Das war ja sensationell! Knapp vor einem Jahr beschloss der Stadtrat von Seattle/USA einstimmig ein neues Gesetz, mit dem der städtische Mindestlohn nach und nach auf 15 US-Dollar die Stunde angehoben wird. Damit wird der Mindestlohn in der Stadt Seattle doppelt so hoch sein, wie der landesweit geltende Mindestlohn in den USA in Höhe von 7,25 Dollar.
Das erreichte Ergebnis wird die Debatte über den Mindestlohn nicht nur in den USA beflügeln und die Messlatte für mögliche neue Mindestlohnstandarts höher legen.
Wieder hat sich gezeigt, dass nur Beschäftigte, die gut organisiert sind, es schaffen und dass es eine breite Unterstützung für höhere Löhne geben muss, damit selbst die Hardliner unter den Unternehmern sich schließlich beugen müssen und mehr zahlen.
Aber so einfach war das alles nicht, vor allem dann nicht, wenn es sich beim Kampf um gerechte Löhne auch noch um neue Vorgehensweisen handelt. Aber wie haben sie das geschafft?
Das Ganze begann damit, dass Kashama Sawant im November 2013 als erste Sozialistin in das Stadtparlament von Seattle gewählt wurde. Kashama Sawant ist eine junge Einwanderin aus Indien, die schnell feststellte, dass die Armut in den USA noch „ausgeprägter“ war als in Indien.
Als Mitglied der Socialist Alternative bekannte sie sich offensiv zu ihrer politischen Einstellung und begann mit dem Aufbau der Bewegung für den 15-Dollar-Lohn. Sie schaffte es sehr schnell, eine breite Basis zu organisieren und die Bewegung ganz offen und breit auszurichten.
Der Gewerkschaftsbund AFL-CIO räumte sogar ein, dass die 15-Dollar-now Bewegung die Basis besser organisieren konnte, als sie selbst es je geschafft hätten.
Im Januar 2014 sprachen sich bei einer Umfrage 68 Prozent der Wahlberechtigten in Seattle für die Einführung des 15-Dollar-Lohns ohne Ausnahmen aus.
Hier zeigt sich, dass sich in den USA etwas geändert hat: auch bedingt durch die Krise 2008 ist in der Bevölkerung die Bereitschaft gestiegen, etwas gegen die ungleiche Entwicklung beim Einkommen und die Verteilung von Vermögen zu unternehmen und sich zu engagieren. Außerparlamentarische Aktionen, wie der Aufbau von Nachbarschaftskomitees, Veranstaltungen, Demonstrationen und vor allem die Drohung mit einer Volksabstimmung, trugen zur allgemeinen Politisierung bei und änderten dann sogar die Meinung im gesamten Stadtparlament: Alle gewählten Vertreter waren nun für den Mindestlohn.
Der Bürgermeister kümmerte sich dann um die Verhandlungen mit der Unternehmerseite, damit ihm die ganze Sache nicht aus der Hand gleiten sollte und es doch zu einem von ihm befürchteten Volksbegehren kommen würde.
Natürlich waren die wichtigsten Aktionen, die Streiks und Proteste der Beschäftigten aus der Fast Food-Branche. Schon 2013 hatten sich die Streiks schon einmal auf das ganze Land ausgeweitet.
Von Anfang an war es das Ziel in Seattle, die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen hinter einer gemeinsamen Position zu vereinigen, um so den Druck auf den vom Bürgermeister eingesetzten Ausschuss, wie auch auf den Stadtrat zu erhöhen, damit es auch wirklich zur Einführung eines Mindestlohns von 15 Dollar die Stunde kommt.
Bei ihrem ersten Streik hatten die Beschäftigten noch Angst, doch das legte sich schnell, als die Arbeiterinnen und Arbeiter bei den Demonstrationen Beschäftigte anderer Fast-Food-Ketten, Supermarktjobber und Autowäscher trafen, die alle mit den gleichen Problemen kämpften. Es entstand eine große Solidaritätswelle, allerdings ohne den Einfluss oder unter der Führung der traditionellen Gewerkschaften.
Im Mai 2014 kam es in 150 US Städten zu „15now“-Protestaktionen. Am 4. September streikten Fast-Food-Beschäftige in vielen Städten der USA, um der Mindestlohnforderung Gehör zu verschaffen.
„Es mag sein, dass die Gewerkschaft die effektivste aller Basisorganisationen sein möchte. In diesem Fall war sie es allerdings nicht. Schlimm war das jedoch deswegen nicht, weil wir mit ‚Socialist Alternative‘ schließlich einen Partner hatten, der diese Aufgabe übernommen hat. Es gibt KollegInnen, denen es schwer gefallen ist einzugestehen, dass ‚15 Now‘ die Basis besser organisieren konnte als wir. Ich bin der Meinung, dass sie das tatsächlich hinbekommen haben“ gab David Freiboth, Vorsitzender des Gewerkschaftsbunds, AFL-CIO, in der Region Seattle, der Presse gegenüber zu.
Dies erinnert ein wenig an den großen Streik bei Ford in Köln im Jahr 1973, bei dem die überwiegend türkische Gewerkschaftsbasis die Sache in die Hand nahm und die Funktionäre der Entwicklung hinterher liefen, ohne sie wirklich einfangen zu können.
In Seattle wollten die Unternehmer natürlich den vom Bürgermeister in Gang gesetzten Prozess nutzen, um ein kommendes neues Mindestlohn-Gesetz mit möglichst vielen Schlupflöchern zu versehen.
Allen Akteuren war bewusst, dass die Unternehmen viel Geld einbringen können, ihre guten Beziehungen zur politischen Ebene haben und die Massenmedien auf ihrer Seite sind. Deshalb musste sehr viel Energie in die Öffentlichkeitsarbeit fließen, um die öffentliche Meinung zu gewinnen.
Die Rahmenbedingungen für einen Machtkampf mit den Konzernen sind in den USA derzeit nicht rosig, denn die Gewerkschaftsbewegung ist sehr geschwächt worden und Streiks finden nur noch selten statt. Die Rückschläge der Gewerkschaftsbewegung haben das Selbstbewusstsein der Beschäftigten und ihrer Organisationen erheblich gesenkt.
Auch deshalb war es wichtig, dass die arbeitenden Menschen ihre eigenen Mittel und Werkzeuge brauchten. So wurde dann die „15 Now“-Initiative gegründet, auch um ein erfolgversprechendes Volksbegehren zu initiieren und um ein wirkungsvolles Druckmittel in der Hand zu haben. Die Initiative „15 Now“ drohte mit der Sammlung von 50.000 Unterschriften, sollte das IIAC (Beratender Ausschuss für Fragen der Einkommensungleichheit) keinen angemessenen Mindestlohn in Höhe von 15 Dollar beschließen. Mit dieser Anzahl an Unterschriften wäre es zu einem Volksentscheid für ein Mindestlohn-Gesetz von unten gekommen. Auch die Gewerkschaften unterstützten diese Vorgehensweise.
Das war natürlich das beste Druckmittel, das es zu dem Zeitpunkt gab.
Dann wurde die Vorlage mit den wichtigsten Punkten eingereicht:
- 15 Dollar Mindestlohn pro Stunde im Bereich der Großkonzerne; Einführung am 1. Januar 2015.
- Keine Verrechnung mit Trinkgeldern, Krankenkassen- oder Rentenbeiträgen, keine „totale Entschädigung“.
- Voller jährlicher Kaufkraft-Ausgleich (wörtl.: „cost of living adjustment“, COLA), wie es im Bundesstaat Washington heute schon der Fall ist.
- Stufenweise Ausweitung des Mindestlohns auf die Kleinbetriebe und gemeinnützigen Einrichtungen über drei Jahre hinweg, beginnend mit einer Erhöhung des Mindestlohns auf elf Dollar ab dem 1. Januar 2015 und einer erneuten Anhebung in Drei-Jahres-Intervallen auf einen um die Lebenshaltungskosten bereinigten Mindestlohn in Höhe von 15 Dollar ab dem 1. Januar 2018.
- Ab dem 1. Januar 2018 müssen alle abhängig Beschäftigten in Seattle, unabhängig von der Größe des Betriebes, in dem sie arbeiten und ohne Ausnahme, Schlupflöcher oder „Spielräume“ denselben inflationsbereinigten Mindestlohn in Höhe von 15 Dollar die Stunde erhalten.
Im Stadtrat wurde versucht, sämtliche Schlupflöcher für die Unternehmen durch entsprechende Beschlüsse zu schließen.
Auf der anderen Ebene wurde an Kompromissen zwischen den Unternehmen und der Gewerkschaft gerungen. Seitens der gewerkschaftlichen Opposition wurde dafür Druck aufgebaut, damit keine Zugeständnisse auch auf der Gewerkschaftsseite gemacht werden sollten.
Am 6. Juni 2014 beschloss der Stadtrat von Seattle/USA einstimmig ein neues Gesetz, mit dem der städtische Mindestlohn nach und nach auf 15 US-Dollar die Stunde angehoben wird.
Trotz seiner Schwächen, stellt das Gesetz einen Sieg für die Arbeiterbewegung in den USA dar. Allerdings wäre ohne die breite soziale Bewegung erst gar keine Diskussion über einen höheren Mindestlohn angestoßen worden.
Was bedeutet dieser Erfolg hier für unsere Gewerkschaftsarbeit?
In Seattle wurde von Beginn an darauf geachtet, dass
- sehr viel Energie in die Öffentlichkeitsarbeit fließen muss, um die öffentliche Meinung zu gewinnen
- gemachte Fehler nicht wieder gemacht werden, nämlich die politischen Forderungen abzuspecken, um auf diese Weise die Konzernseite zu beschwichtigen und dann vorschnell Kompromisse einzugehen. Das führt meistens dazu, dass die eigene Anhängerschaft nicht mehr motiviert ist und die Bewegung selbst geschwächt wird
- gründlich zu durchdenken, wie man sich gegen die Angriffe von Seiten der Kapitalgesellschaften und ihrer Medien, Politiker und Juristen zur Wehr setzen und schützen kann
- Aktionen und Forderungen so einfach wie möglich gestaltet werden und alles zielgerichtet und leicht erklärbar bleibt
- die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen hinter einer gemeinsamen Position vereinigt werden, um so den Druck zu erhöhen, die Forderungen zu erfüllen
- nicht hinter verschlossenen Türen verhandelt, sondern transparent und für alle nachvollziehbar verhandelt wird
und
Streiks von Minderheiten, deren ökonomische Auswirkungen zwar begrenzt bleiben, viel politische Unterstützung aus der Gesellschaft erhalten können.
Der Kampf für bessere Löhne, weniger Arbeitszeit, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit muss gleichzeitig ein Kampf für die Veränderung der Gesellschaft sein, einer Gesellschaft, die sich an wirklicher sozialer Gleichheit und den Bedürfnissen der Menschen orientiert.
Wie lautete noch der Slogan aus der US-amerikanischen Arbeiterbewegung: „an injury to one is an injury to all – wenn ein einzelner Unrecht erfährt, dann erfahren alle Unrecht“
Quellen: Kshama Sawant, Lunpark 21, Süddeutsche Zeitung
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