So steht es in der Bayerische Verfassung: „Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung. Die Förderung des Baues billiger Volkswohnungen ist Aufgabe des Staates und der Gemeinden“, heißt es in Artikel 106. Und Artikel 161, Absatz 2, besagt: „Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen.“
München ist die Stadt mit den höchsten Mieten in Deutschland. Viele Menschen können sich ihre Wohnungen dort nicht mehr leisten und viele, vor allem junge Menschen, können von der eigenen Wohnung nur träumen.
Zu Besuch bei Adriana, Marco, den Rudolphs und Wilhelm Kling.
Adriana Bil, 24 Jahre alt, hat gerade eine Mandelentzündung. Schon zum zweiten Mal in wenigen Wochen. Auf der großen Münchner Wohndemo Mitte September ging es los. Ihre Rede hielt sie noch durch, mit Mikro. Auch die Stimme hat mitgemacht.
„Wohnraum muss auch für junge Menschen bezahlbar sein“, hat Adriana vor dem Gewerkschaftshaus gefordert. Und: „Ein eigenes Leben braucht ein eigenes Wohnen.“ Und: „Die Mietpreisbremse ist löchrig wie ein Schweizer Käse!“ Sie hat erklärt, dass vor allem junge Berufstätige es schwer haben auf dem Münchner Wohnungsmarkt, weil ihre Arbeitsverträge meist befristet sind, Vermieter aber Leute in sicheren Berufsverhältnissen vorziehen. Sie hat gefordert, dass Betriebe, die junge Menschen ausbilden, auch für günstigen Wohnraum sorgen.
Sie lief mit, durch die halbe Stadt, wie 10.000 andere Menschen. „Miethaie zu Fischstäbchen“ stand auf dem Wagen, der durch die Schwanthalerstraße zog, vorbei an türkischen Cafés und Sprachschulen, Kinos, Sexshops, Bettlern und staunenden Passanten. Über die geschäftige Sonnenstraße zogen die Demonstranten weiter hinein ins Zentrum der Stadt, zur Oper und zum Nationaltheater, entlang der Maximilianstraße, dem teuersten Pflaster Münchens. Ein Weg durch arme und reiche Straßen, vorbei an billigen Bahnhofsabsteigen und Luxushotels, wie beim Monopolyspiel. Die Ungleichheit im gesellschaftlichen Zusammenleben: Sie spiegelte sich auch in der Route.
Nach knapp zwei Stunden gelangte man auf die für die Demonstration gesperrte Ludwigstraße, wo gefeierte wurde und Musik gemacht.
Dann ging Adriana Bil, ehrenamtliche Geschäftsführerin der ver.di Jugend München, nach Hause und legte sich ins Bett. Und man muss noch nie in einer Sechser-WG gewohnt haben, um zu begreifen, dass es wenig angenehm ist, an einem Samstagabend krank zu sein und müde, nur von einer dünnen Rigipswand vom gemeinsamen Wohnzimmer getrennt.
„Wir verstehen uns alle gut und versuchen, Rücksicht aufeinander zu nehmen“, sagt sie, räumt aber ein: „Manchmal ist das leider nicht möglich.“
Nur einen Zwischenmietvertrag
Die Wohngemeinschaft hat ein Haus für sich, Adrianas Zimmer befindet sich im Erdgeschoss, der Blick endet am Gartenzaun gegenüber. Familien leben hier, ältere Menschen. Kein Winkel, in dem das Leben tost. Aber 475 Euro warm für 15 Quadratmeter: Das ist für sie noch bezahlbar. Adriana hatte Glück, als geborene Münchnerin kennt sie viele Leute in der Stadt, Freunde haben ihr die WG vermittelt. Allerdings macht sie sich schon darauf gefasst, im Frühjahr wieder auf die Suche zu gehen. Denn sie hat nur einen Zwischenmietvertrag. Im Mai muss sie womöglich ausziehen.
„Natürlich hätte ich lieber was Eigenes, eine Wohngemeinschaft ist immer anstrengend, man muss sich arrangieren“, sagt die Studentin. „Ich würde auch gern in Schwabing wohnen oder in der Maxvorstadt. Hier am Stadtrand bin ich durchweg auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen, auch wenn es mal spät wird, weil ich mir trotz meiner beiden Nebenjobs ein Auto oder ein Taxi nicht leisten kann.“
Und doch: Sie hat es gut getroffen, viele Münchner Studenten ziehen gar nicht erst bei ihren Eltern aus, ein eigenes Zimmer ist einfach zu teuer. Studentenwohnheime gibt es zu wenige. Und eine Wohnung kann sich ohnehin kein junger Mensch leisten. Wer sich doch auf die Suche nach einem anständigen, bezahlbaren Dach über dem Kopf macht, braucht Nerven aus Stahl. Selbst wenn ein bisschen Geld vorhanden ist, geht man garantiert erstmal leer aus.
Zur Untermiete in Solln
Marco Wahl zum Beispiel, Sprecher der DGB-Jugend München. Er ist 28 Jahre alt und fest angestellt, eine eigene Wohnung zur Miete hat er noch immer nicht. Stattdessen lebt er zur Untermiete bei den Rudolphs, in einem einfachen Haus in Solln, in dem die Eltern drei Kinder groß zogen.
Die Kinder sind längst erwachsen, die Rudolphs sitzen mit Marco Wahl am Küchentisch, alle rauchen, man versteht sich. Der Altersunterschied spielt keine Rolle.
„Wir haben Marco gerettet“, scherzt Peter Rudolph, denn bevor Marco zu ihnen kam, verbrachte er einen langen Monat auf einem Münchner Zeltplatz. Im Zweimannzelt, klein, grün, stabil.
Mit Sommerurlaub hatte das Ganze allerdings nichts zu tun, es regnete durch in jenem August, das schlug auf die Stimmung, das Gedrängel beim Suchen im Zelt auch.
„Und als du einzogst, waren deine Sachen ganz feucht“, erinnert sich Peter Rudolph. „Weil in dem Keller, wo ich meinen Kram untergestellt hab‘, eine Leitung geplatzt war“, sagt Marco. Eine dieser Erfahrungen, die bleiben.
Dass er damals doch recht bald ein Zimmer fand, hat – was für eine Ironie! – mit den aberwitzigen Münchner Mieten zu tun. Denn die Rudolphs können sich ihr Haus nicht mehr leisten, seit die Kinder ausgezogen sind, Peter Rudolph seine Firma aufgab und in die Sicherheitsbranche wechselte. Also stellen sie die verwaisten Kinderzimmer unter „WG-Gesucht“ ins Netz. Seit sieben Jahren tun sie das.
Zwanzig Zimmersuchende melden sich regelmäßig noch am selben Tag, an dem eine Annonce rausgeht, erzählt Peter Rudolph, in den Tagen darauf seien es dann jeweils dreißig. Aus so vielen Bewerbern einen passenden Mitbewohner auszuwählen, ist nicht einfach. Aber die Zweck-WG läuft gut, und das, obwohl man sich ein einziges Bad teilt. „Es ist eine Symbiose“, sagt Peter Rudolph. „Jeder profitiert“, findet auch Marco. Er ist froh, dass die Rudolphs das Beste aus ihrer Situation machen. Besonders pingelig geht es anscheinend auch nicht zu. „Beim Putzplan“, sagt Marco freimütig, „bin ich das schwache Glied.“
Wegen Eigenbedarfs gekündigt
Lange wird das Zweck-WG-Idyll allerdings nicht mehr dauern. Zum ersten Juni 2019 wurde den Rudolphs gekündigt. Eigenbedarf. Sie müssen umziehen – nach all den Jahrzehnten, die sie in ihrem Haus verbracht haben.
Besonders günstig ist ihre Ausgangslage nicht. Mehr als tausend Euro können sie nicht zahlen, zwei Zimmer brauchen sie mindestens. Und natürlich wollen sie in München bleiben, ihre Kinder leben hier, ihre Enkelkinder, die Freunde und Bekannten.
Man kann das eine Katastrophe nennen – und zugleich versuchen, sich einen gewissen Optimismus zu bewahren. „Es muss klappen!“, sagt Andrea Rudolph darum energisch. „Irgendein Bett findet sich immer!“ Immerhin: Wenn sie was Neues haben, können sie – das hat der Vermieter zugesichert – innerhalb von vier Wochen ausziehen.
Marco dagegen, der bei der Stadt angestellt ist und in der Bücherei arbeitet, hofft darauf, mit seiner Freundin in eine der wenigen geförderten städtischen Wohnungen einziehen zu können. Für den regulären Wohnungsmarkt verdient er zu wenig und Lara studiert noch. „Mit 1.800 Euro netto im Monat machst du keine großen Sprünge“, sagt er. Also hat er eine Woche zuvor den Antrag auf Zugang zu einer Wohnungsbörse der Stadt gestellt – der erste von vielen Schritten zur eigenen Mietwohnung. Wie groß seine Chancen sind, kann er nicht abschätzen.
„Ich hab gehört, auf jede Sozialwohnung kommen hundert Bewerber“, sagt er. Andererseits hätten Freunde, die ebenfalls im öffentlichen Dienst sind, sehr schnell etwas bekommen. Hoffnung und Verzweiflung – sie liegen sehr nah beieinander.
Klar ist: Marco wünscht sich mehr Unabhängigkeit. Und Unabhängigkeit hat nun mal auch damit zu tun, in einer eigenen Wohnung zu leben. Sich einzurichten und seine eigene Welt zu schaffen, zusammen mit dem Menschen, den man liebt. Wo und wie die Wohnung sein soll? „Wir sind da relativ schmerzfrei“, sagt Marco. Besondere Ansprüche kann man sich ohnehin nicht erlauben, denn der Markt an bezahlbaren Wohnungen ist enger denn je.
Profitieren von der Not der anderen
Und das Problem ist hausgemacht. Trägheit im sozialen Wohnungsbau. Ein entfesselter Markt. Dreiste Bodenspekulation, die den Normalbürger aus seiner Heimatstadt vertreibt. Alle am Tisch bringt das in Rage.
„Ich finde es eine gnadenlose Ungerechtigkeit! Die einen profitieren von der Not der anderen – und die Regierung tut nichts dagegen!“, schimpft Rudolph. Der soziale Wohnungsbau sei komplett gescheitert, findet Marco. „Aber nicht nur der!“, sagt Rudolph, „selbst die mit mittleren Einkommen haben es heute schwer!“
Tatsächlich ächzt die sogenannte Weltstadt mit Herz unter den deutschlandweit höchsten Mieten. Renovierungen, Luxussanierungen, die Verwandlung von Mietwohnungen in Eigentum, eine irrwitzige Spekulation mit Boden und eine Stadtregierung, die vieles tut, ohne Durchschlagendes zu erreichen – dagegen gehen inzwischen auch die Bewohner aus den gehobenen Altbauvierteln auf die Straße.
Wer noch nicht angekommen ist, fragt sich, ob er hier jemals Fuß fassen wird. Wer hier Fuß gefasst hat, weiß nicht, ob er bleiben kann. Die Ungewissheit ist schwer zu ertragen. In einem derart überhitzten Markt ist auch die Position derer schwach, die eine Wohnung ergattert haben.
Denn wer wagt schon aufzumucken, wenn die Küche nicht beheizbar ist? Lieber verzichtet man auf den Einbau einer Heizung. Der Vermieter könnte womöglich auf die Idee kommen, eine Grundsanierung durchführen zu lassen und die Kosten dafür umzulegen. Dann wäre auch die schöne, aber zugige Altbauwohnung endgültig unbezahlbar.
Wilhelm Kling dagegen gehört zu den ganz wenigen Glücklichen, für die eigentlich alles in Butter sein müsste. Das Haus, in dem der Vorsitzende der ver.di-Senioren seit 1977 lebt, leuchtet in schönstem Hellblau, Hecken begrenzen ein Wiesenstück. Die ersten gelben Blätter treiben knisternd über den Boden, aber auf der anderen Straßenseite sitzen noch ein paar Leute vor der Brotmanufaktur in der Herbstsonne für ein spätes Frühstück.
Kling ist im Besitz eines Dauermietvertrags der Wohnungsbaugenossenschaft Gewofag, und schon das Wort „Dauermietvertrag“ klingt hier in München so warm und geborgen wie in anderen Landstrichen vielleicht „Kaminfeuer“ und „Kaschmirschal“.
Von Anfang an hat sich Kling für die Wohnung, die er unrenoviert übernahm, verantwortlich gefühlt. Er hat Balken hochgezogen und eine Holzdecke eingebaut, er hat das alte Linoleum abgezogen und Holzdielen freigelegt. Er hat das Bad renovieren lassen, alles auf eigene Kosten.
Mietwohnungen, die vererbt werden
Da war eine Loyalität zwischen der Genossenschaft und ihren Bewohner damals, sagt er, man habe einander vertraut. Inzwischen ist die damalige Heimag in der Gewofag aufgegangen, mit über 35.000 Wohnungen Münchens größte Vermieterin.
Wer eine solche Wohnung hat, vererbt sie an Kinder und Kindeskinder. Alle anderen können nur davon träumen, derart sicher und günstig zu wohnen. Aber Kling findet: So behaglich wie zu Heimag-Zeiten geht es schon lange nicht mehr zu. Immer wieder werde versucht, nötige Renovierungen oder unnötige Modernisierungen auf den Mieter umzulegen. Die Fenster etwa, die vor rund 14 Jahren ersetzt wurden: Kling bestand darauf, die alte Miete trotzdem weiter zu zahlen. Oder der Versuch, Balkone zu bauen, was die Miete um 120 Euro pro Monat verteuert hätte: Die Mieter versammelten sich im Pfarrsaal, verbündeten sich, leisteten Widerstand – der Plan wurde fallen gelassen.
Auch als in der Straße Tempo 30 eingerichtet wurde, wollte die Genossenschaft eine Mieterhöhung durchsetzen. Kling wandte sich an die Presse, „dann haben sie´s sein lassen“. Ein Streithasl sei er, sagt er, und spaßt: „Ich werd’ leicht bösartig.“
Wenn die Rente nicht fürs Wohnen und nicht fürs Leben reicht
Gegen drei Mieterhöhungen sei er schon erfolgreich angetreten, die Gewerkschaft hat ihm eine gute Rechtsschutzversicherung vermittelt. Es geht ihm ums Prinzip. „Die Renten bleiben gleich, die Miete steigt, irgendwann kann man sich selbst eine Genossenschaftswohnung nicht mehr leisten.“ Er denkt an all die Leute in den Pflegeberufen, deren Rente mal hinten und vorne nicht reichen wird. Nicht fürs Wohnen. Nicht fürs Leben. „Es ist ein Politikum.“
Kling, der sich noch an Zeiten erinnern kann, als es „Glasscherbenviertel“ (Arbeiterviertel) gab in der Stadt, würde in Sachen Wohnen manchmal ganz gern die Zeit zurückdrehen. „Für einen Neumieter mit Kind in der Genossenschaftswohnung wünsche ich mir, dass es so wird, wie früher. Wo man sozialverträglich wirtschaftete, mit den Mietern in persönlichem Kontakt war, zur Zufriedenheit beider Seiten.“ Er wünscht sich auch viel mehr Genossenschaftswohnungen, aber das versteht sich von selbst.
Dann zitiert er die Bayerische Verfassung. In letzter Zeit wird häufig daraus zitiert, auf Veranstaltungen, in Zeitungsartikeln.
„Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung. Die Förderung des Baues billiger Volkswohnungen ist Aufgabe des Staates und der Gemeinden“, heißt es in Artikel 106. Und Artikel 161, Absatz 2, besagt: „Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen.“
Es ist so klar, so sozial, so modern, was dort steht. Von der Umsetzung der beiden Artikel ist man derzeit allerdings himmelweit entfernt.
Quelle: ver.di Bild: Stadtmission Nürnberg