Bei Karl Marx hießen sie „industrielle Reservearmee“: die Arbeitslosen, die jederzeit bereitstehen, eine Arbeit anzunehmen. Diese Reservearmee sorge dafür, dass die Arbeitnehmer keine übermäßig hohen Lohnforderungen stellen, aus Angst vor Arbeitslosigkeit.Sprachgebrauch angelsächsischer Ökonomen heißt das gleiche Konzept NAIRU – als Abkürzung für Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment. Zu Deutsch: die Arbeitslosenrate, die gerade hoch genug ist, eine Inflationsbeschleunigung zu verhindern. Da die Wirkung der Arbeitslosigkeit auf die Inflation über die Lohnsteigerungen läuft, heißt das Konzept bei der EU-Kommission konequenter Weise gleich NAWRU. Das W steht für Wages, englisch für Löhne. NAWRU ist also die Arbeitslosenquote, die hoch genug ist, dass die Lohnsteigerungen nicht zunehmen.In den Fachausdrücken NAIRU und NAWRU ist die Einräumung enthalten, dass es bei der Anti-Inflationspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) traditionell darum geht, dafür zu sorgen, dass die Arbeitnehmer im Machtkampf mit den Arbeitgebern um höhere Löhne nicht zu erfolgreich sind. Die EZB würde das nie so offen einräumen, weil sie die Illusion wahren will, sie sei eine unpolitische Institution, die man schadlos ohne Aufsicht durch Volksvertreter ihr Werk verrichten lassen kann.
Seit einiger Zeit scheint der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflaiton allerdings nicht mehr richtig zu funktionieren. Trotz deutlich gesunkener Arbeitslosigkeit steigen seit der Finanzkrise in vielen Ländern die inflationsbereinigten Löhne viel weniger, als man nach früheren Erfahrungen erwarten würde. Daraus entsteht für Notenbanken die unbequeme Situation, dass auch ein jahrelanger Aufschwung nichts daran änderte, dass die Inflation unter ihrem Zielwert blieb. Die Europäische Zentralbank rechnet damit, bis mindestens 2021 ihr selbst gestecktes Inflationsziel von etwas unter zwei Prozent nicht zu erreichen. Die einsetzende wirtschaftliche Flaute macht die Zielerreichung noch unwahrscheinlicher.
Unterbeschäftigungsindex löst das Rätsel
Das britisch-amerikanische Ökonomenduo David Bell und David Blanchflower hat den Bell-Blanchflower-Index der Unterbeschäftigung entwickelt. Mit diesem können sie zeigen, dass es auch bei niedrigen Arbeitslosenquoten ein erhebliches – und schwankendes – Maß an unfreiwilliger Unterbeschäftigung geben kann. Diese kann die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer ähnlich schmälern wie Arbeitslosigkeit.
In ihrem Beitrag mit dem Titel „Underemployment in the US and Europe“, der im Industrial and Labor Relations Review erscheint, haben die beiden ihre Analyse von den USA und von Großbritannien auf 25 kontinentaleuropäische Länder ausgeweitet. Sie stellen fest, dass zwar die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern wieder auf das Niveau von vor der Finanzkrise gefallen ist, die Unterbeschäftigung aber nicht.
Das erklärt für sie, warum sich der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Lohnsteigerungen scheinbar aufgelöst hat. Die beiden Ökonomen zeigen, dass der Zusammenhang wieder da ist, wenn man die unfreiwillige Arbeitslosigkeit als Summe der Stunden misst, die Arbeitslose und Beschäftigte zu geltenden Löhnen gerne mehr arbeiten würden.
Im vorherrschenden Standardmodell der Ökonomen wird davon ausgegangen, dass die Arbeitnehmer aus einer Vielzahl angebotener Lohn-Arbeitszeit-Kombinationen die passende aussuchen. Alle würden dann so viel arbeiten, wie sie möchten. In der Praxis haben die Beschäftigten aber nur die Auswahl zwischen einer sehr begrenzten Anzahl an solchen Kombinationen. Denn Pendeln oder ein Arbeitsplatzwechsel sind teuer und Arbeitgeber mit freien Stellen und passende Arbeitnehmer müssen sich erst einmal finden. Deshalb gibt es viele Beschäftigte, die gerne weniger oder mehr arbeiten würden. Viele müssen sich in Sachen Arbeitszeit nach den Vorgaben der Arbeitgeber richten.
Grundlage der Diagnose sind große Bevölkerungsumfragen, bei denen die Teilnehmer gefragt werden, wie viel sie arbeiten, und wie ihre Idealarbeitszeit bei gegebenem Stundenlohn wäre. Die unfreiwillige Unterbeschäftigung in Stunden wird aufsummiert, die Überbeschäftigung derer, die gerne weniger arbeiten würden, wird davon abgezogen. Hinzugezählt wird die geschätzte Anzahl der Stunden, die die registrierten Arbeitslosen erfahrungsgemäß arbeiten würden, wenn ihnen Arbeitsplätze angeboten würden, die zu ihrer Qualifikation passen. Fast überall ist die prozentuale Unterbeschäftigung deutlich größer als die Arbeitslosigkeit.
Die Unterbeschäftigten kann man als Reservearmee betrachten, die es Unternehmen ermöglicht, Lohnforderungen der voll Beschäftigten zu widerstehen.
Weil die Unterbeschäftigung nach der Finanzkrise deutlich langsamer zurückging als die offizielle Arbeitslosigkeit, weitete sich der Abstand zwischen der so gemessenen Arbeitslosigkeit und der Arbeitslosenquote in vielen Ländern deutlich aus, in Portugal und Frankreich auf 8,9 beziehungsweise 6,5 Prozentpunkte. In Spanien war die Unterbeschäftigung 2016 mit 23 Prozent noch zweieinhalbmal so hoch wie zum Tiefpunkt 2007. Auch in Italien, Portugal und Irland war sie 2016 noch mehr als doppelt so hoch wie vor der Krise.
Das Vorhandensein vieler unterbeschäftigter Mitarbeiter im Unternehmen sorge dafür, dass die anderen Arbeitnehmer im Unternehmen und die Neuzugänge aus dem Lager der Arbeitslosen keine hohen Lohnforderungen durchsetzen können, erklären Bell und Blanchflower die hartnäckig geringen Lohnsteigerungen. „Wenn die Unterbeschäftigung hoch ist, können die Arbeitgeber im Aufschwung den bestehenden Arbeitnehmern eine Arbeitszeitverlängerung zu unverändertem Stundenlohn anbieten“, erläutern sie. Ein Herausgeber der Zeitschrift, den sie zitieren, drückt es klarer aus: „Die Unterbeschäftigten kann man als Reservearmee betrachten, die es Unternehmen ermöglicht, Lohnforderungen der voll Beschäftigten zu widerstehen.“
Sonderfall Deutschland
Eine gewichtige Ausnahme von der beschriebenen Entwicklung ist Deutschland. Hier ging die Rate der Unterbeschäftigung ab 2004 – abgesehen von einem kurzen Ausschlag nach oben 2009 – stetig zurück. Von mehr als 13 Prozent fiel sie bis 2016 auf 5,8 Prozent. Passend dazu gehört Deutschland auch zu den ganz wenigen Ländern, in denen die inflationsbereinigten Lohnsteigerungen nach der Finanzkrise höher waren als vor der Krise. In Anbetracht der deutlich besseren wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland war der Vorsprung bei den Lohnzuwächsen aber gering. Der Logik von Bell und Blanchflower zufolge könnte das mit dem zunehmend gespaltenen Arbeitsmarkt zu tun haben, der mit dem Aufbau von prekären Beschäftigungsverhältnissen und Niedriglohnbeschäftigung einherging. Angst vor der Arbeitslosigkeit wäre dann als Disziplinierungsinstrument durch Angst vor dem Abstieg in prekäre Beschäftigung abgelöst.
Der Artikel erschien zuerst auf http://norberthaering.de/und wird hier mit freundlicher Genehmigung gespiegelt. Bild: köln-dgb.de