischen Politik mit anderen, eben militärischen, Mitteln. Die NATO ist das aktuell aggressivste Bündnis imperialistischer Staaten, allen voran den USA und u.a. Deutschland in Europa. Seit über 30 Jahren betreiben (sie) dabei eine besonders aggressive Expansionspolitik, auch in Richtung Osteuropa.“ [1]
Die NATO sei demnach nur „das aktuell aggressivste Bündnis imperialistischer Staaten“ in einem Konflikt zwischen imperialistischen Mächten.So ähnlich sieht es auch die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) sowie die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD). Für beide Parteien gilt zudem, dass auch die Volksrepublik China ein kapitalistischer und imperialistischer Staat ist. Die MLPD hat für Russland und China dafür den Begriff „neuimperialistiche Staaten“ erfunden.
Auch Loren Ballhorn, Chefredakteur des Onlinemagazins Jacobin, ein Organ das der Linkspartei nahesteht, sieht als Ursache des Krieges die Konkurrenz imperialistischer Staaten: „Die Aussage, dass die Welt vom US-Imperialismus dominiert wird, bedeutete nie ‚Amerika schlecht, Russland und China gut‘. Seit seinen Ursprüngen im klassischen Marxismus des frühen 20. Jahrhunderts hat der Begriff des Imperialismus stets bezeichnet wie die größten und mächtigsten kapitalistischen Staaten mit allen Mitteln versuchen, ihren Einfluss auf externe Märkte und natürliche Ressourcen zu sichern, was oft in Krieg und Kolonisierung mündet. Es lässt sich darüber streiten, ob Russland – ein Land mit 144 Millionen Einwohnern, aber einem BIP ähnlich dem von Spanien – wirklich als einer der mächtigsten kapitalistischen Staaten angesehen werden kann. Aber Putins Bestreben, die russische Hegemonie über sein nahes Ausland wiederherzustellen, weist wenn auch nicht klassisch imperialistische, so doch in jedem Fall imperiale Züge auf. Das ändert nichts an der Tatsache, dass die USA mit ihren fast 750 Militärbasen in achtzig Ländern die bei weitem führende imperialistische Supermacht sind und dies auch in den kommenden Jahren bleiben werden, selbst wenn China, Indien und in gewissem Maße auch Russland allmählich zu eigenständigen (sub-)imperialistischen Mächten aufsteigen.“ [2]
Auch der frühere Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE, Paul Schäfer, spricht in einem Beitrag auf dem online-Portal Links bewegt vom „imperialistischen Charakter des Putin-Regimes“. [3]
Die Debatte darüber wird auch in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) geführt. Deren Wochenzeitung Unsere Zeit (UZ) veröffentlichte hierzu in Auszügen ein Referat des Parteivorsitzenden Patrik Köbele. Darin heißt es: „Es besteht unter uns Einigkeit, dass die Russische Föderation ein kapitalistisches Land ist. (…) Diskussionen gibt es unter uns, ob sich die Russische Föderation bereits im imperialistischen Stadium der Entwicklung des Kapitalismus befindet. Ihr wisst, dass Lenin fünf Merkmale für die Charakterisierung des Imperialismus benennt, von denen drei sich auf die Entwicklung der nationalen Ökonomie und zwei auf die Entwicklung internationaler Verhältnisse beziehen. Wenn wir die ersten drei Merkmale auf Russland anwenden, dann ist das erste – ‚Konzentration der Produktion und des Kapitals und Bildung von Monopolen, von denen jeweils einige wenige ganze Industriezweige beherrschen‘ – in Russland sicherlich gegeben. Es spricht viel dafür, dass das zweite – ‚die Verschmelzung der Monopole in der Industrie und im Bankwesen zum Finanzkapital‘ – ebenfalls gegeben ist. (…)“
„Das dritte Charakteristikum, dass ‚der Kapitalexport gegenüber dem Warenexport vorrangige Bedeutung gewinnt‘, scheint mir in Russland nicht erfüllt zu sein. Die Kapitalabflüsse aus Russland gehen zu großen Teilen in Steuerparadiese wie Zypern, die Schweiz oder Luxemburg. Diese dienen nicht dazu, sich direkt in andere Kapitalien einzukaufen, wie es aus meiner Sicht beim von Lenin genannten Kapitalexport gemeint ist. Eines von drei Kriterien ist meines Erachtens nicht erfüllt. Ich neige deshalb zur Position, dass es sich bei Russland um ein kapitalistisches Land handelt, welches das imperialistische Stadium noch nicht erreicht hat.“ [4]
Geht man also von den Prämissen Köbeles aus, so hängt die Bewertung Russlands als imperialistisches Land allein davon ab, wie man den Kapitalexport des Landes einschätzt. Zielt er auf den Erwerb ausländischer Unternehmen, so würde die Bewertung in Richtung Imperialismus kippen. Dann wäre Russland Teil jener „Räuberbande“, wie Lenin die um die Beute sich raufenden imperialistischen Mächte des ersten Weltkrieges bezeichnet hatte. Tatsächlich haben russische Unternehmen zahlreiche Betriebe im Ausland aufgekauft, so etwa Gazprom Energieunternehmen in Deutschland. Ist also deshalb Russland ein imperialistisches Land? Und überhaupt: Ab welcher Summe getätigter Auslandsinvestitionen ist ein Land imperialistisch?
Um die Verwirrung noch zu steigern, fügte Köbele seinen zitierten Ausführungen folgende Bemerkung an: „Aber: Diese Frage (ob Russland imperialistisch ist oder nicht, A.W.) ist nicht entscheidend, wenn es um die Beurteilung des jetzigen Krieges geht. Warum nicht? Seit Ende des Ersten Weltkriegs wissen wir, dass imperialistische Nationen abgehängt oder durch andere imperialistische Nationen unterdrückt werden können.“ Demnach sei Russland also sehr wohl ein imperialistisches Land, aber eben nur „abgehängt“ oder „durch andere imperialistische Nationen unterdrückt“.
Der Krieg als Teil des globalen Nord-Süd-Konflikts
Die hier dargestellten Positionen linker Politiker zeigen, dass man sich leicht verheddern kann, wenn man kritiklos historisch einst zutreffende Kriterien auf die Bewertung einer heute anders gearteten Situation anwendet. Dies ist übrigens eine Herangehensweise, die Lenin stets missbilligte. Von ihm kann man noch heute lernen, dass man bei der konkreten Analyse der konkreten Situation die Wirklichkeit jeweils neu zu bewerten hat, wozu eben auch gehört, sich immer wieder selbst zu korrigieren. Lenin hat das in seinem Leben dutzendfach getan.
Lassen wir also solch schematischen Betrachtungen beiseite und beginnen wir stattdessen mit der Analyse der Situation, indem wir von der westlichen Version des Krieges ausgehen. Danach handele es sich längst nicht mehr um einen Konflikt zweier benachbarter Länder, die eine lange gemeinsame Geschichte verbindet, den man daher als einen Krieg unter Brüdern, wenn nicht gar als Bürgerkrieg bezeichnen kann. Glaubt man den hiesigen Medien, so kämpfen hier vielmehr die liberalen Demokratien – auch als „Westen“ bezeichnet – um den Erhalt einer freiheitlichen, auf Menschenrechten basierenden Rechtsordnung, wobei der Begriff Westen hier nicht als geographischer Begriff, sondern als Werteordnung verstanden wird. Dem gegenüber stehe mit Russland eine Autokratie, die auf einem alles beherrschenden Staat beruhe und über grundlegende Eigenschaften westlicher Demokratien wie Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und Achtung der Menschenrechte nicht verfüge.
In diesem Bild eines unzivilisierten Russlands kann man unschwer die Umrisse der alten Sowjetunion erkennen, der im kalten Krieg vergleichbare Vorwürfe gemacht wurden. Vorbei sind die Jahre, in denen Russland zwischen 1991 und 2014 – erst unter Boris Jelzin und dann unter Wladimir Putin – selbst zum Westen gerechnet wurde. Das war die Zeit der Mitgliedschaft des Landes im elitären Klub der G 8, dem informellen Zusammenschluss der bedeutendsten Industrienationen der westlichen Welt. Doch bereits Anfang der 2000er Jahre begann der Entfremdungsprozess zwischen dem Westen und Russland. Unter der Präsidentschaft Putins verlief dieser in mehreren Etappen, bis es schließlich mit dem Einmarsch in die Ukraine zum endgültigen Bruch kam.
Es ist verblüffend, dass die Konstellation des kalten Krieges jetzt wiederaufersteht, hatte sich doch die einst so verhasste Sowjetunion 1991 selbst aufgegeben, womit– zumindest in Europa – zugleich der Systemgegensatz von Kapitalismus und Sozialismus verschwand. Da in Moskau aber kaum jemand ernsthaft darüber nachdenkt zum Sozialismus zurückzukehren, muss es also einen anderen Grund geben, warum die Liaison mit dem Westen so kurzlebig war.
Die erneute Entfremdung verweist daher auf einen viel älteren Konflikt als den zwischen Kapitalismus und Sozialismus: Es ist der traditionelle, in Jahrhunderten entwickelte Anspruch des Westens – unter historisch sich einander ablösenden Vormächten – auf Weltherrschaft, auf Kolonisierung und Beherrschung peripherer Gebiete, deren Rohstoffe und Arbeitskräfte sowie Märkte er für seinen Wohlstand glaubt benötigen zu müssen. Nach Jahren voller Illusionen musste Moskau am Ende einsehen, dass man in diesem Klub der elitären Staaten nur geduldet ist, wenn man die Rolle des willigen Rohstofflieferanten und des offenen Absatzmarktes spielt. Die Verfolgung eigener strategischer Interessen wird hingegen nicht akzeptiert. Der Konflikt des Westens mit Russland ist daher Teil des globalen Nord-Süd-Gegensatzes zwischen westlichem Vormachtstreben und aufstrebenden Schwellenländern, die an die Stelle der bestehenden, von den USA und der EU bestimmten Weltordnung eine multipolare setzen wollen. Der frühere indische Chefdiplomat Melkulangara K. Bhadrakumar hat erst kürzlich darauf hingewiesen, dass der vom Westen heute wieder bemühte Gegensatz von „Demokratie versus Autokratie“ eine altbekannte „manichäische Allegorie“ darstellt, die der Aufstiegsphase des Imperialismus entstammt. [5]
Nur so ist zu erklären, dass sich der globale Süden jetzt bis auf wenige Ausnahmen nicht vor den Karren von USA und der NATO spannen lässt, dass dort Sanktionen gegenüber Russland und erst recht Waffenlieferungen an die Ukraine abgelehnt werden. In Asien sind es lediglich die drei Staaten Japan, Südkorea und Singapur, die sich an den Sanktionen beteiligen. Eine besondere Enttäuschung für den Westen stellt die Haltung Indiens dar. Seit Ausbruch des Krieges reisen deshalb hochrangige Repräsentanten der USA, der EU und Großbritanniens im Wochentakt nach Neu-Delhi, um das Land doch noch umzustimmen – bislang vergeblich. Auch die BRICS-Staaten Südafrika und Brasilien lassen sich nicht in den Konflikt hineinziehen. [6]
Und da ist vor allem China, dem Putin noch kurz vor Beginn des Krieges einen Staatsbesuch abstattete. Nach dem Treffen verkündeten er und Xi Jinping in einer gemeinsamen Erklärung eine neue Ära der bilateralen Beziehungen, die „keine Grenzen“ kenne und „den politischen und militärischen Allianzen der Zeit des Kalten Krieges überlegen“ sein werde. [7]
Seit Jahren zeigen sich die USA inzwischen aber auch die EU besorgt darüber, dass der wirtschaftliche und militärische Aufstieg des Reichs der Mitte ihre Vormachtstellung gefährden könnte. Beide denken über Strategien nach, wie diese Entwicklung gestoppt bzw. umgekehrt werden kann. Eine der Maßnahmen wäre die nachhaltige Schwächung des chinesischen Bündnispartners Russland, indem man diesem Land im Krieg mit der Ukraine eine Niederlage beifügt.
Mit der angestrebten Schwächung Moskaus soll vor allem die Vormachtstellung des Dollars als Weltwährung gesichert werden. Angesichts der Grösse der chinesischen Wirtschaft und des hohen Wachstumspotenzials der indischen Wirtschaft liegt es nahe, dass beide Länder Schritte unternehmen, den Dollar zu umgehen. Ihre Haltungen könnten dabei richtungsweisend für andere Länder sein. Das von den westlichen Sanktionen betroffene Russland hat die BRICS-Gruppe der Schwellenländer bereits aufgefordert, die Verwendung nationaler Währungen auszuweiten und die Zahlungssysteme zu integrieren. Die Tatsache wie die USA gegenüber Russland den Dollar als Waffe benutzen und der rücksichtslose Schritt des Westens, Russlands Reserven einzufrieren, hat vielen Entwicklungsländern die Augen dafür geöffnet, wie existenziell gefährdet sie in einem ernsthaften Konflikt mit dem Westen wären.
Betrachtet man den Krieg in der Ukraine aus diesem Blickwinkel so erkennt man, dass er nur eine weitere Etappe des Ringens um eine Weltordnung darstellt, die nicht länger mehr vom Westen bestimmt ist. Analysen hingegen, die Russland und auch China imperialistische Interessen unterstellen, führen in die Irre.
Anmerkungen:
[1]Zum Krieg in der Ukraine, Erklärung der SDAJ vom 25.02.2022
[2] Loren Balhorn, Jeder Krieg ist eine Niederlage, in: Jacobin vom 15.04.2022
[3] Paul Schäfer, DIE LINKE und der Krieg, Erneuerung oder Niedergang, in: Online Magazin Links bewegt vom 25.04.2022
[4] Frieden geht nur mit Russland und China, Referat von Patrik Köbele, in: Unsere Zeit vom 15.04.2022
[5] Melkulangara K. Bhadrakumar, India’s Dilemma over West vs. Russia, in: Indian Punchline vom 06.04.2022, https://www.indianpunchline.com/indias-dilemma-over-west-vs-russia/
[6] Zu den BRICS-Staaten zählen Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.
[7] Eine weltweit operative antidemokratische Achse? – Warum China und Russland Partner, aber keine Alliierte sein können, in: Neue Zürcher Zeitung vom 20.02.2022
Der Beitrag erschien auf https://www.andreas-wehr.eu/ und wird mit freundlicher Genehmigung hier gespiegelt. Bild: KiwiThek!