Ganz offensichtlich sehen die Regierenden die Gefahr, dass die rapid steigenden Lebenshaltungskosten zu sozialer Unruhe führen, die nur schwer einzufangen ist. Deshalb bringen sie eine Reihe von vorübergehenden Entlastungsmaßnahmen auf den Weg: 300 Euro für alle Beschäftigten (von dem nach Abzug der Steuern und Sozialabgaben viel weniger übrig bleibt)[1], Vorziehen der Erhöhung der Pendlerpauschale, 9-Euro-Ticket für drei Monate, befristete Senkung der MwSt auf Sprit, einmaliger Zuschuss für Hartz-IV-EmpfängerInnen …
Damit wird aber nur ein kleiner Teil des Anstiegs der Lebenshaltungskosten ausgeglichen und vor allem nur befristet. Die abhängig Beschäftigten erleben – je nach Branche ‒ seit Mitte/Ende 2021 einen deutlichen Reallohnverlust, der sich im Laufe dieses Jahres (2022) noch verstärkt hat.
Auf die Regierenden können wir uns nicht verlassen, wenn es um die Sicherung unserer Einkommen geht. Umso wichtiger also, dass wir gewerkschaftliche Kraft in die Waagschale werfen. Dabei sollten wir uns nicht vom Gejammere der Kapitaleigner*innen irreführen oder beeindrucken lassen. Denn selbst während der Pandemie sind die Reichen noch reicher geworden, streichen große Konzerne auf unsere Kosten massive Gewinne ein, wie man gut am Beispiel der Energiekonzerne sehen kann!
Drei Achsen im Kampf zur Verteidigung des Lebensstandards der lohnabhängigen Bevölkerung:
1.) Tarifauseinandersetzungen:
Oberstes gewerkschaftliches Gebot in der nächsten Zeit muss es sein, keinen Tarifvertrag mehr abzuschließen, der zu einem Reallohnverlust führt. Dies bedeutet, dass wir mindestens in diesem Jahr keinen Tarifabschluss unter 8 % haben dürfen. Um dieses Ziel zu erreichen sollten die Tarifforderungen von vornherein zweistellig sein. Die anstehenden Tarifrunden müssen also offensiv angegangen werden und die Laufzeit darf vor allem wegen der unsicheren Zeiten nicht länger als 12 Monate betragen.
2.) Lohnanpassung an Preissteigerungen:
Da wir nicht wissen, wie sich die Inflation entwickelt, müssen nach unserer Ansicht die Gewerkschaften den Kampf für eine automatische Anpassung der Entgelte an die Preissteigerungen aufnehmen und sich an Luxemburg ein Beispiel nehmen. Dort werden die Löhne und Gehälter automatisch angepasst, sobald die kumulierte Inflation 2,5 % des Lebenshaltungskostenindexes (Verbraucherpreisindexes) erreicht. Die in dieser Weise wirkende Gleitende Lohnskala (auch Indexlohn genannt) wurde in den 1920er Jahren erstreikt und Mitte der 1970er Jahre auf alle Löhne, Renten und Zuwendungen ausgedehnt, unabhängig vom Wirtschaftssektor oder dem Statut der Beschäftigten.
Die Unternehmer haben diese wichtige soziale Errungenschaft immer wieder angegriffen, so auch dieses Jahr und zwar mit Unterstützung der Regierung. Doch der Gewerkschaftsbund OGBL wehrt sich.[2]
Grundsätzlich sind für eine automatische Anpassung der Entgelte 2 Modelle möglich: Entweder werden die Entgelte bei Erreichen eines bestimmten Index angepasst (so in Luxemburg) oder aber die Löhne, Gehälter und sonstigen Bezüge werden nach einem festgelegten Zeitraum (wie in Belgien) gemäß der Preissteigerungsrate angepasst und zwar auch in diesem Fall natürlich tabellenwirksam.
Zwei Regelungsmöglichkeiten:
Wird die automatische Anpassung („Indexlohn“ oder „Gleitende Lohnskala“) tarifvertraglich festgelegt, dann hat dies den großen Vorteil, dass Regierung und Parlament nicht so einfach dazwischenfunken können, um die Anpassung zu verschieben oder ausfallen zu lassen. Andererseits werden mit einer gesetzlichen Regelung auch Belegschaften und Bereiche erfasst, für die es keine Tarifverträge gibt. Ganz bestimmt sind tarifvertragliche Regelungen leichter zu erkämpfen und können erste Schritte für eine Einführung und spätere Verallgemeinerung sein. So ist auch die Beschlussfassung der ver.di-Betriebsgruppe der FU Berlin zu werten, mit der ver.di aufgefordert wird, sich für die Gleitende Lohnskala einzusetzen.[1]
Die Gleitende Lohnskala (bzw. der Indexlohn) macht Tarifkämpfe in keiner Weise überflüssig, denn mit ihrer Einführung kann überhaupt erst wieder der Kampf für eine andere Verteilung des Sozialprodukts angegangen werden. Auch Fragen der Stellenbesetzungen (Personalschlüssel), der dringend notwendigen Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich usw. können dann konsequenter angegangen werden.
3.) Preiskontrollen und Armutsbekämpfung:
Zusammen mit Sozialverbänden und vergleichbaren Organisationen sollten die Gewerkschaften sich dafür einsetzen, dass auch diejenigen, die sich nicht mit Hilfe von Tarifkämpfen wehren können, nicht in Armut abrutschen. Es braucht eine breite Bewegung, die sich für folgende Ziele einsetzt:
- Keine Abwälzung von Kriegs- und Krisenkosten auf die arbeitende Bevölkerung! Keinen Abbau von sozialen Standards und Errungenschaften!
- Kostenloses ausreichendes Grundkontingent an Strom für alle Haushalte, verbunden mit einer stark steigenden Progression für Großverbraucher. Dies wäre gleichzeitig eine sozial gerechte Maßnahme für den Klimaschutz.
- Energieversorgung, Wohnen und Mobilität sind Grundrechte. Sie müssen für alle bezahlbar sein. Deshalb fordern wir einen sofortigen gesetzlichen Preisstopp für Heizöl, Gas und Sprit für private Haushalte, verbunden mit einer starken Progression für Großverbraucher.
- Außerdem fordern wir den Ausbau erneuerbarer Energien. Energieversorgung gehört in öffentliche Hand und unter demokratische Kontrolle.
- Die Mietenexplosion muss ebenso gestoppt werden – statt Mietenwucher Einführung einer Kostenmiete, Förderung des sozialen Wohnungsbaus und Überführung von großen Immobilienkonzernen in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle. (eine deutliche Mehrheit der Berliner Bevölkerung hat sich per Volksentscheid bereits für eine Enteignung ausgesprochen – die Gewerkschaften sollten hierfür Druck aufbauen – in Berlin und bundesweit)
- Für Grundnahrungsmittel brauchen wir einen sofortigen Preisstopp und eine öffentliche Kontrolle der Preise.
- Und wir fordern: Entlastung für alle – auch für Rentner, Studierende oder Erwerbslose. Die Grundsicherung muss deutlich angehoben werden. Das gleich gilt für den Mindestlohn.
- Dafür müssen die Preistreiber zur Kasse gebeten werden. Es muss endlich eine Reichensteuer sowie eine unmittelbare Milliardärsabgabe eingeführt werden.
An den gewerkschaftlichen Mobilisierungen im Ausland sehen wir, dass nicht nur wir betroffen sind. In England und Belgien wird zum Beispiel bereits zu gewerkschaftlichen Großdemonstrationen aufgerufen, in Belgien gab es zudem einen Generalstreik im öffentlichen Dienst. Jetzt muss auch bei uns eine gewerkschaftliche Mobilisierung einsetzen. Versuche der Regierung, erneut eine Konzertierte Aktion ins Leben zu rufen, muss eine klare Absage erteilt werden, denn dies würde unweigerlich zu massiven Zugeständnissen an die Kapitalseite führen und uns bei der fälligen Gegenwehr nur behindern. Wir brauchen gewerkschaftliche Aktionskonferenzen, Versammlungen in Betrieben und Dienststellen, um über die aktuelle Situation und mögliche Gegenwehr zu sprechen. Aufbauend darauf sollten DGB-weit koordinierte wirksame Mobilisierungen durchgeführt und eine kraftvolle Bewegung aufgebaut werden. Schließlich sind alle abhängig Beschäftigten von den massiven Reallohnverlusten betroffen. Hier besteht auch die Chance, die Gewerkschaften wieder zu machtvollen Organisationen aufzubauen. Tarifauseinandersetzungen sollten dabei zum Ausgangspunkt für breitere Mobilisierungen genommen werden, bei denen Beschäftigte unterschiedlicher Branchen gemeinsam auf die Straße gebracht werden können. Dies kann gesteigert werden bis hin zu gewerkschaftsübergreifenden Streiks.
Flyer zum Herunterladen:
https://vernetzung.org/wp-content/uploads/2022/06/Flyer-Kampf-gegen-Reallohnsenkungen.pdf
Anmerkungen:
[1]https://www.verdi-fu.de/wordpress/author/bg-vorstand/
[2]https://www.tageblatt.lu/headlines/das-hier-ist-enorm-tausende-demonstrieren-fuer-den-index/?fbclid=IwAR1lupOdG9XQjD3-YRClpCCOORmJ5SSxMjCi0waamUC4EPxqBrR7Upe-U9s
[3]Dass Rentner*innen und Studierende von der Zahlung der 300 Euro ausgeschlossen sind, hat wohl damit zu tun, dass diese Bevölkerungsgruppen sich schlechter wehren können. Für die Kosten der Entlastungspakete kommt später ohnehin die Masse abhängig Beschäftigten auf, wenn die Gewinne der Konzerne und Banken weiterhin nicht angetastet werden.
Der Beitrag erschien auf https://vernetzung.org/ Bild: verdi.de