„Ein Klassenkrieg, den die Arbeiterklasse verloren hat“ Die Entwicklung des Kapitalismus in China – ein Beitrag zur LP21-Debatte

Von Thomas Sablowski

Ich teile die Einschätzung von Winfried Wolf (Heft 47, Lunapark21), dass in China heute die kapitalistische Produktionsweise dominiert und man nicht von einem sozialistischen Land sprechen kann, nur weil dort eine nominell kommunistische Partei regiert. Er hat die Frage aufgeworfen, „wann es in der jüngeren Entwicklung der chinesischen Gesellschaft zu einem Umschlag von Quantität in die neue Qualität kam“, wann also „die von Parteiführer Deng angeschobenen ‚Reformen‘ mit ihren kapitalistischen Elementen den nichtkapitalistischen Grundcharakter der Gesellschaft aufgehoben haben“ (ebd., 42). Auf diese Frage will ich im Folgenden eingehen. Ich stimme auch Werner Rügemer (2019) zu, dass es nicht genügt, zu konstatieren, dass China ein kapitalistisches Land sei. Die konkrete Gestalt des Kapitalismus ist für die Lebensbedingungen der beherrschten Klassen von großer Bedeutung und muss auch genau analysiert werden, um eine angemessene, an die jeweiligen nationalen Bedingungen angepasste emanzipatorische Strategie und Taktik zu entwickeln. Ich sehe allerdings die Entwicklung des Kapitalismus in China nicht so positiv wie Rügemer. Auch das möchte ich im Folgenden kurz ausführen.

Nach Maos Tod 1976 wurden seine Witwe und andere führende Maoisten kaltgestellt. 1978 gelangte Deng Xiaoping an die Spitze der Partei und leitete die so genannte Reform- und Öffnungspolitik ein, mit der die Planwirtschaft schrittweise in eine Marktwirtschaft umgewandelt und das Land für ausländisches Kapital geöffnet wurde, um die Entwicklung der Produktivkräfte zu beschleunigen. Der Reformprozess begann zunächst in der bis Ende der 1970er Jahre weitestgehend kollektivierten Landwirtschaft. Der Boden blieb zwar auf dem Papier Eigentum der Dorfgemeinschaften, doch die Volkskommunen und Produktionsbrigaden wurden aufgelöst und das Land wurde nun den einzelnen bäuerlichen Haushalten zugewiesen, die damit eigenverantwortlich wirtschaften konnten bzw. mussten. Dadurch konnte die landwirtschaftliche Produktion zunächst stark gesteigert werden. Ohne eine Veränderung der Produktionsmethoden blieb dieser Effekt der stärkeren Eigeninitiative allerdings begrenzt. Letztlich waren viele der neuen, kleinen Familienbetriebe nicht überlebensfähig bzw. darauf angewiesen, dass Familienmitglieder sich zusätzlich als Lohnarbeiter verdingten. Viele Bauern traten ihr Land an Agrarkapitalisten ab. Das Resultat der Auflösung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und der nachfolgenden Konzentration des Besitzes an Boden war eine enorme Freisetzung von Arbeitskräften und eine Trennung vieler Bauern von ihren Produktionsmitteln. Dadurch bildete sich eine ganz neue Klassenstruktur heraus. Dieser Prozess glich der von Marx beschriebenen so genannten „ursprünglichen“ Akkumulation, aber im Unterschied zu England wiederholte sich dieser Prozess in China in viel größerem Maßstab und betraf Hunderte Millionen Menschen, die ihre Lebensgrundlage auf dem Land verloren.

Auf die Reformen in der Landwirtschaft folgte die Einrichtung von vier Sonderwirtschaftszonen in Shenzhen, Zhuhai, Shantou und Xiamen, um ausländisches Kapital für die exportorientierte Produktion anzuziehen. Die Sonderwirtschaftszonen wurden 1984 auf 14 Küstenstädte ausgedehnt. Die ausländischen Direktinvestitionen in China wuchsen von 1,3 Mrd. US-Dollar im Jahr 1984 auf 33,9 Mrd. US-Dollar im Jahr 1990. Die Sonderwirtschaftszonen brauchten eine große Masse an billigen Arbeitskräften. Dies wiederum erforderte ein dereguliertes Arbeitsregime und einen flexiblen Arbeitsmarkt. 1982 wurde das Streikrecht aus der Verfassung gestrichen. 1983 verkündete die Regierung das Ende des Prinzips der „eisernen Reisschale“, also der egalitären, umfassenden sozialen Absicherung. Die Nutzung von Leiharbeitern bzw. befristeten Arbeitsverträgen (contract workers) wurde gefördert. 1987 lag die Zahl der contract workers bereits bei sechs Millionen oder fünf Prozent der Beschäftigten in der Industrie. Sie stieg innerhalb der nächsten zehn Jahre auf 52 Prozent Beschäftigten. 1993 lag die Zahl der Wanderarbeiter aus den ländlichen Gegenden alleine in der Provinz Guangdong bei 10 Millionen (Li 2016, 19; Lin 2020, 35). Die Wanderarbeiter waren gezwungen, niedrige Löhne und miserable Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, da die Konkurrenz unter ihnen hoch und ihre Verhandlungsmacht gering war. Frühkapitalistische Ausbeutungsbedingungen wie etwa überlange Arbeitszeiten wurden nun zum Charakteristikum des neuen Exportsektors.

Die schnell wachsenden Joint Ventures mit ausländischem Kapital stellten auch die Staatsbetriebe in Frage. Versuche, in den Staatsbetrieben eine „wissenschaftliche Betriebsführung“ im kapitalistischen Sinne zu installieren, also die Arbeitsintensität zu steigern und die Kontrolle der Arbeiter über den Arbeitsprozess zu reduzieren, stießen auf den Widerstand der Arbeiter. Die Beschäftigungssicherheit und die soziale Sicherung der Arbeiter in den Staatsbetrieben erwiesen sich dabei als Basis ihrer Verhandlungsmacht. Um die „Effizienz“ der Betriebe im kapitalistischen Sinne zu steigern, beschloss die KPCh, die kleineren Staatsbetriebe zu privatisieren und nur große Staatsbetriebe in den Schlüsselsektoren zu behalten. 1986 wurde ein Gesetz eingeführt, das den Bankrott von Staatsbetrieben regelte und die Auflösung unprofitabler Staatsbetriebe ermöglichte.

Die Reform- und Öffnungspolitik verschlechterte zunächst die chinesische Handelsbilanz, da die Importe von Produktionsmitteln, aber auch von Konsumgütern für die entstehende Kapitalistenklasse und die wachsende Mittelklasse stark zunahmen. Das Wachstum der Exporte hielt mit dem Wachstum der Importe zunächst nicht Schritt, so dass China in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wachsende Leistungsbilanzdefizite realisierte und mit einer wachsenden Auslandsverschuldung konfrontiert war. In dieser Situation entschied sich Zhao Ziyang, der damalige Generalsekretär der KPCh, für die Liberalisierung der Preise. Dieser Reformplan destabilisierte die chinesische Wirtschaft zusätzlich. 1988 stieg die Inflationsrate auf 21 Prozent. Die Unzufriedenheit mit der steigenden Inflation, der zunehmenden Korruption und Plünderung des Staatseigentums führte 1989 zur politischen Krise. Arbeiter waren an den Protesten auf dem Tienanmen-Platz in Peking beteiligt und verlangten weiterhin Beschäftigungssicherheit, die nun durch die marktwirtschaftlichen Reformen bedroht wurde. Die Proteste wurden bekanntlich gewaltsam niedergeschlagen (Li 2016, 19f; Lin 2020, 33ff).

1992 akzeptierte der 14. Parteikongress Chinas Dengs Theorie vom „Sozialismus mit chinesischen Charakteristika“ und proklamierte die „sozialistische Marktwirtschaft“ als das Entwicklungsmodell Chinas. Im Grunde verständigte sich der 14. Parteikongress damit auf den Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise, wenn auch in verklausulierter Form (Li 2016, 20). Bis Ende der 1990er Jahre wurden die meisten Staatsbetriebe privatisiert. Die verbleibenden großen Staatsbetriebe wurden nun im kapitalistischen Stil geführt. Der Anteil der in Staatsbetrieben Beschäftigten sank von 113 Millionen im Jahr 1995 auf 60 Millionen im Jahr 2017. Der Übergang vom System der lebenslangen Beschäftigungssicherheit zum System des Heuerns und Feuerns war der wichtigste Einschnitt für die chinesische Arbeiterklasse in der Reformära. Die Reformen bedeuteten insgesamt einen radikalen Bruch im Charakter des chinesischen Staates und seiner Beziehung zur Arbeiterklasse. Die Arbeitskraft wurde wieder in eine Ware verwandelt – die zentrale Bedingung für kapitalistische Produktionsverhältnisse. An die Stelle der „eisernen Reisschale“, der lebenslangen Beschäftigungsgarantie und der Sozialleistungen von der Wiege bis zur Bahre mit einer relativ geringen sozialen Ungleichheit trat ein kapitalistischer Arbeitsmarkt mit einem großen ungeschützten informellen Sektor. Proteste der Arbeiter blieben nicht aus. Nach einer offiziellen, konservativen Schätzung beteiligten sich z.B. alleine 1995 etwa 1,1 Millionen Menschen in mehr als 30 Städten an Protesten. 1998 stieg die Anzahl der an Protesten Beteiligten auf 3,6 Millionen (Li 2016, 20; Lin 2020, 35ff; China Statistical Yearbook 2018).

Nach Schätzungen wurden durch den Prozess der Privatisierung und Liberalisierung ehemals staatliche und genossenschaftliche Vermögenswerte im Wert von 5 Billionen US-Dollar an Kapitalisten mit engen Verbindungen zur Regierung übertragen. 2006 gab es in China 3200 Personen mit einem persönlichen Vermögen von jeweils mehr als 15 Millionen US-Dollar. 2900 von ihnen waren Kinder hochrangiger Partei- und Staatsfunktionäre. Ihr kombiniertes Vermögen wurde auf 3 Billionen US-Dollar geschätzt, was damals etwa der Höhe des chinesischen Bruttoinlandsprodukts entsprach. Nach einem anderen Bericht von 2013 beliefen sich „graue Einkommen“ aus der Korruption und dem Diebstahl öffentlicher Vermögenswerte auf ca. 1 Billion Dollar oder 12 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts von 2011. Im Oktober 2012 meldete die <I>New York Times<I>, dass die Familie des früheren Ministerpräsidenten Wen Jiabao Vermögen im Wert von mindestens 2,7 Milliarden US-Dollar akkumuliert hatte. Der Bericht machte klar, dass an der Korruption und dem Diebstahl öffentlichen Vermögens auch die höchsten Ränge der chinesischen Partei- und Staatsführung beteiligt sind (Li 2016, 34f). 2001 kündigte der damalige Präsident Jiang Zemin an, dass die KPCh zukünftig auch Unternehmer als Parteimitglieder aufnehmen werde. Das Vermögen der 70 reichsten Delegierten des Nationalen Volkskongresses stieg auf 89,8 Mrd. US-Dollar im Jahr 2011. Unterdessen war die Zahl der Arbeiter und Bauern im Nationalen Volkskongress von 51,1 Prozent im Jahr 1975 auf 4 Prozent im Jahr 2003 gesunken (Lin 2020, 35f).

China trat im Jahr 2001 nach langen Verhandlungen der WTO bei, wurde voll in die Weltwirtschaft integriert und zentraler Standort für arbeitsintensive und exportorientierte Produktion. 2003 überholte China die USA als Hauptempfängerland von ausländischen Direktinvestitionen. Der Anteil Chinas an den weltweiten Exporten stieg von 1,8 Prozent im Jahr 1990 auf 11,1 Prozent im Jahr 2012. Dabei wuchs die Zahl der Wanderarbeiter von 84 Millionen im Jahr 2001 auf 274 Millionen im Jahr 2015. Eine Untersuchung in der Provinz Guangzhou, dem wichtigsten Zentrum der exportorientierten Produktion, kam 2003 zu dem Ergebnis, dass zwei Drittel der Arbeiter länger als acht Stunden pro Tag arbeiteten und an den Wochenenden keine freien Tage hatten. Manche Arbeiter arbeiteten bis zu 16 Stunden pro Tag. Eine andere neuere Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass die einheimischen privaten Unternehmen im Durchschnitt Löhne zahlen, die 30-32 Prozent unter dem „living wage“ liegen, der für eine vierköpfige Familie in den chinesischen Städten mindestens notwendig ist. Dies ist die Basis für die hohen Profitraten in China und für die Anziehung des Kapitals aus dem Ausland. Etwa 200 Millionen Arbeiter arbeiten unter gefährlichen Bedingungen (Li 2016, 21, 28; Lin 2020, 38). Hart-Landsberg (2011) spricht von 700.000 Arbeitsunfällen mit 100.000 Toten pro Jahr.

Parallel zur Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse und trotz zahlreicher Gesetze, die darauf zielten, die Arbeitsbeziehungen zu stabilisieren und Konflikte in rechtliche Bahnen zu lenken, entfaltete sich eine neue Welle von Arbeitskämpfen seit Mitte der 2000er Jahre, jetzt im Zentrum der neuen Industrien, in den privaten Fabriken der Küstenregionen. Ausbleibende Lohnzahlungen, miserable Arbeits- und Lebensbedingungen, Übergriffe des Managements, Arbeitsunfälle und niedrige Löhne waren die gängigsten Gründe für Arbeitskämpfe, die nun vor allem von den Wanderarbeitern aus dem ländlichen Raum geführt wurden. Die Zahl der offiziell erfassten Arbeitskonflikte (dazu zählen nicht nur Streiks) stieg von 8.000 im Jahr 1993 auf mehr als 80.000 im Jahr 1995 am Beginn der Reform der Staatsunternehmen und kletterte dann weiter auf 850.000 im Jahr 2012, nachdem sich China zur „Werkbank der Welt“ entwickelt hatte. Nach einer unabhängigen Quelle wurden im Jahr 2015 2774 Streiks gezählt, doppelt so viele wie im Vorjahr (Lin 2020, 38f).

Durch die – illegalen – Streiks konnten die Arbeiter durchaus Erfolge erzielen. Eine Streikwelle im Jahr 2010 in der Automobil-, Textil- und Elektronikindustrie mit Millionen streikenden Arbeitern führte etwa zur sukzessiven Anhebung der regional differenzierten staatlichen Mindestlöhne. So verdoppelte sich der Mindestlohn in Shenzhen von ca. 150 US-Dollar pro Monat im Jahr 2010 auf ca. 301 US-Dollar pro Monat im Jahr 2014. Auch durch weitere Streiks in den Jahren 2011-2013 erreichten Arbeiter einzelner Unternehmen signifikante Lohnzuwächse. Während die Lohnquote im Zuge der Privatisierung von 31 Prozent im Jahr 1990 auf 23 Prozent im Jahr 1997 sank, stieg sie bis 2012 wieder auf 30 Prozent. Dies verdeutlicht gut die sich verändernden Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen (Li 2016, 29ff).

Die chinesische Regierung bemühte sich durch eine Vielzahl von Maßnahmen, die Konflikte einzudämmen und zu entschärfen. 1992 wurde ein Gewerkschaftsgesetz erlassen, mit dem die staatlichen Gewerkschaften auf ihre neue Rolle als Vermittler in Konflikten zwischen den Beschäftigten und dem Management vorbereitet werden sollten. Allerdings ist es den Gewerkschaften kaum gelungen, diese Funktion zu erfüllen. Ab 2003 wurde eine Reihe von Wirtschafts- und Sozialreformen durchgeführt, unter anderem eine Rentenreform, die die Folgen der Beschäftigungsunsicherheit abmildern sollte. 2008 wurden drei weitere wichtige Gesetze erlassen: Das Arbeitsvertragsgesetz, das Beschäftigungsförderungsgesetz und das Gesetz zur Mediation und Schlichtung bei Arbeitskonflikten. Am wichtigsten war das Arbeitsvertragsgesetz, das darauf zielte, kurzfristige Verträge und Leiharbeit zu begrenzen und somit der sinkenden Beschäftigungssicherheit entgegenzuwirken (Lin 2020, 40).

Die Unfähigkeit der offiziellen Gewerkschaften, sich zu einer echten Interessenvertretung der Lohnabhängigen zu entwickeln, führte dazu, dass an manchen Orten lokale Untergrundgewerkschaften entstanden. Außerdem füllten Nichtregierungsorganisationen, die sich auf die Arbeitsverhältnisse konzentrierten, zum Teil die Lücke. Diese arbeiten allerdings in einem halblegalen Bereich unter strenger Beaufsichtigung des chinesischen Staates. Die Regierung hat in den letzten Jahren zunehmend ausgefeilte Methoden der Kooptation und Repression entwickelt, um die Tätigkeit der NGOs und die Entwicklung einer unabhängigen Arbeiterbewegung einzudämmen (vgl. Lin 2020, 41).

Li (2016, 21) bezeichnet die Periode der Reform- und Öffnungspolitik der KPCh als Klassenkrieg, den die Arbeiterklasse verloren hat. China konnte durch die Reform- und Öffnungspolitik zwar seine Position in der Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung verbessern, doch dies kam innerhalb der sich ausdifferenzierenden Klassenstruktur Chinas weniger dem Proletariat und den Kleinbauern, sondern vor allem den wachsenden neuen Mittelklassen und der neu entstehenden Bourgeoisie zugute. Die folgende Tabelle gibt einen Eindruck von der Transformation der chinesischen Klassenstruktur.

Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung in China 1990-2012 (in Millionen Personen)

1990 1995 2000 2005 2010 2012
Landwirtschaftliche Produzenten 381 349 355 330 276 254
Halbproletarische Arbeiter auf dem Lande und Wanderarbeiter 104 173 192 207 242 263
Städtische formelle Lohnarbeiter 103 113 116 126 125 109
Techniker und andere hochqualifizierte lohnabhängig Beschäftigte 17 19 22 32 41 47
Partei- und Staatsbürokraten 9 10 11 12 14 15
Städtische Selbständige 7 16 21 28 45 56
Private Unternehmer, Kapitaleigner 0 1 4 11 18 22
Erwerbslose 6 8 19 15 23 22
Erwerbsbevölkerung insgesamt 653 689 740 761 784 789
Quelle: Li 2016, 25.

Es wird häufig darauf verwiesen, dass in China die absolute Armut von Hunderten von Millionen Menschen überwunden wurde. Allerdings geschah dies um den Preis einer wachsenden sozialen Ungleichheit. Die Ergebnisse der Streiks des letzten Jahrzehnts zeigen freilich auch, dass die chinesische Arbeiterklasse stärker wird. Möglicherweise wird sie sich zukünftig nicht auf ökonomische Forderungen beschränken, sondern auch politische Forderungen stellen.

Es ist nicht überraschend, dass das chinesische Entwicklungsmodell für viele Länder der kapitalistischen Peripherie eine hohe Attraktivität hat. Allerdings dürfte es kaum übertragbar oder kopierbar sein, da andernorts die spezifischen nationalen und historischen Voraussetzungen – die vorangegangene Agrarrevolution, die große Bevölkerungszahl, die relativ große Autonomie des Staates gegenüber den sozialen Klassen etc. – fehlen. Trotz aller Fortschritte – und wegen ihnen – ist der Kapitalismus in China durch eine enorme strukturelle Heterogenität gekennzeichnet. Trotz seiner fortschreitenden Zerstörung umfasst der kleinbäuerliche Sektor mit seinen traditionellen Produktionsmethoden immer noch Hunderte Millionen Menschen. Hunderte Millionen Wanderarbeiter leiden unter gleichsam frühkapitalistischen Ausbeutungsmethoden mit überlangen Arbeitszeiten, despotischen Fabrikregimen und gefährlichen Arbeitsbedingungen. Gegen die existierenden Arbeitsgesetze wird permanent in großem Maßstab verstoßen. Gleichzeitig werden Proteste, Streiks und Ansätze autonomer Organisierung immer wieder brutal unterdrückt. Diese Art des autoritären Kapitalismus ist sicherlich keine Alternative zu den westlichen Kapitalismen. Dass all dies unter der Regierung einer „kommunistischen“ Partei geschieht, ist vielmehr eine schwere Hypothek für die internationale Arbeiterbewegung und die fortschrittlichen Kräfte in aller Welt.

 

Literatur:

Hart-Landsberg, Martin (2011): The Chinese reform experience. A critical assessment. In: Review of radical political economics, 43 (1), 56-76.

Li, Minqi (2016): China and the 21st century crisis. London.

Lin, Jake (2020): Chinese Politics and Labor Movements, Cham.

Rügemer, Werner (2019): „Die Menschenrechte“ in China. Ein paar Fakten zu westlicher Kritik an der Volksrepublik. In: Lunapark 21, Heft 47, 38-40.

Wolf, Winfried (2019): Ein kapitalistisches, autoritär regiertes Land. Ein Beitrag zur China-Debatte. In: Lunapark 21, Heft 47, 41-43.

 

 

Thomas Sablowski ist Referent für politische Ökonomie der Globalisierung im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und u.a. Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac sowie des Beirats der Zeitschrift PROKLA. 

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