EU-Innenpolitik in der „Zeitenwende“

Von Dirk Burczyk

Die Politik der „Inneren Sicherheit“ in der EU ist seit Jahrzehnten von wechselnden Feindbildern geprägt. Die höchste Kontinuität hat dabei die „irreguläre“ Migration. Sie ist zugleich zentrales Politikfeld der extremen und konservativen Rechten, die national und europäisch von Wahlerfolg zu Wahlerfolg eilen. Der aktuelle Rechtsruck in allen Gremien der EU – Kommission, Rat und Parlament – trifft dabei mit dem neuen zentralen Feindbild „hybride Bedrohung“ und der inneren Mobilmachung für einen EU/NATO-Krieg mit Russland zusammen.

Die vergangenen Jahre haben einen klaren parteipolitischen Rechtsruck im Wahlverhalten in den Staaten der Europäischen Union gezeigt. In Italien, Finnland, der Slowakei, Ungarn, Kroatien und Tschechien stellen sie die Regierung oder sind Teil einer Koalition, in Schweden tolerieren sie die Regierungskoalition (Schwedendemokraten). In sieben weiteren Mitgliedsstaaten – Deutschland, Frankreich, Estland, Lettland, Belgien, Österreich und Polen – sind Parteien vom rechten Rand stärkste oder zweitstärkste politische Kraft. In Österreich wäre die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) nach den Wahlen im vergangenen Jahr fast wieder Regierungspartner geworden, in Polen hat die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) lange mitregiert und stellt nun zumindest wieder den mit weitreichenden Vetorechten ausgestatteten Präsidenten, in den Niederlanden hat die Partij voor de Vrijheid (PvV) die Koalition im Mai dieses Jahres verlassen.

Somit ist fast in der Hälfte der Mitgliedstaaten eine Regierung unter Einschluss rechtsautoritärer Kräfte entweder bereits Realität oder jedenfalls für die Zukunft nicht ausgeschlossen. Fast besorgniserregender als das Erstarken rechtsautoritärer Kräfte ist der Rechtsruck der konservativen Parteien und jedenfalls vereinzelt die Übernahme offen flüchtlingsfeindlicher Positionen durch die Sozialdemokratie.

Das erste Vorbild für Rechtsaußen-Parteien an der Macht ist selbstverständlich Ungarn. Die derzeitige Amtszeit von Premier Victor Orbán begann 2010 mit massiven Eingriffen in die Verfassungsgerichtsbarkeit, dann begann die Zentralisierung der Medien bei regierungstreuen Oligarchen, mittlerweile regiert Orbán seit 2022 durchgehend mit Notstands­dekreten. Ebenfalls mit massiven, rechtswidrigen Eingriffen in die Justiz ging die polnische PiS-Regierung ihre Regierungszeit 2015-2023 an. Beide Länder eint mit der Regierung Italiens ein massives Vorgehen gegen LGBTIQ* und Eingriffe in die reproduktive Selbstbestimmung, sei es die faktische Abschaffung legaler Abtreibungsmöglichkeiten wie in Polen oder einer Leihmutterschaft für gleichgeschlechtliche Paare in Italien.[1]

Auch im EU-Parlament (EP) hat die extreme Rechte bei den letzten Wahlen im Mai 2024 ihre Position stärken können. Damit wurden die Trends auf nationaler Ebene bestätigt und die Verharmlosung der Wahl rechter Parteien bei EP-Wahlen als fast belanglose „Protestwahl“ endgültig widerlegt.[2] Bei aller internen Zersplitterung stellen nun drei rechtsautoritäre und rechtskonservative Fraktionen insgesamt gut 20 Prozent der Parlamentarier*innen. Geeint werden sie vor allem durch die Betonung des Nationalen und einer monokulturell oder ethnisch verstandenen Nation, extrem konservative Familienkonzepte, die Ablehnung von völkerrechtlichen Normen in der Migrationskontrolle sowie scharfe Kritik an klima- und umweltpolitischer Regulierung. Versuche, regulierend gegen rassistische und autoritäre Agitation in sozialen Medien vorzugehen, werden als „Meinungsdiktatur“ und Steuerung durch anti-nationale, „globalistische“ „Eliten“ angegriffen.

Daneben existieren jedoch auch grundlegende Konflikte, die eine dauerhafte Zusammenarbeit im EP verhindern und zur Aufspaltung der ex­tremen Rechten in drei Fraktionen geführt haben: Mit 84 Sitzen drittstärkste Fraktion im EP ist die aus der „Fraktion Identität und Demokratie“ (ID) hervorgegangene Fraktion „Patrioten für Europa“ (PfE), in der das Rassemblement National (RN) aus Frankreich tonangebend ist. Hier sind außerdem die österreichische FPÖ, die niederländische PvV, die portugiesische Chega, die ungarische Fidesz und die spanische Vox organisiert. Die fortbestehende Fraktion „Europäische Konservative und Reformer“ (EKR) um die Fratelli d‘Italia und die polnische Partei PiS ist mit 78 Sitzen viertstärkste Fraktion des EP. Die AfD (ehemals ID) gründete nach der Wahl mit einigen Kleinparteien eine neue Fraktion „Europa der Souveränen Nationen“, die mit gerade einmal 25 Sitzen keine wesentliche Rolle im Parlament spielt.[3]

Die drei Fraktionen unterscheiden sich im Wesentlichen anhand ihres Verhältnisses zum transatlantischen Bündnis, zu Russland[4] bzw. China und zur europäischen Integration. Dass eine offen Rechtsradikale wie Georgia Meloni aufgrund ihrer klaren US-Orientierung, ihrer sehr deutlichen Parteinahme für die Ukraine und ihres eher integrationsfreundlichen Kurses in EU-Fragen als „gemäßigt“ gilt, mutet geradezu absurd an. Auch die EKR ist mittlerweile von ihrem Anti-EU-Kurs abgekommen, orientiert aber weiterhin stärker auf eine Bündnispolitik mit autoritären Regimen wie Russland und China.

Schwächung der „liberalen Mitte“

Das Erstarken der extremen Rechten wirkt in zweierlei Hinsicht auf die Debatten im Europäischen Parlament. Zum einen ist EU-weit, wie auch in Deutschland, tagtäglich zu beobachten, dass die Parteien der „Mitte“ in ihren asyl- und migrationspolitischen Positionen immer weiter nach rechts rücken – der claim „Ordnung und Humanität“ wird von allen Parteien der Mitte bis in die Grünen hinein mitgetragen, und selbst jene scheuen nicht mehr vor der rechten Kampfvokabel vom „importierten Antisemitismus“ zurück. Zum anderen wirken die politischen Verschiebungen stark auf Rolle und Handlungsfähigkeit des Europäischen Parlaments. Es gehört zum Kern rechtskonservativer und -autoritärer Bestrebungen, die EU-Institutionen zu schwächen, die EU auf einen bloßen Staatenbund zurückzustutzen und zugleich innerhalb ihrer politischen Agenda europäische Regulierung zurückzunehmen: angefangen von rechtsstaatlichen Harmonisierungen insbesondere in der Asyl- und Migrationspolitik über die Rudimente sozialstaatlicher Regulierung (Mindestlohnrichtlinie, Zugang zu Sozialleistungen) bis hin zur Klima- und Umweltschutzregulierung (Green New Deal, Verbrenner-Aus usw.). Besonders im Fokus rechter Politik im EP wie auf nationaler Ebene steht jede Form von Gleichstellungspolitik und Überwindung von Geschlechterdiskriminierung, verbunden mit einer Rhetorik, die reale ökonomische Krisen in Krisen von Nation und Männlichkeit umdeutet.[5]

Nun könnte man meinen, dass der Block der autoritären Rechten mit 187 von 720 Mandaten keinen großen inhaltlichen Einfluss im EP entfalten können sollte. Allerdings fehlt im EP der disziplinierende Druck auf die eine Regierung tragenden Fraktionen, geschlossen zu handeln; die Abgeordneten sind freier als in den nationalen Parlamenten. Sie stehen weit weniger unter Beobachtung ihrer jeweiligen Parteibasis und der jeweiligen Öffentlichkeit. Dies bedeutet eine gewisse Unberechenbarkeit in Abstimmungen, die in der Vergangenheit dazu geführt hat, dass die Berichterstatter*innen in den Ausschüssen versucht haben, möglichst viele Fraktionen in eine gemeinsame Mehrheitsfindung einzubinden. Der Block aus Europäischer Volkspartei (EVP, konservativ), Progressive Allianz der Sozialdemokraten (S&D), Renew Europe (Liberale) und Grünen hat zwar mit 454 Sitzen immer noch eine deutliche, aber eben fragile Mehrheit. In einer komfortablen strategischen Position befindet sich dabei die EVP, die nicht nur rechnerisch Mehrheiten mit den drei rechtsautoritären Fraktionen bilden kann, sondern dies auch schon getan hat.[6]

Dies könnte die Position des EP gerade in bürgerrechtlichen Fragen schwächen, bei denen es durch seine breiten Mehrheiten aus der politischen Mitte bislang ein wichtiges Gegengewicht gegen Kommission und EU-Rat bildete. Die Stärke der autoritären Rechten und die strategische Orientierung der Konservativen (und eines Teils der Liberalen) weg von einer Konsensfindung mit den Parteien der „Mitte“ hin zur Durchsetzung ihrer Positionen notfalls mit rechten Kräften allein schwächt schon die ehedem liberale und grundrechtsfreundliche Rolle des EP in der EU-Gesetzgebung insgesamt; brüchige Kompromisse der Mitte-Fraktionen in bürgerrechtlichen Fragen werden gegenüber dem in Gesetzgebungsverfahren ohnehin dominierenden EU-Rat noch schwieriger durchsetzbar sein. Dies gilt erst recht mit Blick auf seine immer rechtslastigere politische Zusammensetzung. In der EU-Kommission wiederum wechselte das Amt der Kommissarin für Inneres von der Sozialdemokratin Ylva Johansson zu Magnus Brunner von der EVP – der schon sein großes Verständnis für die neue deutsche Härte an den Grenzen hat erkennen lassen. Wenn Grenzkontrollen vermieden werden sollten, müsse die Kommission ihre Hausaufgaben machen[7] – sprich: mehr Maßnahmen zur Abschottung der Außengrenzen ergreifen.

EU-Innenpolitik findet dabei in einem dauernden Spannungsfeld statt. Zwar wurde sie 2007 formal aus dem Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit in die Gemeinschaftspolitik überführt. Zugleich bleibt die öffentliche Sicherheit weiterhin zentrales Feld nationalstaatlicher Souveränität. Europol ist von einem „europäischen FBI“ noch weit entfernt, Frontex operiert an den Außengrenzen unter der Hoheit der Einsatzstaaten, Appelle der EU-Kommission an die Nutzung der Instrumente zum Informationsaustausch klingen beizeiten nahezu verzweifelt. Neben rechtlicher Regulierung und operativer Tätigkeit von EU-Institutionen ist jedoch die Wirkung der politischen Kommunikation der Kommission nicht zu unterschätzen. Sie setzt Themen auch in den nationalen Debatten und schafft gemeinsame Erzählungen über Bedrohungen der Sicherheit. Dafür sind gerade die Programme der EU-Kommission zur Weiterentwicklung der EU-Innenpolitik (zum Aufbau einer einheitlichen EU-Verteidigungs- und Rüstungspolitik siehe Eick in diesem Heft) ein Paradebeispiel.

Neues Programm der Inneren Sicherheit: „ProtectEU“

Nach ihrer Bestätigung durch das Europäische Parlament hat die neue Kommission eine Reihe von Arbeitsprogrammen vorlegt, auch in der Innenpolitik. Ihre erneuerte „Strategie der Inneren Sicherheit“ hat die Kommission „ProtectEU“ genannt.[8] Damit werden die zuvor vom Rat der Innen- und Justizminister*innen beschlossenen „Strategischen Leitlinien für die gesetzgeberische und operative Programmplanung im Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts“[9] in konkretere politische Vorhaben übersetzt.

Seit der jedenfalls teilweisen Vergemeinschaftung der EU-Innenpolitik, also der Überführung aus der intergouvernementalen Zusammenarbeit in den EU-Rechtsrahmen und der Schaffung von EU-Agenturen für zentrale operative Felder (Grenzschutz, Asyl, Betrieb von Datenbanken, Zusammenarbeit von Polizei und Strafverfolgungsbehörden, IT-Sicherheit, Katastrophenhilfe), zeichnen sich die alle fünf Jahre vorgelegten Leitlinien und Strategien durch wechselnde Feindbildbestimmungen aus. War das in den 90er Jahren zunächst die „Organisierte Kriminalität“, so stand in den Nuller und 10er Jahren der internationale Terrorismus im Mittelpunkt. Mit der „EU-Strategie für die Sicherheitsunion“[10] wurde 2020 der Fokus neben der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der „irregulären“ Migration verstärkt auf die Vertiefung und Strukturierung der Zusammenarbeit als solcher gelegt. Die Tätigkeit im Bereich „Cyber-Sicherheit“ wurde deutlich ausgedehnt, hinsichtlich der Resilienz von „Kritischen“ Infrastrukturen gab es erste Maßnahmen, auch der Schutz vor „hybriden Bedrohungen“ tauchte erstmals auf. Bestimmend für einen großen Teil der legislativen Tätigkeit war das Thema „Ein starkes Sicherheits-Ökosystem“, hier sollte das schon 2015 mit dem Haager Programm der Inneren Sicherheit angestoßene Projekt der „Interoperabilität“ der Datenbanken mit Polizei- und Grenzschutzbezug endlich vollendet werden (hierzu Töpfer in diesem Heft). Geprägt waren die EU-Strategien der „Inneren Sicherheit“ durch eine Verschränkung von „Sicherheit“, „Migration“ und „Terrorismus“.[11] Hier wurde eine autoritäre Dynamik entwickelt, die immer weitergehende Eingriffe in Grundrechte von EU-Bürger*innen und Migrant*innen vorsieht. Überhaupt zeigt der Blick zurück in die Würdigung der EU-Innenpolitik durch CILIP,[12] dass „illegale“ oder „irreguläre“ Migration als abzuwehrende Bedrohung zentraler und kontinuierlicher Bestandteil der „europäischen Integration“ im Feld der Innenpolitik war und ist, die beliebig mit anderen Bedrohungen kombiniert wird.

Schon mit dem Schengener Übereinkommen bzw. dem Schengener Durchführungsübereinkommen 1995 ging die Erweiterung der Bewegungsfreiheit für die EU-Bürgerinnen (jedenfalls der „weißen“) mit dem Ausschluss aller anderen sowohl vom Betreten der „Festung Europa“ wie auch von der kontrollfreien Bewegung im Inneren einher. Mit aktuellen, parallel zur Vorlage der Sicherheitsstrategie vorgelegten Vorhaben u. a. zur deutlichen Ausweitung des Konzepts „sicherer Herkunftsstaaten“ und „sicherer Drittstaaten“ ist aber nun der Pfad früherer EU-Kommissionen, das Flüchtlingsrecht innerhalb der EU auf einem hohen Standard zu harmonisieren, aber zugleich den Zugang in die EU und damit die tatsächliche Wahrnehmung dieses Rechts durch Maßnahmen gegen „irreguläre“ Migration zu beschränken, zulasten Asylsuchender und ihrer Rechte verlassen worden. Vorschläge zum Vorziehen einer bereits beschlossenen Änderung der Asylverfahrensverordnung[13] und Verordnungsvorschläge zur Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten[14] bzw. sicherer Drittstaaten[15] sollen es den Mitgliedstaaten erleichtern, beschleunigte Asylverfahren unmittelbar an der Grenze durchzuführen und die Verfahrensrechte von schutzsuchenden Menschen noch weiter einzuschränken. Selbst möglicherweise schutzbedürftige Menschen sollen formal gar nicht erst einreisen können.

Sicherheit als „mainstream“-Aufgabe

Mit der aktuellen Strategie rückt ein weiterer Topos in den Fokus: „Russland“ als Hauptfeind nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren Sicherheit. „Hybride Bedrohungen“, hier verstanden als das verdeckte Agieren staatlicher/staatlich beauftragter Akteure mit dem Ziel der politischen Destabilisierung in der EU, stehen nun in der Rangliste noch vor dem in­­ter­nationalen Terrorismus und der „Organisierten Kriminalität“. Die Grenze zwischen „hybriden Bedrohungen“ und dem Krieg sei verwischt, Russland gehe es darum, gesellschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Prozesse zu zerstören und zu unterminieren, dafür greife es auf kriminelle Dienstleister und „proxies“ (Stellvertreter) zurück. Gemeinsam mit den ohnehin bestehenden Bedrohungen durch den technologischen Fortschritt im digitalen Raum durch Cyber-Attacken, Online-Desinformationskampagnen und Radikalisierung in sozialen Netzwerken entstünden Risiken, denen die EU-Kommission mit der Mobilisierung aller Ressourcen begegnen will. Dazu gehört auch eine vertiefte Zusammenarbeit mit der NATO, die in der „EU-Strategie für eine Sicherheitsunion“ bereits unter der Überschrift „hybride Bedrohungen“ als Maßnahme genannt wurde.[16]

Dafür müsse die EU-Politik sich an drei Prinzipien ausrichten: Erstens müsse es einen Kulturwandel geben, es brauche einen gesamtgesellschaftlichen Zugang zum Thema Sicherheit, der alle Bürger*innen und institutionelle Interessenträger („Stakeholder“) umfassen müsse. Zweitens müss­ten Sicherheitsüberlegungen in sämtliche gesetzgeberischen wie operativen EU-Maßnahmen integriert und eingebunden werden („Main­streaming“). Drittens müssten ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen zur Gewährleistung und Verbesserung der Sicherheit zur Verfügung gestellt werden. Öffentliche Sicherheitsausgaben müssten erhöht, Sicherheitsforschung und -investitionen auch Privater gefördert und die „strategische Autonomie“ gesteigert werden. Letzteres meint üblicherweise den Aufbau von technologischen Fähigkeiten in der EU, bei denen sie bislang von den USA oder China abhängig ist. Namentlich erwähnt wird der Aufbau eigener Systeme der Kritischen Kommunikation, da es gegenwärtig innerhalb der EU keine Alternative zu Starlink als satellitengestütztem System gibt, und für die Mobilfunknetze nur Komponenten US-amerikanischer und chinesischer Anbieter zur Verfügung stehen.[17]

Europol soll „massiv aufgewertet“ und 2026 zu einer „operativen Polizeibehörde“ werden (zu aktuellen Entwicklungen rund um Europol siehe den Beitrag von Chloé Berthélémy in diesem Heft). Eurojust soll ebenfalls gestärkt, der Informationsaustausch im Bereich der Strafverfolgung – mit Fokus auf die Geldwäschebekämpfung – ausgebaut und der Zugang von Strafverfolgungsbehörden zu (kryptierten) Kommunikationsdaten einschließlich der weiterhin umstrittenen Vorratsdatenspeicherung unionsrechtlich abgesichert werden (zu weiteren Details siehe den Beitrag von Tom Jennissen und Konstantin Macher in diesem Heft). In der Strategie ist außerdem der massive Ausbau der Frontex-Grenzschutztruppe von 10.000 auf 30.000 Beamt*innen vorgesehen. In sämtlichen Sicherheitsbereichen soll die Zusammenarbeit mit Drittstaaten weiter ausgebaut und dabei wie gehabt der Fokus auf den Datenaustausch gerichtet werden, wobei ein besonderes Augenmerk den Häfen entlang der Handelsrouten von illegalisierten Drogen außerhalb und innerhalb der EU gilt – mit der „Hafenallianz“ als Projekt einer „öffentlich-privaten Partnerschaft“ im Sicherheitsbereich.[18]

Allgegenwart „hybrider Bedrohungen“

Sämtliche Politikfelder der Inneren Sicherheit werden dabei mit dem Begriff der „hybriden Bedrohung“ verbunden: Organisierte Kriminalität, Terrorismus, Migration, Desinformation können demnach immer zugleich von einem verschleierten Feind gesteuert sein. In der Öffentlichkeit ist der Begriff „hybride Bedrohung“ zur Chiffre für Sabotageakte geworden, die in erster Linie Russland, seltener China, zugeschrieben werden. Die Bundesregierung versteht unter einem „‘hybriden Angriff‘ das gegnerische Agieren anderer Staaten unterhalb der Schwelle eines direkten Angriffs. Die jeweiligen Angriffsformen stellen die Instrumente hybrider Bedrohungen dar und können verschleiert erfolgen … Hybride Bedrohungen können daher vielfältige Formen, wie Sabotageakte, gezielte Desinformation, Cyberangriffe, Anschläge und Attentate, aber auch den Einsatz konventioneller militärischer Mittel annehmen.“[19]

An anderer Stelle nennt die Bundesregierung auch die „Stärkung anti-westlicher und anti-demokratischer Narrative, die gezielte und manipulative Verunglimpfung von Politikerinnen und Politikern“; in EU und NATO firmieren diese Techniken unter dem Fachbegriff Foreign Information and Interference (Ausländische Informationen und Einmischung, kurz FIMI). Selbst „wirtschaftliche Einflussnahme, zum Beispiel durch gezielte Investition in Schlüsselindustrien“, wird zu den „hybriden Bedrohungen“ gezählt.[20]

Seinen Ursprung hat der Begriff in der US-amerikanischen Debatte unter Militärstrateg*innen, die zunächst um ein Verstehen des zweiten Libanonkriegs 2006 bemüht waren. Die militärisch überlegenen Israeli Defence Forces hatten ihre Kriegsziele nicht erreicht – die Hisbollah war nicht geschwächt, ihre Arsenale nur vorübergehend dezimiert, sie erfreute sich weiter breiter Unterstützung im Libanon, und international stand Israel unter Druck. Zunächst wurde „hybrider Krieg“ noch eng bezogen auf einen umfassenden Einsatz von Gewaltmitteln – militärisch, terroristisch, kriminell – durch eine Konfliktpartei, egal von welcher Seite der geostrategischen Lager.[21] Im Laufe der weiteren Debatte wurde der Begriff des „hybriden Kriegs“ dann vermehrt dem geostrategischen Gegner zugeschrieben, während die eigene Kombination von zivilen, propagandistischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln unter dem Begriff des „comprehensive approach“ (ganzheitlicher Ansatz) gebracht wurde.[22]

Der damalige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg griff diese Debatte in einer viel beachteten Rede zur Reaktion auf die Krim-Besetzung durch Russland im Jahr 2014 auf. Der „hybride Krieg“ sei „die dunkle Wiederspiegelung unseres eigenen ‚ganzheitlichen Ansatzes‘. Wir versuchen, Länder zu stabilisieren, diejenigen, die hybride Kriegsführung benutzen, versuchen sie zu destabilisieren.“[23] Serbien, Libyen und der Irak können ein Lied von solchen Stabilisierungsversuchen durch die NATO und ihre Mitgliedstaaten singen.

Besondere Bedeutung maß Stoltenberg dabei der EU bei: beide wollten sich vorbereiten, verhindern und verteidigen (prepare, deter, defend). Beide hätten unterschiedliche zivile und militärische Mittel, die sich gegenseitig ergänzen könnten. Dazu gehörten Krisenfrüherkennung, Resilienz (Widerstandsfähigkeit und Wiederherstellbarkeit von verteidigungs- oder lebenswichtigen Infrastrukturen), der Desinformations-Zwilling „strategische Kommunikation“, gemeinsame Übungen und Manöver sowie Aufrüstung.

„ProtectEU“ trägt diese Handschrift überdeutlich, gerade der Zivil- und Katastrophenschutz wird auf Kriegstauglichkeit orientiert. In der Verteidigung der Lieferketten (also dem weltweiten Zugriff auf Bodenschätze, Produktionsstandorte, Arbeitskräfte, Logistikzentren) schließen „innere“ und „äußere“ Sicherheit zusammen, propagandistisch abgesichert als Verteidigung der „wertebasierten Ordnung“.

Kontinuität: Der Feind an der Grenze

In der Bekämpfung „instrumentalisierter Migration“ entfalten sich die derzeit prägenden Momente europäischer Innenpolitik. Bekämpfung „irregulärer“ Migration als zentraler Triebfeder der gemeinsamen EU-Innenpolitik; rechtsautoritäre, flüchtlingsfeindliche Tendenzen in allen EU-Staaten, die durch die ressentimentgeladene Polarisierung der Debatte um den Umgang mit Schutzsuchenden bis weit in die politische Mitte handlungsleitend werden; relativ neu nun der Topos der „hybriden Bedrohungen“. So heißt es in der EU-Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl, es könne eine „Instrumentalisierungssituation“ dann entstehen, wenn ein Drittstaat oder ein „feindseliger nichtstaatlicher Akteur“ die Ankunft von Drittstaatsangehörigen fördert oder erleichtert. Dies an sich solle auf eine Absicht hindeuten, den Mitgliedsstaat oder die EU als Ganze zu destabilisieren, wenn durch diese Handlungen u. a. die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder der Schutz der nationalen Sicherheit gefährdet sein könnten.[24]

Das Beispiel Polen (siehe den Beitrag von Stefan Zgliczński in diesem Heft), aber auch die behauptete „Überlastungssituation“ in Deutschland und Österreich und die darauf fußende Wiedereinführung von Grenzkontrollen und der Zurückweisung Schutzsuchender zeigen, dass mit der „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ ein sehr weiter Spielraum eröffnet ist, dessen Inanspruchnahme politischer Rationalität und nicht objektiven Maßstäben folgt. So zeigt die innenpolitische Debatte in Deutschland in den vergangenen Jahren, dass schon wenige, öffentlichkeitswirksame Gewalttaten von asylsuchenden Männern als ausreichend angesehen werden können, die Innere Sicherheit insgesamt in Gefahr zu sehen und ein restriktives Grenz- und Abweisungsregime zu fordern.[25] In ihrer Mitteilung „über die Abwehr hybrider Bedrohungen infolge des Einsatzes von Migration als Waffe und die Stärkung der Sicherheit an den EU-Außengrenzen“[26] behauptet die Kommission, es sei „offensichtlich“, dass die EU an ihren Außengrenzen zu Russland und Belarus „einem hy­-briden Angriff feindseliger Staaten ausgesetzt“ sei, der „Migration als Waffe [einsetzt], um die Sicherheit der Union zu untergraben“. Dies müsse auch mit Blick auf die unter ganz anderen Bedingungen geschlossenen völkerrechtlichen „Instrumente“ – gemeint ist hier u. a. die Genfer Flüchtlingskonvention – „berücksichtigt“ werden.

Zur Verteidigung der Sicherheit müssten unter Umständen auch Maßnahmen ergriffen werden, die „schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte wie das Recht auf Asyl … nach sich ziehen könnten.“[27] In einer von Krieg und Krisen zerrütteten Welt sollen die letzten Garantien für individuelle Rettung geschleift werden, gerade als ob die Einführung dieser „Instrumente“ nicht genau eine Lehre aus der letzten großen Menschheitskatastrophe gewesen wäre.

Dass zugleich in den letzten Jahren ein rechts- und demokratiepolitischer Diskurs in den USA und der EU Verbreitung findet, der in der gerichtlichen Beschränkung staatlicher Befugnisse eine Verletzung der demokratischen (nationalen) Souveränität unterstellt und letztlich zur „Befreiung“ der Politik von der Programmierung durch Recht und Rechtsprechung aufruft, passt da ins Bild.[28]

Die autoritäre Wende in der Spätphase des Neoliberalismus, bereits vor Jahren sichtbar in den Justizreformen in Polen und Ungarn sowie unlängst in Italien und Griechenland (siehe dazu die Beiträge von Vitale und Ladis in diesem Heft), kommt so auch im „alten“ Europa an. Die Weigerung von Bundesinnenminister Dobrindt (CSU), nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin zur Einreise dreier somalischer Asylsuchender, trotz der vom Gericht geäußerten grundsätzlichen rechtlichen Bedenken, Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Landgrenzen zu stoppen, zeigt diese autoritäre Wende auch hierzulande.

Anmerkungen:

[1]     Was haben rechte Regierungen in Europa umgesetzt?, derstandard.at v. 23.1.2025.

[2]     Rechtsextrem in Europa, monde-diplomatique.de v. 13.6.2024.

[3]     Die Radikale Rechte im europäischen Vergleich. Kernelemente und Unterschiede, www.bpb.de v. 14.10.2024.

[4]     Vgl. de Jonge, L.: Rechtsaußen in Europa, www.forum.lu v. 8.5.2024.

[5]     Sauer, B.: Rechtsruck nach den Parlamentswahlen – Was zu befürchten ist, in: vorgänge, 247/248 (3-4/2024), S. 217-226.

[6]     Tömmel, I.: Nach den Wahlen zum Europaparlament, in: vorgänge 247/248 (3-4/2024), S. 207-216.

[7]     Kritik an deutschen Grenzkontrollen beim EU-Innenministertreffen, stern.de v. 13.6.2025.

[8]     COM(2025) 148 v. 1.4.2025.

[9]     Ratsdok. 16343/2024 v. 28.11.2024.

[10]    COM(2020) 605 final v. 24.7.2020.

[11]    Jones, C.; Maccanio, Y.: Die Europäische Union und ihre Krisen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 128 (März 2022), S. 3-13.

[12]    Vgl. u. a. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 128 (März 2022): EU – Sicherheitsstaat neuer Prägung?, Bürgerrechte  Polizei/CILIP 109 (Januar 2016): Europas Staatsgewalten gegen Migration, Bürgerrechte & Polizei/CILIP 91 (3/2008): Sicherheitsarchitektur II – Europäische Großbaustelle, Bürgerrechte & Polizei/CILIP 84 (2/2006): Grenzenlose Sicherheit: Das Europa der Polizeien.

[13]    ABl. EU L 2024/1348 v. 22.5.2024.

[14]    COM(2025) 186 final 16.4.2025.

[15]    COM(2025) 259 final v. 20.5.2025.

[16]    COM(2020) 605 final v. 24.7.2020, S. 19.

[17]    COM(2025) 148 final v. 1.4.2025, S. 8.

[18]    Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über den EU-Fahrplan zur Bekämpfung des Drogenhandels und der organisierten Kriminalität, COM(2023) 641 final v. 18.10.2023, S. 13; zur Hafenallianz: Kampf gegen den Drogenhandel: EU-Kommission bringt Hafen-Allianz auf den Weg, Pressemitteilung der Kommission v. 25.1.2024.

[19]    BT-Drs. 20/14595 v. 21.1.2025, S. 2.

[20]    BT-Drs. 20/11895 v, 17.6.2024, S. 6.

[21]    Hoffman, F. G.: Conflict in the 21st Century. The Rise of Hybrid Wars, Arlington, Virginia 2007; zentral ist der Begriff der „Konvergenz“ der eingesetzten Mittel, vgl. ders.: Hybrid Warfare and Challenges, in: Joint Force Quarterly 2009, H. 1, S. 34-39.

[22]    Glenn, R. W.: Thoughts on „Hybrid“ Conflict, in: Small Wars Journal 2009, https://smallwarsjournal.com/wp-content/uploads/2022/02/188-glenn.pdf.

[23]    Grußwort bei der Eröffnung der Jahreskonferenz der Europäischen Verteidigungsagentur am 16.11.2015, www.nato.int.

[24]    ABl. EU L 2024/1359 v. 22.5.2024, EG 14.

[25]    exemplarisch BT-Drs. 20/12835 v. 11.9.2024.

[26]    COM(2024) 570 final v. 11.12.2024.

[27]    Ebd., S. 7.

[28]    Zur Kritik vgl. Rehm, P.: Die undemokratische Rede von der Volkssouveränität, verfassungsblog.de v. 6.3.2025.

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien auf https://www.cilip.de bzw. der Zeitschrift 138 (August 2025) (Un-)Sicherheit und Rechtsruck in Europa und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt. 
Bildbearbeitung: L.N.