„Flüchtlingskrise“ und autoritäre Integration – zu einigen Aspekten der Reorganisation staatlicher Kontrollpolitiken

Von Gruppe Blauer Montag 

Der folgende Text ist der Zwischenstand einer Diskussion, die wir seit Ende 2015 unter uns und mit einigen Freundinnen und Freunden geführt haben. Ausgangspunkt war zum einen der Versuch, die Tag für Tag erfahrbare Widersprüchlichkeit staatlichen Handelns in der sogenannten Flüchtlingskrise auf den Begriff zu bringen. Zum anderen leitete uns ein Unbehagen angesichts einer Willkommensszenerie, die einerseits mit bewundernswertem Engagement praktische Unterstützung organisierte, sich andererseits aber – teilweise sehr bewusst – politisch abstinent verhielt. Zu diesem Unbehagen gehört, dass in unserer Wahrnehmung auch die politische Linke – uns eingeschlossen – einigermaßen sprachlos blieb, zumindest aber den politischen Herausforderungen nicht im Ansatz gewachsen zu sein schien.

Wir haben die Diskussion stark aus einer Hamburger Perspektive geführt, nicht zuletzt, weil hier die Auseinandersetzung mit Not-in-my-backyard-Initiativen, die vorrangig gegen die Einrichtung von Unterkünften gerichtet waren, große stadtpolitische Bedeutung hatte. Eine weitere Einschränkung des Papiers besteht darin, dass die Perspektiven der Geflüchteten weitgehend außerhalb der Betrachtung bleiben. Das hat damit zu tun, dass sich widerständige Bewegungs- und Organisierungsversuche tendenziell eher untergründig, in sich widersprüchlich und vielfach sehr partiell und isoliert abspielen, was durch das oft schnell vergebene Etikett der „Autonomie der Migration“ mehr überdeckt denn erklärt wird. Dies systematisch in den Blick zu nehmen, würde eine politische Untersuchungsarbeit und Interventionspraxis notwendig machen, die uns überfordert.

1. Der (kurze) Sommer der Migration

Die Fluchtbewegungen von 2014 und 2015, insbesondere der „Sommer der Migration“ 2015, haben das europäische Grenzregime zusammenbrechen lassen. Insofern sind, wenn von „Flüchtlingskrise“ gesprochen wird, nicht die krisenhaften Lebens- und Fluchtgeschichten der Flüchtlinge gemeint. Eher beschreibt dieser Begriff die Selbstwahrnehmung von Politik und Verwaltungen in der EU und in Deutschland. Aus dieser Perspektive sind die letzten beiden Jahren tatsächlich als Krise der europäischen Institutionen und der Verwaltungen interpretiert worden. Diese Krise hat drei Dimensionen.

a) Das Ende des Dublin-Systems

„Dublin“ als Versuch einer abgestimmten europäischen Asylpolitik ist vor allem ein deutsches Projekt gewesen. Nachdem mit dem Asylkompromiss von 1993 das grundgesetzlich garantierte Individualrecht auf (politisches) Asyl massiv eingeschränkt und gleichzeitig der Begriff der „sicheren Herkunftsstaaten“ im Asylverfahrensrecht etabliert wurde, zielten die verschiedenen Dublin-Verordnungen seit Mitte der 1990er Jahre auf zweierlei: Zum einen ging es um die Sicherung staatlicher Kontrolle der Fluchtbewegungen, und zum anderen sollte diese Kontrolle an die europäischen Außengrenzen verlagert werden.

Beides ist mit den Fluchtbewegungen der letzten zwei Jahre gescheitert. Dabei waren die inhärenten Konstruktionsfehler des Dublin-Systems bereits sehr früh offensichtlich. Spätestens im EuGH-Urteil zu Griechenland wurden sie auch höchstrichterlich bestätigt:1

Jenseits der Proklamation eines Asylrechts in der EU-Grundrechtecharta hat es nie ein vereinheitlichtes europäisches Asyl- und Asylverfahrensrecht gegeben, genauso wenig wie ein vereinheitlichtes Sozialrecht für Flüchtlinge innerhalb der EU.

b) Renationalisierung und die Krise des europäischen Projekts

Auch die prompte und zunehmende Renationalisierung in Europa wird von Staat und Politik in Deutschland /„Kerneuropa“ als Krise und Gefährdung der EU interpretiert. Der freie Schengen-Raum, die offenen Binnengrenzen, der ungehinderte Waren- und Personenverkehr innerhalb Europas waren und sind für das zentrale Vorhaben des „Projekts Europa“, den erweiterten europäischen Binnenmarkt, von enormer ideologischer und materieller Bedeutung. Rigorose Grenzkontrollen innerhalb der EU wären da ein erhebliches Hindernis. Entsprechend wird auch der europaweit organisierte Rechtspopulismus durchaus als Problem wahrgenommen. Das gilt im Kern auch für den Rechtspopulismus in Deutschland, der sich mittlerweile organisatorisch verselbständigt hat und die Hegemonie der CDU / CSU im bürgerlichen Parteienspektrum gefährdet. Dabei sind die aktuellen Fluchtbewegungen keineswegs die Ursache für Nationalismus, Rassismus und Rechtspopulismus. Bereits in den letzten zehn Jahren sind Rechtspopulismus und Nationalismus in nahezu allen europäischen Staaten zu einem bedeutenden politischen Faktor, teilweise sogar auf Regierungsebene, geworden.

c) Verwaltungsversagen

Aber auch in ihrem administrativen Kerngeschäft, dem „ordentlichen Verwaltungshandeln“, haben die europäischen Staaten das Jahr 2015 als Krise erlebt. Gerade für deutsche Verwaltungen, von Bundes- und Landesbehörden bis zu den Kommunalverwaltungen, war der „Sommer der Migration“ geradezu traumatisch.

Folgende Beispiele mögen das illustrieren:

Insbesondere in den Großstädten München, Berlin und Hamburg konnten sich im letzten Jahr hunderte und gar tausende Flüchtlinge wochenlang aufhalten und bewegen, ohne dass es den staatlichen Stellen möglich gewesen wäre, sie zu erfassen und zu registrieren und damit ihre Bewegungen zu kontrollieren. Ein auch nur annähernd geordnetes Asylverfahren war somit genauso wenig möglich wie geordnete und zielgerichtete Abschiebungen.2

Zum zweiten waren in der gesamten Republik staatliche Stellen nicht in der Lage, die geflüchteten Menschen schnell und vernünftig unterzubringen. Die Mindeststandards in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung sind im letzten Jahr flächendeckend und systematisch unterlaufen und durch eine Vielzahl von substandardisierten Notsystemen (Baumärkte, Sporthallen, Zelte) ersetzt worden. Die Konsequenzen für die Betroffen waren (und sind teilweise immer noch) dramatisch: völlig überfüllte Lager, chronische Unterversorgung insbesondere vulnerabler Gruppen, etwa allein fliehender Frauen mit und ohne Kindern, traumatisierter, psychisch und körperlich beeinträchtigter Flüchtlinge, (allein reisender) Kinder und Jugendliche.3

In Hamburg haben sich im Oktober 2015 sämtliche Leitungspersonen des städtischen Unterbringungsträgers an die Öffentlichkeit gewandt und in eindringlichen Worten darauf hingewiesen, dass sie weder in der Lage sind, den staatlichen Versorgungsauftrag sicherzustellen, noch ihren eigenen fachlichen Ansprüchen gemäß zu arbeiten.4

Selbst wenn man bereit ist zuzugestehen, dass die Situation im letzten Jahr die allermeisten Verwaltungen unvorbereitet getroffen hat und sie somit mit objektiven Kapazitäts- und Personalengpässen umgehen mussten,5 so ist das unterm Strich vermutlich nur die halbe Wahrheit.

Zum einen sind in den letzten zwanzig, dreißig Jahren sehr bewusst politische Rahmenbedingungen gesetzt worden, die insbesondere im sozialpolitischen Bereich staatliches Handeln nur noch als Just-in-time-Reaktion zulassen. Unter dem ideologischen Label vom „Rückzug des Staates“ und unter der materiellen Keule der Haushaltskonsolidierung sind seit Jahren in allen Bereichen der Sozialpolitik Personal- und Sachressourcen zurückgefahren worden. Das gilt namentlich auch für den Abbau von Unterbringungskapazitäten seit Ende der 1990er Jahre.

Zum anderen ist es den verschiedenen zuständigen Ministerien und Behörden der Länder in keiner Weise gelungen, abgestimmt, koordiniert und strategisch zu agieren. Ministerien und Verwaltungen sind keine homogenen Instanzen. Neben der traditionell starken Versäulung bundesdeutscher Verwaltungen, die querschnittsorientiertes Denken und Handeln grundsätzlich erschwert, bestehen Konkurrenzen und Animositäten etwa zwischen Innen- und Sozialministerien, aber auch unter den unterschiedlichen Ämtern innerhalb ein- und derselben Behörde. Diese Kommunikations- und Planungsdefizite haben teilweise zu erheblichen Reibungsverlusten geführt.

2. Das Imperium schlägt zurück

Vor diesem Hintergrund einer Krise des europäischen Grenzregimes und der staatlichen Flüchtlingspolitik ist das aktuelle politische Agieren in Deutschland in erster Linie daran ausgerichtet, eigene Handlungsfähigkeit im Sinne von Kontrolle über die Flüchtlingsbewegungen zurückzugewinnen beziehungsweise eine solche Kontrolle und Handlungsfähigkeit zumindest nach außen zu demonstrieren und zu symbolisieren.

Vorrangiges Ziel ist es, die Flüchtlingsbewegungen nach Deutschland und in Deutschland nach Möglichkeit zu begrenzen. Dabei scheinen folgende Prämissen zu gelten:

a) Die EU soll nicht gefährdet werden,

b) eine Verfassungsänderung wie 1993 soll – zumindest noch – vermieden werden, und

c) das Primat der Haushaltskonsolidierung und der „schwarzen Null“ soll unter allen Umständen aufrechterhalten werden.

Die europa- und außenpolitische Dimension dieses Bemühens zielt darauf, die Kontrolle über die europäischen Außengrenzen und über die Flüchtlingsbewegung zurückzuerlangen. Nachdem der maßgeblich von Deutschland betriebene Versuch eines innereuropäischen Verteilungs- und Quotensystems am Widerstand Großbritanniens und der osteuropäischen Staaten gescheitert ist, konzentrieren sich Bundesregierung und EU-Kommission nun darauf, Flüchtlingsbewegungen außerhalb der EU einzudämmen und die Zuwanderung nach Europa zu begrenzen, ohne an den deutschen und innereuropäischen Grenzen selbst Zäune zu bauen. Der sogenannte EU-Türkei-Deal ist dafür das deutlichste Beispiel, aber Deutschland und die EU verhandeln auch mit den Regierungen in Eritrea und dem Sudan über Rücknahme-abkommen und die Sicherung der dortigen Grenzen. Darüber hinaus wird mit einzelnen Machtgruppen in Libyen über die Erlaubnis verhandelt, die libysche Küste militärisch zu kontrollieren, und mit den Regierungen in Ägypten und Marokko wird über den Auf- und Ausbau von Auffanglagern verhandelt. Und schließlich sollen neben der Türkei auch Marokko, Algerien und Tunesien den Status „sicherer Herkunftsstaaten“ erhalten. Immer stärker wird somit eine pauschal länderbezogene und die individuelle Fluchtgeschichte ignorierende Betrachtungsweise zum Kern flüchtlingspolitischer Regulationsmechanismen: „Sichere“ oder „nicht sichere“ Herkunftsstaaten, an die Herkunftsstaaten gebundene „sichere“ oder „unsichere“ Bleibeperspektive etc.

Unterhalb einer unmittelbaren Verfassungsänderung wird so das grundgesetzlich geschützte Institut des Asylrechts als Individualrecht bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt: Asylanträge werden genauso wenig „einer sorgfältigen Einzelfallprüfung“ unterzogen wie die Entscheidung über den aufenthaltsrechtlichen Status und die damit verbundenen sozialrechtlichen Folgen. Neben der Aushöhlung des Asylrechts fokussiert sich das staatliche Handeln innenpolitisch darauf, Flüchtlinge schneller und systematischer zu erfassen, zu sortieren und die Asylverfahren zu beschleunigen. Trotz der und parallel zur „Bewegung der Willkommenskultur“, also immerhin der größten zivilgesellschaftlichen Unterstützungsbewegung seit vielen Jahren, sind seit dem Sommer 2015 mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz, den Asylpaketen I und II sowie der geplanten Aufnahme von Marokko, Tunesien und Algerien in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten die rigidesten Asylrechtsverschärfungen seit 1993 geplant und implementiert worden – und zwar (im Unterschied zum Asylkompromiss 1993) weitgehend ohne politische Gegenwehr.6 Inwieweit diese Änderungen den deutschen und internationalen Rechtsnormen auch nur dem Anschein nach noch entsprechen, scheint den bestimmenden politischen Kräften gerade ziemlich gleichgültig zu sein.

Dennoch ist, jenseits aller strategischen Überlegungen in Berlin oder Brüssel, die Reorganisation des Migrationsregimes ein umkämpfter Prozess. Das ergibt sich zum einen mit Blick auf die Widersprüche und Interessengegensätze innerhalb der Apparate und der herrschenden Klassen. Zum anderen aber hängt sie davon ab, wie sich soziale Bewegungen entwickeln, an denen sich die herrschenden Pläne brechen könnten. Einmal abgesehen davon, dass ich Flüchtlingsbewegungen niemals völlig steuern und kanalisieren lassen, zeigen die aktuellen Entwicklungen in der Türkei, wie fragil Herrschaftsprojekte sein können. Der EU-Türkei-Deal als zentrales Element der Flüchtlingskontrolle und der Eindämmung der sogenannten Balkan-Route erscheint permanent gefährdet.

3. Integration in Zeiten der „Flüchtlingskrise“

Trotz aller Härte im Asylverfahrensrecht und trotz aller populistischen und martialischen Rhetorik: Staat und Politik wissen, dass sich eine erhebliche Zahl von Flüchtlingen dauerhaft in Deutschland aufhalten wird. Allein wenn man die momentane durchschnittliche Anerkennungsquote zugrunde legt, werden von den 2014 und 2015 nach Deutschland gekommenen Flüchtlingen zwischen vierzig und fünfzig Prozent dauerhaft hier bleiben.7 In der Konsequenz wird es ganz objektiv darum gehen, eine deutlich gewachsene Migrationsbevölkerung in den Arbeits- und Wohnungsmarkt zu integrieren, Kinder in Schulen und Kitas unterzubringen, Sprachkurse anzubieten, Verwaltungen und Regelsysteme interkulturell aufzustellen. All das also, was gemeinhin „Integration“ genannt wird. Dabei ist „Integration“ sowohl von seinem diskursiven wie seinem materiellen Gehalt her ein äußerst schillernder Begriff.

3.1 Repressive Integration

Spätestens seit der Silvesternacht 2015 erleben wir auf der Diskursebene zum einen eine starke Betonung von „Integration“, gleichzeitig aber einen extrem repressiven Backlash in der Aufladung die ses Begriffs. Während in den 1980er und 1990er Jahren „Integration“ und „Integrationspolitik“ die emanzipatorische Antwort auf die Staatsdoktrin von „Gästen“, „Leitkultur“, „Anpassung“, „Assimilation“ und „Toleranz“ war, so verschwindet in der jetzigen Debatte jede Idee von gleichen sozialen, kulturellen und letztlich politischen Rechten und Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben bei gleichzeitiger Achtung und Respektierung von Verschiedenheit. Statt auf Rechtsdurchsetzung, Migrant/-innenselbstorganisation und Antidiskriminierung beziehungsweise die Beseitigung der strukturellen Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, im Bildungssystem und allen Bereichen des alltäglichen Lebens orientiert „Integration“ im Moment auf die verbindliche Anerkennung einer imaginierten und gleichzeitig beschworenen „Wertegemeinschaft“, auf eine Integrationspflicht und auf unverhohlene Drohungen gegenüber „Integrationsverweigerern“.

Gleichzeitig wird ein – wie auch immer definiertes – „Integrationsversagen“ nicht als Versagen und Fehlfunktion der Systeme Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Schule etc. dargestellt, nicht als Ergebnis falsch konzipierter und zu schlecht ausgestatteter Maßnahmen und Unterstützungsangebote, sondern als individuelles, gerne auch als schuldhaftes, Versagen des/der Migrant/-in. Diese Parallelität zur ideologischen Offensive der Agenda 2010 ist weder zufällig noch gänzlich neu.8 Und wie die Agenda 2010 ihren sinnfälligsten materiellen Ausdruck im SGB II gefunden hat, so findet der autoritäre sozialstaatliche Backlash gegen Flüchtlinge und Migrant/-innen seinen materiellen Ausdruck im neuen Integrationsgesetz. Noch stärker als Erwerbslose im SGB II werden hier Flüchtlinge zu Feinden erklärt, denen man mit einer umfassenden Drohkulisse begegnen muss. Staatliche „Angebote“ wie Sprach- und Integrationskurse oder die neuen massenhaft konzipierten 80Cent-Jobs sind prinzipiell Pflichtveranstaltungen. Sie können verordnet werden, Nicht-Teilnahme oder Abbruch sind sanktionsbewehrt. Dabei stehen nicht nur drakonische (und verfassungswidrige) Kürzungen beim Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) als Sanktionsinstrumente zur Verfügung, „Integrationsverweigerung“ kann auch direkte aufenthaltsrechtliche Konsequenzen haben. Ähnlich wie das SGB II, allerdings verschärft um die aufenthaltsrechtliche Komponente, führt das Arsenal von Daumenschrauben und Drohkonstellationen, die das Integrationsgesetz bereit hält, zu einer grundsätzlichen Verunsicherung der materiellen Existenz und Reproduktionsbedingungen von Menschen.

Das Integrationsgesetz unterwirft die materielle Existenz von Flüchtlingen einer chronischen Prekarität. Und dennoch spricht einiges dafür, dass das Integrationsgesetz in erheblichem Maße einem kurzfristigen politischen Opportunismus entspringt. Das Gesetz ist ein Kotau vor dem Rechtspopulismus beziehungsweise der tatsächlichen oder vermeintlichen Stimmung „der Straße“.

Gerade im Zuge der Diskussion um den Fachkräftemangel hatten und haben die „modernen“, kosmopolitischen beziehungsweise weltmarktorientierten Teile der politischen Klasse das populistische Feindbild „Flüchtling“ längst aufgegeben. Die alten ideologischen Dichotomien „Migrant versus Flüchtling“ oder „politischer Flüchtling versus Wirtschaftsflüchtling“ waren und sind im Prinzip längst einer wirtschaftsutilitaristischen Unterscheidungslogik gewichen: nützlich oder nicht nützlich, (potenzielle) Fachkraft oder Armutszuwanderer. Die Verwertbarkeit am Arbeitsmarkt und nicht der Status als Flüchtling oder Migrant ist hier das entscheidende Kriterium.9 Von daher wird sich noch zeigen müssen, in welchem Maße der autoritäre Sozialstaat „nur“ symbolisch die Zähne fletscht oder auch tatsächlich zubeißt.

3.2. Integrationssymbolik ohne Substanz

Natürlich verspricht das Integrationsgesetz auch Integrationsangebote. Ebenso werden auf der Ebene der Länder und Kommunen eine Vielzahl von Integrationsprogrammen aufgelegt und Integrationsprojekte gefördert. Nach der Phase hektischer Aktivitäten rund um die Flüchtlingsaufnahme verlagert sich der Fokus in Bezug auf Integration vor allem auf die sogenannten sozialstaatlichen Regelsysteme. Das ist vom Grundsatz her ein richtiger Ansatz: In Analogie zum Inklusionsbegriff kann es nicht darum gehen, Spezialkitas, Spezialschulen, Spezialwohnungen, Spezialarbeitsplätze etc. für Flüchtlinge zu schaffen. Genau wie Inklusion bedeutet auch Integration, dass die gesellschaftlichen Regelsysteme im Kern sowohl konzeptionell wie auch ressourcenmäßig so aufgestellt sein müssen, dass sie von allen Menschen in all ihrer Verschiedenheit genutzt werden können. Das beinhaltet auch die notwendige Flexibilität, um mit Verschiedenheit umgehen und auf unterschiedliche Bedarfe mit spezifischen Unterstützungsangeboten reagieren zu können. Selbstverständlich bedeutet „Integration“ immer die Integration in die real existierende Klassengesellschaft, in zunehmend prekäre Lohnarbeit und in zunehmend prekäre soziale Sicherungssysteme. Selbst gelungene „Integration“ kann unter diesen Bedingungen für die allermeisten Flüchtlinge und Migrant/-innen nur volle Gleichberechtigung in der Ausbeutung bedeuten. Schaut man sich aber an, was derzeit unter Integrationsmaßnahmen firmiert, dann drängt sich der massive Verdacht auf, dass es selbst um diese Gleichberechtigung nicht wirklich geht. Vielmehr geht es eher um einen symbolischen Aktionismus, dessen Scheitern bereits im Ansatz angelegt ist. Im Wesentlichen orientiert sich die offizielle Integrationsdoktrin auf die Zugänge in (Lohn-)Arbeit, in den Wohnungsmarkt sowie in das Bildungssystem. Damit sind in erster Linie strukturelle Systeme angesprochen, die entsprechend strukturelle staatliche Eingriffe notwendig machen würden. Diese sind jedoch bereits in der Vergangenheit eher verweigert worden.

a) Arbeitsmarkt

Bereits jetzt ist für die etwa 2,8 Millionen offiziell Erwerbslosen (im Jahresdurchschnitt 2016), für mindestens noch einmal so viele Menschen, die die diversen Maßnahmen der Jobcenter und der Agenturen für Arbeit durchlaufen, und für die Beschäftigten im sogenannten Niedriglohnsektor der Zugang zu einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis mit einigermaßen existenzsichernden Löhnen und Gehältern nicht gegeben. Da die Unternehmen nicht in der Lage und nicht willens sind, ausreichend existenzsichernde Arbeitsplätze zu schaffen, wäre also das Mindeste, an das man unter Integrationsgesichtspunkten denken müsste, ein umfangreiches öffentlich finanziertes Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramm auf der Basis sozialversicherungspflichtiger und regulär entlohnter Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse, das für alle Arbeitssuchenden unabhängig von ihrem Status zugänglich wäre.

Offenkundig steht ein solches Programm nirgends auf der politischen Agenda. Stattdessen konzentrieren sich die verschiedenen arbeitsmarktpolitischen Integrationsmaßnahmen im Wesentlichen auf Arbeitsgelegenheiten (80-Cent-Jobs) für Flüchtlinge sowie auf Sprachkurse und Maßnahmen zur effizienteren und schnelleren Kompetenz- und Qualifikationsfeststellung. So richtig die Ausweitung und Öffnung von Sprach- und Integrationskursangeboten an sich ist, so unterbezahlt sind die Lehrerinnen und Lehrer, so ungenügend sind nach wie vor die Stundenkontingente für Flüchtlinge, so sehr fehlen Kinderbetreuungsangebote während der Kurse und so sehr fehlen sowohl Alphabetisierungskurse wie auch Kurse für höhere Sprachniveaus. Die neu geplante flächendeckende Kombination von Integrationskursen und Arbeitsvorbereitungsmaßnahmen ist nicht nur in das Sanktionsinstrumentarium von SGB II und Integrationsgesetz eingebunden,10 angesichts fehlender Qualitätskontrollen profitieren von ihr zudem vor allem die Massen- und Billigproduzenten unter den Bildungsträgern. Und schließlich zwingen sie Menschen, die gerade hier angekommen sind, die sich orientieren müssen, die Traumatisierungen zu verarbeiten haben etc., in Fulltime-Maßnahmen, in denen nur sehr leistungsfähige und -starke Flüchtlinge bestehen werden. Sicherlich werden über den ESF und andere Förderprogramme immer wieder einzelne sinnvolle Projekte entstehen, aber im Kern ist allen Maßnahmen eines gemein: Die strukturell notwendigen Anschlussperspektiven im Rahmen von betrieblicher und überbetrieblicher Ausbildung und existenzsichernder Erwerbsarbeit werden nicht geschaffen. So dienen all diese Maßnahmen letztlich eher als Filter- und Sortierinstrument.

b) Wohnungsmarkt

Geflüchtete werden zunächst öffentlich-rechtlich untergebracht. Aber selbst, wenn eine Wohnberechtigung vorhanden ist,11 kann angesichts der Situation auf dem Wohnungsmarkt die öffentlichrechtliche Unterbringung unter Umständen Jahre andauern. Entsprechend wichtig sind zumindest wohnungsähnliche Standards in der Unterbringung, Berücksichtigung der Unterbringungs- und Betreuungsbedarfe vulnerabler Gruppen, Unterkunftskonzepte, die Räume für soziales Leben beinhalten, ausreichendes sowie sprach- und interkulturell kompetentes Personal bei den Unterbringungsbetreibern, sozial- und verfahrensrechtliche Beratungsangebote etc. Die Standards in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung haben diesen Anforderungen schon vor dem Sommer 2015 nur selten entsprochen, inzwischen wird die Einhaltung von Mindeststandards systematisch ignoriert.

Letztlich bedeutet Integration jedoch, dass Flüchtlinge irgendwann auch tatsächlich in einer eigenen (Miet-)Wohnung wohnen können. Doch auch ohne Zuwanderung besteht insbesondere in Metropolen wie Hamburg eine Wohnungsnot bei einkommensschwachen und benachteiligten Gruppen. Diese Wohnungsnot ist Ergebnis einer systematischen Verringerung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau; sie erhöht in der aktuellen Zuwanderungssituation die Konkurrenz unter den unterschiedlichen Betroffenengruppen. Nicht nur, aber auch unter Integrationsaspekten besteht somit eine der zentralen Handlungsanforderungen in deutlich intensivierten Anstrengungen für eine soziale Wohnungspolitik. Zum einen geht es darum, den sozialen Wohnungsbau massiv auszuweiten beziehungsweise überhaupt wieder in den öffentlich geförderten Sozialwohnungsbau einzusteigen. Zum anderen ist es gerade für vordringlich Wohnungssuchende und für die besonders benachteiligten Gruppen am Wohnungsmarkt von zentraler Bedeutung, dass die Zugänge zum bereits existierenden Wohnungsbestand verbessert werden: durch entsprechende Belegungsregelungen bei städtischen Wohnungsunternehmen, durch Auflagen beziehungsweise vertragliche Bindungen an die Wohnungswirtschaft, durch die Aufhebung von Freistellungsgebieten oder auch durch gezieltes Vorgehen gegen Praktiken einer diskriminierenden Wohnungsvergabe.12

c) Bildung

Vieles von dem, was über den Arbeits- und den Wohnungsmarkt gesagt wurde, gilt auch für das Bildungssystem als dritte, oft beschworene Integrationsinstanz. Die systematische Zurücksetzung von Kindern aus sozial benachteiligten und migrantischen Familien im bundesdeutschen Schulsystem ist seit Langem bekannt, weshalb das dreigliedrige Schulsystem als solches ein Integrationshemmnis erster Ordnung darstellt. In der jetzigen Situation ist es darüber hinaus jedoch geradezu fahrlässig, wenn der Personalbestand in den Schulen nicht oder nur ungenügend aufgestockt wird und wenn nicht ganz gezielt und systematisch die spezifischen pädagogischen Kompetenzen im Umgang mit Flüchtlingsschüler/-innen im Lehrkörper genauso aufgebaut werden wie Sprach- und interkulturelle Kompetenz.

Auch im Bereich von Kitas und vorschulischer Bildung ist der vorhandene Personalschlüssel schon jetzt völlig unzureichend. Doch auch hier geht es nicht nur um mehr Erzieher/-innen in den Kitas. Vielmehr brauchen Erzieherinnen und Erzieher neue und andere Qualifikationen wie etwa Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenzen. Wie im System Schule auch müssen Fort- und Weiterbildungen finanziert werden, müssen Honorare für Dolmetscher/-innen eingestellt werden, muss die Zeit für gemeinwesenorientierte Netzwerk- und Elternarbeit berücksichtigt und bezahlt werden. d) Soziale Hilfesysteme Für viele derjenigen, die als Flüchtlinge zugewandert sind, werden die sozialen Hilfesysteme von der Migrationsberatung und der Schuldnerberatung über die offene Kinder- und Jugendarbeit, die Behindertenhilfe, die Pflege bis hin zu Beratungsstellen der Wohnungslosen- und Suchtkrankenhilfe und der Frauensozialarbeit die ersten und wesentlichen Anlaufstellen sein. Sie werden dabei auch eine zentrale Lotsenfunktion im Integrationsprozess übernehmen. Dies gilt insbesondere für die landes- wie bundesfinanzierten Migrationsdienste und Migrationsberatungseinrichtungen. Gleichzeitig jedoch sind all diese Dienste angesichts des Spardrucks der letzten Jahre bereits heute am Ende ihrer Leistungsfähigkeit angekommen. Den neuen und zusätzlichen Aufgaben ist das gesamte Hilfesystem nur dann gewachsen, wenn a) die Einrichtungen im Bereich der Personal- und Sachkosten strukturell und langfristig auskömmlich refinanziert sind, und sie b) bei der Übertragung neuer Aufgaben beziehungsweise bei der Berücksichtigung neuer Zielgruppen die notwendigen zusätzlichen Ressourcen erhalten – etwa für Organisationsentwicklungsprozesse, für Fort- und Weiterbildung von Personal, für die Implementierung interkultureller Öffnungsprozesse – und wenn c) die Einrichtungen und Träger auch die Freiheit und Flexibilität für konzeptionelle Innovationen, für gemeinwesenorientierte Ansätze, für experimentelle Projekte etc. eingeräumt bekommen.

4. Sortieren und Spalten

Auch ohne die momentane Zuwanderung wäre eine Partizipation sozial Benachteiligter in keinem Bereich zum Nulltarif zu haben. In der jetzigen Situation jedoch kollidieren die aktuellen Integrationsanforderungen mit den (sozial-)politischen Richtungsentscheidungen der letzten Jahre, und insbesondere kollidieren sie ganz offensichtlich mit dem Dogma von Haushaltskonsolidierung und Schuldenbremse.

Auch deshalb dominieren aktuell kurzfristige und symbolische Maßnahmen, die zudem ein eher technokratisches Verständnis von Integration offenbaren. Sie zielen auf diejenigen unter den Geflüchteten, die – im Jargon der Arbeitsverwaltung – eher „marktnah“ sind, also schnell und ohne großen Aufwand „integriert“ werden können. Maßnahmen, die auf eine Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen zielen und die Teilhabemöglichkeiten auch der nicht unmittelbar Verwertbaren verbessern, werden vermieden. Die Auslese unter den Geflüchteten ist aber nur eine von mehreren Konsequenzen einer solchen Politik. Einerseits reagieren Staat und Politik auf unmittelbare Anforderungen, andererseits wird deutlich signalisiert, dass diese Maßnahmen und Ausgaben keinerlei allgemeine beziehungsweise strukturelle Maßnahmen im Sozialbereich präjudizieren. Eine solche Botschaft kann nur so verstanden werden, dass einseitige Sonderprogramme für Flüchtlinge aufgelegt werden, während allen anderen benachteiligten Bevölkerungsgruppen weiter die Daumenschrauben angezogen werden. Im Bereich der öffentlich-rechtlichen Unterbringung etwa werden in Hamburg derzeit Obdach- und Wohnungslose faktisch deutlich benachteiligt. Neu errichtete Unterkünfte werden vorrangig mit Flüchtlingen belegt. Obdachlose müssen im Winter die Notunterkünfte tagsüber verlassen, Flüchtlinge können in den Unterkünften bleiben. Rund um die Unterkünfte werden Beratungs- und Unterstützungsprojekte finanziert, während die Beratungsstellen für Obdach- und Wohnungslose fiskalisch geknebelt bleiben. Wenn zudem Regionalverwaltungen des städtischen Wohnungsunternehmens SAGA / GWG Wohnungssuchenden mitteilen, die Wohnung müsse leider für Flüchtlinge freigehalten werden, so ist das zum einen wahrheits- und rechtswidrig und hat zum anderen desaströse Auswirkungen. Umgekehrt bleibt Flüchtlingen nach wie vor das Recht auf Wohnen zunächst verwehrt. Sie werden zuerst in den Erstaufnahme- und dann in den Folgeeinrichtungen öffentlich-rechtlich untergebracht. Inzwischen bildet sich im Gesamtsystem der öffentlich-rechtlichen Unterbringung ein Mehr-Klassen-System unterschiedlicher Unterbringungsformen und -standards heraus, in das wohnungslose Menschen und Flüchtlinge je nach aufenthaltsrechtlichem und sozialem Status einsortiert werden.

Was im Unterbringungsbereich bereits Realität ist, deutet sich auch auf dem Arbeitsmarkt an. In der neuen Förderperiode des ESF reserviert Hamburg 5,5 Millionen Euro ausschließlich für neue Projekte im Flüchtlingsbereich, gleichzeitig äußern Kammern und Unternehmerverbände öffentlich, dass sie lieber Flüchtlinge einstellen als Langzeiterwerbslose. Dabei bedeuten solche Projekte und Maßnahmen noch lange nicht, dass Flüchtlinge tatsächlich in Existenz sichernde Jobs vermittelt werden. Neben der Spaltung zwischen (Langzeit-)Erwerbslosen und Flüchtlingen werden hier weitere Spaltungslinien entlang unterschiedlicher Aufenthaltstitel relevant: Flüchtlinge mit „guter Bleibeperspektive“ aus den Luckyfive-Staaten (Syrien, Irak, Iran, Eritrea, Somalia) werden auch institutionell eher gefördert als andere Statusgruppen. Für diese Gruppen ist inzwischen die Vorrangprüfung abgeschafft worden; ihnen stehen besondere Sprachkursangebote zur Verfügung. Selbst wenn – zumindest nach der Phase des Arbeitsverbots – der Aufenthaltstitel nicht mehr über den prinzipiellen Zugang zum Arbeitsmarkt entscheidet, so sind Flüchtlinge doch durch die grundsätzliche Prekarität und Widerrufbarkeit ihres Aufenthaltsstatus in deutlich größerem Umfang erpressbar. Gerade die Knüpfung des Aufenthaltstitels an die „eigenständige Erwerbssicherung“ zwingt sie dazu, jede Arbeit anzunehmen und erschwert kollektive Organisierung. Es ist von daher auch nicht verwunderlich, dass ein zentrales Element der unternehmerischen „Willkommenskultur“ die Forderung nach Abschaffung des Mindestlohns bei der Arbeitsintegration von Flüchtlingen ist.

5. Und jetzt?

Linke Perspektiven Wenn es nicht gelingt, das Primat des ausgeglichenen Haushalts zu brechen, bedeutet das in den kommenden Jahren geradezu zwangsläufig eine massive Konkurrenz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen um knapp gehaltene Ressourcen. Diese Konkurrenzkämpfe werden zumindest potenziell stärker rassistisch konnotiert, und sie werden sich nicht zuletzt auch als eine Konkurrenz um Sozialleistungsansprüche ausdrücken. Denn trotz allem Gerede über die Chancen für die deutschen Arbeitsmärkte wird man von einem deutlichen Anstieg der Armutsbevölkerung in Deutschland ausgehen müssen und damit auch von deutlich steigenden Anstrengungen zur „Ausgabenbegrenzung“ bei den Sozialsystemen. Ein erstes Indiz dafür, dass auch die direkten Sozialleistungen in den Fokus der Politik geraten, sind die aktuellen Pläne des Bundesarbeitsministeriums, den Zugang für EU-Bürger/-innen zu SGB II- und SGB XII-Leistungen drastisch einzuschränken.13

Faktisch haben der Sommer der Migration und die nach Deutschland Geflüchteten die Verteilungsfrage auf die tagespolitische Agenda gesetzt. Während die Politik darauf mit „Teile und herrsche“ reagiert, bleibt eine linke Antwort noch aus. Aus unserer Sicht müsste diese zunächst einmal den Konkurrenzmechanismen und Spaltungslinien Forderungen entgegenstellen, die Zugänge zu Wohnraum, Arbeit, Einkommen, Bildung etc. für alle in den Mittelpunkt stellen. Dies ist beileibe keine neue Idee, aber angesichts der momentanen gesellschaftlichen Entwicklung scheint sie aktueller denn je. Vielleicht erfordert das auch ein gewisses Umdenken in der linken Flüchtlingsunterstützung. Diese versteht sich, so unser Eindruck, nach wie vor in erster Linie als Solidaritätsarbeit; sie bezieht sich eher weniger aus eigenen Kämpfen heraus auf die Geflüchteten. Zugegeben: Wir sind in nahezu allen gesellschaftspolitischen Feldern meilenweit davon entfernt – aber in der Solidarität und Unterstützung von Flüchtlingen, die andere Kämpfe um eine menschenwürdige Existenz auf demselben Terrain verortet, liegt vielleicht die Chance, die relative Sprachlosigkeit und Handlungsohnmacht der Linken zu überwinden. So marginal, fragil und kurzlebig auch immer: Es gibt Proteste von Flüchtlingen, etwa gegen beschissene Unterbringungsbedingungen. Und es gibt in diesen Protesten selbstverständlich auch Organisierung. Und zweifellos ist es richtig, diese Kämpfe zu unterstützen.

Aber es wäre ein großer Schritt nach vorne, wenn diese Unterstützung nicht nur von Soligruppen im engeren Sinne, sondern zum Beispiel auch von Mieterinitiativen oder dem Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot (mit-)getragen werden würde.

Wir wollen die Messlatte nicht viel höher hängen, als wir selber springen können: Kaum wird es gelingen, auf einen Schlag mit der richtigen Strategie und Taktik den herrschenden Politiktrend zu kippen. Aber wir plädieren dennoch für einen anderen Blick, eine andere Perspektive in der Flüchtlingsunterstützung. Und zu dieser anderen Perspektive gehört auch, das Augenmerk auf die Ansätze und Erfahrungen zu richten, in denen versucht wurde, der Segmentierung und Spaltung entgegen zu wirken. In Hamburg ist die Positionierung von Recht auf Stadt in der Auseinandersetzung um Wohnungsbau, Flüchtlingsunterbringung und Volksinitiativen dafür ein Beispiel, und auch die Parade zum Springer-Gebäude zum Thema Wohnen und Unterbringung (in der im frühen Sommer 2016 der Leerstand dieses zentral gelegenen ehemaligen Verlagshaus skandalisiert wurde)14 symbolisiert einen Ansatz. Im Oldenburger Land (Niedersachsen) skandalisieren Erwerbslosengruppen, die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) sowie Landwirte in lokalen Kampagnen die Arbeitsbedingungen von südosteuropäischen Arbeiter/-innen in den Schlachthöfen. Immerhin hat der Konflikt zu einer relativ kontinuierlichen Zusammenarbeit zwischen osteuropäischen Migrant/-innen, der lokalen NGG als zuständiger Einzelgewerkschaft und lokalen Sozialinitiativen geführt, um die Arbeitsrechte aller Beschäftigten zu verteidigen.

Ähnliches gilt für den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen für Werkvertragsarbeiter/-innen auf einer Papenburger Werft – ein Konflikt, in dem sich die Forderung nach Schutz vor Ausbeutung (als Menschenrecht) und gewerkschaftliche Argumentationen verbunden haben. Derartige Initiativen haben sich in den letzten Jahren auch in anderen Städten und Regionen im Bereich der Werkvertragsbeschäftigung gebildet. Beispiele wie dieses deuten eine Perspektive an, die unseres Erachtens insbesondere für die Verbindung zwischen gewerkschaftlicher und politischer Perspektive in Migrationskonflikten wichtig wäre. Die traditionellen Formen (gewerkschaftlicher) Arbeitspolitik reichen nicht mehr aus: Denn migrantische Arbeit war und ist – zumindest in der ersten Generation – mit einer umfassend prekären Lebenssituation verknüpft. Entsprechend geht es in diesen Auseinandersetzungen und in der solidarischen Bezugnahme darauf auch nicht nur um die Forderung nach guter Arbeit. Genauso geht es um nicht-prekäre Wohn- und Lebensbedingungen sowie, last but not least, um eine Stabilisierung und Entprekarisierung des aufenthaltsrechtlichen Status.

 

Anmerkungen:

1 Ende Dezember 2011 hatte der EuGH entschieden, dass Asylbewerber/-innen nicht in einen EU-Mitgliedsstaat überstellt werden dürfen, wenn dort die Einhaltung ihrer Grundrechte nicht gewährleistet werden kann. Dies wurde für Griechenland explizit anerkannt.

2 Allerdings bedeutete das für die betroffenen Flüchtlinge auch den weitgehenden Ausschluss von staatlich vermittelten Sozialleistungen.

3 So sind etwa die Einrichtungen der Zentralen Erstaufnahme in Hamburg bis heute nicht barrierefrei. Kinder- und Gewaltschutzkonzepte in den Unterkünften werden erst seit dem Februar 2016, fast zwei Jahre nach Beginn der Zunahme von Geflüchteten, Schritt für Schritt eingeführt. Trotz der viel gepriesenen Gesundheitskarte ist der individuelle Rechtsanspruch von Flüchtlingen auf eine gesundheitliche Basisversorgung vom ersten Tag an in Hamburg erst seit etwa November / Dezember 2015 sichergestellt worden.

4 Hamburger Abendblatt, 2.10.2015, siehe auch: Erklärung zur Unterbringung von Wohnungslosen und Flüchtlingen in Hamburg. Verfasst von Leitungskräften der Geschäftsbereiche Wohnen bei f & w, Hamburg, 1. 10. 2015: [http://zukunftelbinsel.de/wp-content/uploads/2015/10/Erkl%C3%A4rung_01.10.2015.pdf].

5 Zumindest in den Lagebesprechungen von Polizeien und Innenbehörden sind allerdings bereits seit Mitte der 2000er Jahre immer wieder auch Szenarien durchgespielt worden, die der Ist-Situation des Jahres 2015 sehr nahe kamen.

6 Wesentliche Inhalte der Gesetzespakete sind die Einschränkung des Familiennachzugs, die abschreckende Verschärfung der Lagerunterbringung, Einschränkungen bei den sogenannten tatsächlichen Abschiebehindernissen, Effektivierung von Datenerhebung und Datenzugriff, Verkürzung von Fristen, die Einschränkung des Rechtswegs, die Verlängerung des Arbeitsverbots und Leistungseinschränkungen in der Zentralen Erstaufnahme.

7 Legt man die aktuelle Gesamtschutzquote zugrunde, also die Anerkennungsquoten bei Asylanträgen, die Gewährung von subsidiärem Schutz und die Berücksichtigung tatsächlicher Abschiebungshindernisse und Abschiebungsverbote, so bleiben sogar über sechzig Prozent der Geflüchteten in Deutschland [http://de.statista. com/statistik/daten/studie/451967/umfrage/anerkennungsquote-der-asylbewerberaus-den-hauptherkunftslaendern/]. „Bleiben“ bedeutet allerdings nicht, dass die jeweiligen Statusgruppen sozialrechtlich gleich gestellt wären. Das Gegenteil ist der Fall.

8 Die Logik und der Sprachgebrauch des „Förderns und Forderns“ finden sich beispielsweise bereits in der Präambel des Hamburger Integrationskonzeptes von 2007 (Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz: Hamburger Handlungskonzept zur Integration von Zuwanderern, Hamburg, Februar 2007, S. 9).

9 Ein gutes Beispiel für diese „weltmarktorientierte“ Haltung zur Flüchtlingsthematik ist die Grundsatzrede, die Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz am 19. März 2014 im Thalia-Theater gehalten hat. Im Zusammenhang mit der damals in der Hansestadt virulenten Auseinandersetzung um die Lampedusa-Flüchtlinge ist diese Rede vielfach fälschlich als reine Abwehrrede interpretiert worden. Ihre eigentliche Botschaft jedoch war: Politisch-taktische Notwendigkeiten können zu Flüchtlingsabwehr zwingen, aber im Prinzip können wir jede qualifizierte und leistungsbereite Arbeitskraft für den Standort Hamburg gebrauchen. Zu Hause bleiben sollen die, die keine Chance haben, ihre Arbeitskraft hier zu verkaufen. Scholz, Olaf: „Hamburg, Europa und die Grenzen“, [http://www.hamburg.de/buergermeister-reden/ 4285446/2014-03-19-grundsatzrede-thalia/].

10 Das neue KompAs-Programm sollte mit 40.000 Plätzen zum 1. August 2016 starten; 2017 soll es mit 150.000 Plätzen zu dem Sprachförderinstrument für Geflüchtete ausgebaut werden; vgl. auch Bundesagentur für Arbeit, Leistungsbeschreibung zur Kombination von Integrationskursen mit Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung nach § 16 Abs. 1 SGB II i. V. m. § 45 SGB III, Nürnberg, 21. März 2016.

11 Eine Wohnberechtigung erhalten in Hamburg bleibeberechtigte Flüchtlinge, Flüchtlinge mit Duldung oder Gestattung nach sechs Monaten Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft, sofern zu erwarten ist, dass sie mindestens ein Jahr lang in Deutschland bleiben werden, sowie Familien, bei denen ein Mitglied eigenes Einkommen hat.

12 Die – euphemistisch ausgedrückt – zögerliche Wohnungsvergabe an benachteiligte Bevölkerungsgruppen wird in aller Regel mit dem Verweis auf Durchmischungsanforderungen in den Quartieren begründet. Entsprechend besteht eine der zentralen Anforderungen in der politischen Lobbyarbeit darin, dieses ebenso verbreitete wie akzeptierte Durchmischungsideologem in Frage zu stellen.

13 Vgl. den Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums für ein „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“ vom 28. April 2016.

14 Hamburger Abendblatt, 28.5.2016: [http://www.abendblatt.de/hamburg/hamburg-mitte/article207614873/Hunderte-Demonstranten-fordern-bauen-stattabschieben.html].

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