Seit ihrer weitgehenden Deregulierung 2003 ist die Leiharbeit auf Expansionskurs gegangen, von dem spätere Gesetzesnovellen sie bislang nicht abzubringen vermochten. Das war im Jahr 2017 nicht anders. Neue Rekordmarken wurden erreicht, und ein Ende ist nicht in Sicht – auch weil die Reform vom April des Jahres eine Mogelpackung darstellt.
Im Januar 2003 trat das Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in Kraft. Mit dieser auch unter dem Begriff Hartz I bekannten Arbeitsmarktreform wurden die entscheidenden Beschränkungen, mit denen das Geschäft der Arbeitnehmerüberlassung bislang in relativ engen Bahnen gehalten wurde, aufgegeben. Die Entfesselung der Leiharbeit entfaltete quasi von Beginn an ihre Wirkung. Eine vormals eher unbedeutende Branche, die mit dem Verleihen von Arbeitskräften ihre Gewinne erzielt, expandierte nahezu ungehemmt mit den von Rekord zu Rekord eilenden Zahlen an LeiharbeitnehmerInnen. Im Juni 2015 überschritt die Zahl der Arbeitnehmerüberlassungsbetriebe die Marke von 50.000, im darauf folgenden August wurden erstmals über eine Million Leiharbeitsbeschäftigte registriert.
Im vergangenen Jahr ist ein weiterer trauriger Rekord hinzugekommen: Erstmals hat die Zahl der im Jahresdurchschnitt in Leiharbeit Beschäftigten die Millionenmarke überschritten. Wie aus den kürzlich veröffentlichten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervorgeht, hatten etwa 52.000 Überlassungsbetriebe 2017 im Schnitt 1,03 Millionen ArbeitnehmerInnen unter Vertrag, ein Vertrag, der für 55 Prozent der so Beschäftigten allerdings nie länger als drei Monate Bestand hatte.
In der zweiten Jahreshälfte 2017 hat die BA durchgängig über eine Million Leiharbeiter gezählt, womit ihr Anteil an der gesamten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gut drei Prozent erreichte, auch dies ein leichtes Plus zu den Vorjahreszahlen. Am Ende des Jahres waren es exakt 1.031.589 Personen. Gegenüber dem Vorjahresmonat ist das ein Plus von 3,9 Prozent. Derart hohe Wachstumsraten sind bei der Leiharbeitsbeschäftigung schon lange üblich. Seit Mitte 2103 wartet die Branche in puncto Beschäftigung mit beeindruckenden halbjährlichen Wachstumsraten zwischen 3,5 und 7,6 Prozent auf. Von einer solchen Expansion können andere Wirtschaftszweige nur träumen.
Branchenschwerpunkte
Leiharbeitsbeschäftigte sind in allen Wirtschaftszweigen zu finden, wobei der Dienstleistungsbereich mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Der Hauptanteil der Leiharbeit entfiel allerdings auch 2017 wieder mit 42 Prozent auf die Produktionsberufe. Hier ragen die Bereiche „Metallverarbeitung“ und „Maschinenbau- und Betriebstechnik“ mit Anteilen von zehn bzw. 6,7 Prozent heraus. Die mit Abstand meisten Leiharbeitsbeschäftigten arbeiten weiterhin in Berufen der „Lagerwirtschaft“. Mehr als 24 Prozent aller Leihkräfte waren im Durchschnitt des Jahres 2017 dort tätig.
Die Bedeutung des tertiären Sektors nimmt derweil weiter zu. Knapp jeder dritte Leiharbeitnehmer arbeitete 2017 in einem wirtschaftlichen Dienstleistungsberuf. Dazu zählen etwa die Reinigungsberufe, auf die ein Anteil von 2,1 Prozent entfiel, oder das Sicherheitsgewerbe. Weitere 20 Prozent arbeiten je zur Hälfte in personenbezogenen Dienstleistungsberufen (Gastgewerbe, Gesundheitsbranche) und kaufmännischen Berufen (von Handel bis Unternehmensführung).
Was sektor- und berufsbereichübergreifend auffällt: LeiharbeitnehmerInnen sind vergleichsweise häufiger in Tätigkeiten zu finden, die mit einem niedrigen Anforderungsniveau verbunden sind. Auch im Jahresdurchschnitt 2017 übte wieder mehr als die Hälfte von ihnen nur eine Helfertätigkeit aus. Da nur 28 Prozent der Leihkräfte keinen Berufsabschluss haben, wird also ein großer Teil der HelferInnen unterhalb des persönlichen Qualifikationsniveaus eingesetzt. Mit dieser Situation sind viele Leiharbeitsbeschäftigte unzufrieden. Wie aus der jüngsten Erwerbstätigenbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hervorgeht, waren 28,5 Prozent der befragten Leihkräfte mit der „Möglichkeit, Fähigkeiten anzuwenden“ unzufrieden, 16,6 Prozent von ihnen monierten auch „Art und Inhalt der Arbeit“ (vgl. 16.05.2018).
Für die Verleihbetriebe geht die Rechnung hingegen auf. Sie können häufig formal Überqualifizierte anbieten – und das meist zu einem Spottpreis: Das mittlere Bruttoarbeitsentgelt für Tätigkeiten als Helfer lag Ende 2017 in der Leiharbeit mit 1.594 Euro um fast 27 Prozent niedriger als in der Gesamtwirtschaft. Dort lag der Median bei 2.177 Euro. Da überrascht es nicht, wenn in der erwähnten Erwerbstätigenbefragung 59 Prozent der LeiharbeiterInnen mit ihrem Einkommen nicht zufrieden sind.
Wann geht die Branche in den Verdrängungswettbewerb über?
Die in der Industrie und mehr noch im Dienstleistungssektor anhaltend hohe Nachfrage nach billigen und am liebsten jungen Leihkräften (fast die Hälfte ist jünger als 35 Jahre), ließ die Zahl der Verleihbetriebe Jahr für Jahr weiter wachsen. Im Prinzip war das auch 2017 wieder der Fall: Im Jahresdurchschnitt verzeichnet die BA 52.017 Betriebe, das waren noch einmal 0,8 Prozent mehr als im Vorjahr.
In den letzten vier Monaten das Jahres 2017 hat die Entwicklung nach jahrelanger durchgängiger Aufwärtsentwicklung jedoch ins Minus gedreht. Ende Dezember waren es „nur“ noch 51.446 Betriebe, 198 weniger als im Vorjahresmonat. Das ist natürlich kaum der Rede wert, zumal die Rückgänge nur unter jenen Betrieben zu finden sind, für die die Arbeitnehmerüberlassung keinen Schwerpunkt ihrer Geschäftstätigkeit darstellt. Es wäre daher sicherlich verfrüht, wollte man in der Entwicklung bereits erste Anzeichen dafür sehen, dass in der Branche ein Konzentrationsprozess einsetzt, der die Kleinen vom Markt drängt. Interessant wird es erst, wenn die Expansion der Branche abflacht und nennenswerte Umsatz- und Gewinnsteigerungen nur noch durch die Eroberung von Marktanteilen realisierbar sind.
Was bringt die Zukunft?
Seit dem ersten April 2017 gelten in der Branche neue Spielregeln. Mit dem überarbeiteten Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) traten zwei (vermeintliche) Restriktionen in Kraft, die auf den ersten Blick dazu geeignet erscheinen, die ausufernde Verleiherei zurückzudrängen. So wurde zum Einen festgelegt, dass jedem Leiharbeitenden künftig nach neun Monaten das gleiche Entgelt zusteht wie der vergleichbaren Stammbelegschaft (Equal Pay). Zum Anderen ist die Überlassungshöchstdauer auf 18 Monate begrenzt worden. Geht die Branche damit einem Wachstumsknick entgegen? Bisher ist davon nichts zu bemerken, und schon ein oberflächlicher Blick ins Kleingedruckte des Gesetzeswerkes reicht, um die Prognose zu wagen, dass der auch 2018 nicht eintreten wird.
Was Equal Pay nach neun Monaten angeht: Drei Viertel aller Arbeitsverträge mit LeiharbeiterInnen werden von dieser Regelung gar nicht erst erfasst. Von allen im zweiten Halbjahr 2017 beendeten Arbeitsverhältnissen mit einem Verleihunternehmen dauerten 75 Prozent nicht länger als neun Monate. Hinzu kommt, dass die Beschäftigungsdauer bei den Entleibetrieben bis zum Eintritt von Equal Pay durch tarifvertragliche Regelungen (Tarifverträge mit stufenweise sich erhöhenden Branchenzuschlägen) bis auf 15 Monate ausgedehnt werden kann. Diese Ausnahmeoption ist noch nicht einmal auf tarifgebundene Entleihbetriebe beschränkt worden, denn nicht-tarifgebundene Entleiher können die Anwendung solcher tarifvertraglichen Regelungen durch arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln vereinbaren.
Was die Einführung einer Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten angeht: Hier besteht sogar in 87 Prozent der Verleihfälle kein Handlungsbedarf. Gerade mal 13 Prozent aller im zweiten Halbjahr 2017 beendeten Leiharbeitsverhältnisse dauerten 18 oder mehr Monate. Auch hier öffnen tarifvertragliche Absprachen wieder ein riesiges Schlupfloch. Dort, wo Tarifvertragspartner sich auf Überlassungsdauern einigen, brauchen sie überhaupt keine gesetzlich definierte Zeitgrenze berücksichtigen. In der Metall und Elektroindustrie hat man sich beispielsweise recht schnell auf eine Entleihhöchstdauer von sagenhaften 48 Monaten (pro Leiharbeiter) verständigt. Nicht-tarifgebundene Entleihbetriebe haben immerhin noch die Möglichkeit, die Einsatzzeit auf 24 Monate auszudehnen.
Was die ganze Sache aber endgültig zur Mogelpackung werden ließ: Beide Zeitgrenzen beziehen sich nicht auf den jeweiligen Arbeitsplatz bzw. die betriebliche Funktion, sondern auf die eingesetzten Personen. Um Equal Pay oder die Übernahme von Leiharbeitenden zu vermeiden, müssen Entleihbetriebe einfach nur die Leihkräfte früh genug gegen andere austauschen. Wie günstig, dass per Gesetz auch noch festgelegt wurde, dass die Zeiträume aus vorherigen Überlassungen nicht mehr angerechnet werden, sobald mehr als drei Monate zwischen den Einsätzen vergangen sind. Im Klartext: Egal, wie lange ein Betrieb eine bestimmte Leiharbeitskraft vorher ausgeliehen hatte, nach einer Wartezeit von drei Monaten, die der Betroffene in einem anderen Entleihbetrieb oder in der Arbeitslosigkeit verbringen mag, steht er wieder zur Verfügung, fängt er wieder bei Null an. Rotationslösungen oder Leiharbeiter-Ping Pong drängen sich als Mittel der Wahl geradezu auf, um den lästigen Gesetzesbeschränkungen aus dem Weg zu gehen.
Vor solchen Verleih-Förderungsgesetzen braucht sich die Branche wahrlich nicht fürchten, und das weiß sie auch, zumal sie mit den DGB-Gewerkschaften „verlässliche“ Tarifpartner an ihrer Seite hat. Gefahr droht eher von der weiterhin guten Konjunktur, die für eine anhaltend hohe Nachfrage nach Arbeitskräften, steigende Erwerbstätigenzahlen, einer Zunahme der offenen Stellen und einem deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit sorgt. Sollte sich die Situation am Arbeitsmarkt tatsächlich in Richtung des hier und da bereits beschworenen Arbeitnehmermarktes drehen, könnte es eng werden. Denn welcher Arbeitssuchende braucht dann noch den Notnagel Leiharbeit?
weitere Infos: https://www.miese-jobs.de/ Markus Krüsemann ist Soziologe und Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung in Göttingen. Bild: ver.di Quellen: Statistik der Bundesagentur für Arbeit (2018): Leiharbeitnehmer und Verleihbetriebe, 2. Halbjahr 2017, Nürnberg. Statistik der Bundesagentur für Arbeit (2018): Blickpunkt Arbeitsmarkt – Aktuelle Entwicklungen der Zeitarbeit, Nürnberg, Juli 2018. Brenscheidt, S./ Siefer, A. u.a. (2018): Arbeitswelt im Wandel: Zahlen - Daten - Fakten (2018), Ausgabe 2018, Dortmund.