„Stromschulden und Stromsperren sind in Deutschland ein großes Problem, kein Randphänomen. Bei 328.000 Kunden wurde 2016 die Stromversorgung wegen nicht gezahlter Rechnungen tatsächlich unterbrochen. Die Sperrungen resultierten aus insgesamt 6,6 Mio. Unterbrechungsandrohungen, von denen ca. 1,2 Mio. in einen Unterbrechungsauftrag mündeten.1 Die relativ hohe Zahl der Unterbrechungsandrohungen zeigt, dass sehr viele Haushalte Zahlungsprobleme haben. Oft ist Einkommensarmut der Grund. Die Daten des Monitoringberichts der Bundesnetzagentur lassen jedoch auch die Ableitung zu, dass aufgrund der Aktivitäten aller Akteure zur Vermeidung von Lieferunterbrechungen nicht jede Unterbrechungsandrohung zu einer tatsächlichen Sperrung führt. Ohne diese Aktivitäten würde es häufiger zu Sperrungen kommen.
1.Die Situation
Es werden aber auch die Grenzen sozialarbeiterischen Handelns und örtlichen Engagements erkennbar. Energieschulden als allgemeines gesellschaftliches Problem können nicht allein durch Hilfen vor Ort vermieden werden. Im Kontext einer sozialpolitischen Rahmensetzung ist es erforderlich, die bisherigen Aktivitäten der beteiligten Akteure durch strukturelle Veränderungen im Sozialrecht zu ergänzen. Der Sozialstaat muss als eine der möglichen politischen Maßnahmen im Rahmen der Daseinsvorsorge eine Versorgung dieser Haushalte mit Energie sicherstellen, die dem Kriterium der Menschenwürde entspricht. Der deutsche Sozialstaat, der laut SGB I soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit realisieren will, muss ausgleichend in Bezug auf das generell deutlich erhöhte Überschuldungsrisiko von Menschen in armutsnahen Lebenslagen handeln. Entsprechende sozialrechtliche Änderungen sind unter anderem auch deshalb notwendig und sinnvoll, damit sich das Wirkpotential von personenbezogenen Unterstützungs- und Beratungshilfen etwa in der Schuldnerberatung oder der Sozialberatung voll entfalten kann.
Des Weiteren sollten Lösungsansätze im Bereich der Energieschulden und Energiesperren im Einklang mit den klima- und energiepolitischen Zielvorgaben der Energiewende und CO2Reduktion stehen. Eine Unterstützung von energiesparendem Verhalten und eine Steigerung der Energieeffizienz sind in allen Haushalten wichtig. Einkommensarme Haushalte brauchen spezifische und auf ihre Lebenslage bezogene Unterstützungsformen. Finanzielle Notlagen, fehlende Kenntnisse über energiesparendes Verhalten und das Fehlen energiesparender Geräte wirken beim Entstehen von Energieschulden zusammen. Lösungsansätze und Hilfen sind daraufhin zu prüfen, ob durch sie Anreize zur Energieeinsparung erhalten bleiben.
2. Sozialpolitischer Handlungsbedarf: Gesetzesänderungen
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinen Urteilen von 2010 und 2014 die Versorgung mit Energie als Teil eines „menschenwürdigen Existenzminimums“ beschrieben. Die EU-Richtlinie zum Elektrizitätsbinnenmarkt sieht in Nr. 35 vor, „Die Mitgliedstaaten sollten in jedem Fall eine ausreichende Energieversorgung für schutzbedürftige Kunden gewährleisten.“2 Damit ist klargestellt, dass sozialpolitische Instrumente gefragt sind und der Staat diese Aufgabe nicht allein sozialen oder wirtschaftlichen Akteuren überantworten kann.
Der bisher im Regelsatz der Grundsicherung enthaltene Stromkostenanteil ist zu niedrig angesetzt, um alle Haushaltskonstellationen angemessen zu versorgen: Die Kosten für Haushaltsstrom wurden in der mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe verbundenen Sonderauswertung unsachgemäß ermittelt und sind nicht bedarfsdeckend. So waren auch Haushalte Teil der Vergleichsgruppe, die gar keine Stromkosten einzeln nachgewiesen hatten, weil diese – etwa in Untermietverhältnissen – direkt über den Vermieter mit den Nebenkosten als Teil der Miete abgerechnet wurden. Zudem werden die Daten nur alle fünf Jahre erhoben. Die zwischenzeitliche Anpassung der Regelsätze über einen Mischindex aus allgemeiner Lohn- und Preisentwicklung ist für die Besonderheiten des Energiemarktes blind. Auch weil Grundsicherungsbeziehende meist keine stromsparenden Geräte haben und sich häufiger in der Wohnung aufhalten, verbrauchen sie mehr Strom. Analysen zeigen, dass die tatsächlichen Ausgaben der Grundsicherungsbeziehenden – je nach Haushaltskonstellation – zum Teil deutlich über den entsprechenden Anteilen im Regelsatz liegen. Ein-Personen-Haushalte im Grundsicherungsbezug gaben 2014 durchschnittlich 43 Euro pro Monat für Strom aus – während im Regelbedarf lediglich 34 Euro vorgesehen waren3. Dieser Abstand zwischen Regelsatzhöhe und tatsächlichen Kosten wird jährlich fortgeschrieben. So verwundert es nicht, dass insbesondere Haushalte im Grundsicherungsbezug und mit hohen Schulden von Stromsperren betroffen sind.
Forderungen zu Anpassungen bei der Grundsicherung und vorgelagerten Leistungen:
· Die tatsächlichen angemessenen Stromkosten sind in der Grundsicherung zu übernehmen. Sie müssen jährlich realistisch ermittelt werden.
· Im Falle eines gerechtfertigt hohen Stromverbrauches (z.B. bei dem Einsatz von Heizlüftern bei Heizungsausfall) sollten für Nachzahlungen einheitliche Wege für die Jobcenter definiert werden, diese z.B. als Härtefall durch Zuschüsse auszugleichen.
· Bei dezentraler Warmwassererzeugung (Boiler, Durchlauferhitzer) ist eine eigenständige jährliche Anpassung der Pauschalen in der Grundsicherung sinnvoll.
· Drohen aufgrund von Energie-Altschulden aus einem vorherigen Mietverhältnis (vor Beginn des Sozialleistungsbezugs) Sperren in der neuen Wohnung, obwohl dort die Abschläge regelmäßig gezahlt werden und keine Schulden entstanden sind, sollten durch die Transferleistungsträger für diese Schulden Kostenübernahmen, zumindest Darlehen gewährt werden. Bei Ankündigung einer Versorgungsunterbrechung gilt: Je zeitiger die Transferleistungsträger Kosten übernehmen, desto geringer können die Folgekosten ausfallen. Dabei ist eine Abwägung des individuellen Falls vorzunehmen. In Härtefällen (u.a. Bedarfsgemeinschaften mit minderjährigen Kindern, schutzbedürftige Personen) ist immer eine Kostenübernahme vorzusehen.
· In der Grundsicherung sollen Leistungen für die Erst- und Ersatzbeschaffung großer Haushaltsgeräte wie Waschmaschine oder Kühlschrank („weiße Ware“) vorgesehen sein, mit denen die Anschaffung energieeffizienter Großgeräte möglich ist. Bei einkommensarmen Haushalten oberhalb der Berechtigungsgrenze für Grundsicherungsleistungen sollten ebenfalls Zuschüsse für die Beschaffung dieser Geräte vorgesehen werden. Maßstab kann hier die Wohngeldberechtigung oder der Anspruch auf Kinderzuschlag sein.
· Nicht nur die Beziehenden von Grundsicherungsleistungen sind von Energieschulden und Zahlungsproblemen betroffen. Besonders für Schwellenhaushalte, die knapp oberhalb der Anspruchsberechtigung in der Grundsicherung liegen und die keine Transferleistungen in der Grundsicherung beziehen, besteht Handlungsbedarf bei den vorgelagerten Leistungen. Eine dauerhafte Energiekomponente für Heizkosten und Haushaltsenergie / Strom im Wohngeld könnte hier Entlastung schaffen. Diese sollte eine Anpassung an Veränderungen bei den Energiepreisen ermöglichen.
· Schuldnerberatung ist ein wesentlicher Baustein zur nachhaltigen Hilfe bei Zahlungsproblemen. Über § 16 a SGB II und die Zielgruppe Grundsicherungsbeziehende hinaus sollte regelhaft eine nachhaltige und bedarfsgerechte Finanzierung gewährleistet werden. Die Gruppe der Anspruchsberechtigten für die Schuldnerberatung darf nicht auf Anspruchsberechtigte nach SGB II und XII eingeschränkt werden.
3. Prävention: Hilfen zur Steigerung von Energieeffizienz und energiesparendem Verhalten
Ein Baustein zur Vermeidung von Überschuldung auf Grund von niedrigen Einkommen ist die Senkung des Energieverbrauchs. Hier bieten sich präventive Hilfen in den Bereichen verbrauchseffiziente Geräte, Gebäudesanierung und Energiesparberatung an. Ebenso ist eine Schuldnerund Budgetberatung zur Vermeidung einer neuen Sperre nötig.
Die bestehende steuerfinanzierte und für Leistungsempfänger von Grundsicherungsleistungen und Wohngeld an vielen Orten bestehende kostenlose Energieberatung sollte ausgebaut, planungssicher und nachhaltig angelegt werden. Die Beratung sollte flächendeckend auch für weitere Haushalte oberhalb der unmittelbaren Anspruchsberechtigung für Sozialleistungen zugänglich sein und sicher finanziert werden.
Einkommensarme Haushalte verfügen oft nicht über moderne und energiesparende Geräte. Aus klima- und sozialpolitischen Gründen wäre es wünschenswert, wenn sie verbrauchsintensive Altgeräte wie Waschmaschine oder Kühlschrank gegen moderne austauschen können, ohne eine zu hohe Eigenbeteiligung gewährleisten zu müssen. Diese ist ohnehin nur bei Schwellenhaushalten denkbar. Die Erfahrungen aus Projekten zur Energieeinsparung wie dem Stromsparcheck zeigen, dass auf regionaler Ebene individuelle Lösungen gefunden werden können. Diese Projekte brauchen ein ausreichendes Budget. Dabei müssen die Regelungen so ausgestaltet sein, dass Zuschüsse ihre Wirkung entfalten und nicht über eine Anrechnung bei den Sozialleistungen wieder aufgezehrt werden.
Bei Programmen zur energetischen Gebäudesanierung muss die Situation einkommensarmer Haushalte berücksichtigt werden. Es muss sichergestellt sein, dass auch diese Haushalte einen Vorteil von den Maßnahmen haben.
Auch schon beim Neubau von geförderten Wohnungen muss auf energieeffiziente Energieerzeugungssysteme geachtet werden. Ebenso kann die Kooperation mit einem Energieversorger im Rahmen eines „Mieterstrommodells“ helfen, die Stromkosten niedrig zu halten. So wird der in der Mietanlage verbrauchte Strom dort schon selbst mit regenerativen Energiequellen produziert. (https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/ElektrizitaetundGas/Verbraucher/Vertragsarten/Mieterst rom/Mieterstrom_node.html).
4. Umgang mit Energieschulden und Vermeidung von Energiesperren
Überschuldungstransparenz:
· Informationen zur Energielieferung und –abrechnung sowie bei drohenden Energiesperren sollten in einfacher und deutlicher Sprache sowie mehrsprachig vorliegen. Sie sollten mit leicht erreichbaren Beratungsangeboten (z.B. telefonisch) verknüpft sein und auch die Sperrkosten transparent machen.
· Betroffene sollten bei Zahlungsrückständen frühzeitig angesprochen und Kooperationsangebote zur Problemlösung gemacht werden. Wichtig ist ebenso eine frühzeitige Einbindung und Information der Sozialleistungsträger, um gemeinsame Lösungen zu finden.
· Im Falle von Nachzahlungen sollen Ratenzahlungen vereinbart werden. Die Raten müssen für einkommensarme Haushalte auch tatsächlich bezahlbar sein. Die gesetzlichen Pfändungsfreigrenzen müssen dabei geachtet werden.
Verbrauchstransparenz:
· Das Aufzeigen des tatsächlichen Verbrauchs und die Übersetzungshilfe in einen monetären Wert kann Verbraucher*innen zum einen beim Energiesparen unterstützen, zum anderen Haushalten bei der finanziellen Planung helfen, z.B. durch Aufkleber auf großen Geräten (mit aktuellen Durchschnittspreisen pro Stunde Nutzung) oder intelligente Messsysteme an Geräten und im Haushalt. Ebenso sollten Zählerablesungen in kürzeren Abständen und mit einfacheren Messgeräten erfolgen, um den Verbrauch besser überprüfen zu können.
5. Energiepreisgestaltung
Viele in Armut Lebende stecken in teuren Grundversorgungstarifen fest. Auch sie müssen Zugang zu günstigeren Strompreisen erhalten. Eine soziale Ausgestaltung der Energietarife ist nötig.
Auf der anderen Seite lassen sich immer mehr Unternehmen auf der Grundlage der entsprechenden gesetzlichen Ausnahmeregelungen von der EEG-Umlage befreien. In 2017 betraf dies bereits über 4000 Unternehmen. Darüber hinaus können energieintensive Unternehmen deutliche Rabatte auf ihren hohen Energieverbrauch erhalten.
Diese Einnahmeverluste gleichen die Stromanbieter über den Preis bei den privaten Haushalten wieder aus. Das heißt: die Armen finanzieren die Niedrigpreise für Unternehmen mit. Darum müssen diese Fehlanreize dringend überprüft und sozial ausgeglichen werden.
Die Energieversorgung muss wieder als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge begriffen werden, der eine starke öffentliche Verantwortung in diesem Bereich erfordert.“
Beschluss der Delegiertenkonferenz der Nationalen Armutskonferenz (nak) Berlin, 24. April 2018, Kontakt und Ansprechpartner: Michael David, Sprecher der AG Grundsicherung der nak Bild: aachener-zeitung.de