„In die neue Zeit“, so lautete das Motto des ordentlichen Parteitags der SPD vom 6. bis 8.12.2019 in Berlin. Für den Weg in die neue Zeit wurde ein neues Sozialstaatskonzept einstimmig beschlossen, das Hartz-IV überwinden soll, auch indem ein Bürgergeld eingeführt wird. Die Delegierten wurden aufgerufen „Hartz-IV hinter sich zu lassen“.
Nach mittlerweile 15 Jahren schicksalhaftem Leben der Partei mit der Agenda 2010, die vor allem mitverantwortlich für die schlechten Wahl- und Umfrageergebnisse ist, sollen die großen Worte wohl Mut für eine Korrektur der autoritären Hartz-IV-Gesetzgebung machen.
Ob die SPD in der politischen Praxis ihr neues Konzept überhaupt umsetzen kann ist fraglich. Nicht fraglich ist, dass es nicht der große Wurf geworden ist, den sich die erwerbslosen und prekär beschäftigten Menschen und die Anti-Hartz-Initiativen erhofft haben.
Rückblick
Am 14. März 2003 forderte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Brandrede die schnellst mögliche Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe als unabdingbaren Schritt zur Senkung der Arbeitslosigkeit in Deutschland. Doch mit der Einführung von Hartz-IV wurde gar nichts zusammengelegt, sondern die Arbeitslosenhilfe komplett abgeschafft.
Bis dahin war die Arbeitslosenhilfe eine reine Lohnersatzleistung, die den Lebensstandard der erwerbslosen Menschen zumindest halbwegs sicherte. An Stelle der Arbeitslosenhilfe trat mit dem Arbeitslosengeld II eine, nicht mal das soziokulturelle Existenzminimum absichernde, Fürsorgeleistung.
Die wahren Gründe für die „Reform“ nannte Gerhard Schröder dann auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 28. Januar 2005: „Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. … Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt.“
Doch waren dies nicht allein die grundsätzlichen Grausamkeiten, die mit der Hartz-IV-Gesetzgebung 2005 eintraten, sondern es änderte sich beispielsweise auch Folgendes:
- Mit der Einführung von Hartz-IV war eine Pauschalierung der Regelsätze verbunden, die inzwischen Regelbedarfe genannt werden und die viel zu niedrig sind, um in Würde leben, sich gesund ernähren, ordentlich kleiden und am kulturellen Leben teilnehmen zu können.
- Hartz-IV ist mit verschärften Zumutbarkeitsregelungen für die Arbeitsaufnahme verbunden. Leistungsempfänger von Arbeitslosengeld-II müssen jeden Job annehmen, auch wenn er weder nach Tarif noch ortsüblich entlohnt wird.
- Einen Berufs- und Qualifikationsschutz gibt es nicht mehr, die grundgesetzlich abgesicherte freie Berufswahl ebenfalls nicht mehr.
- Von den derzeit noch 4 Millionen erwerbsfähigen Menschen im Hartz-IV-Bezug sind 1,2 Millionen nicht arbeitslos, sondern werden als „Aufstocker“ von den Jobcentern alimentiert, weil sie so wenig verdienen, dass sie und ihre Familien von ihrem Lohn nicht leben können.
- Mehr als 100 Milliarden Euro hat der Staat seit 2005 an die „Aufstocker“ gezahlt und damit ganz offen den Unternehmen die Lohnkosten subventioniert und sie in ihrem Lohndumping noch bestärkt.
- So wurde den Ankündigungen Gerhard Schröders gemäß in Deutschland der größte Niedriglohnsektor Europas geschaffen, in dem fast ein Viertel aller Beschäftigten tätig sind und der mittlerweile hauptsächlich für Erwerbs-Familien- und Kinderarmut sowie für spätere Altersarmut verantwortlich ist.
- Ein wesentlicher Bestandteil von Hartz-IV sind die Sanktionen, die nötig sind, um Zwangsmaßnahmen der Jobcenter, wie die oben genannten, durchsetzen zu können. Sanktionen sind Strafe und Legitimation zugleich
und Hartz-IV übernahm das, wie viele andere Bestandteile dieses Gesetzespaketes, z.B. das aus der Weimarer Republik stammende Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft. Dabei werden selbst Personen, die weder mit den Antragstellern verwandt noch ihnen gegenüber unterhaltspflichtig sind zur Kostenübernahme angehalten, um die Zahlungen der Jobcenter zu minimieren. Um das umzusetzen werden bis in den Intimbereich von Hartz-IV-Beziehern hineinreichende Auskunftsersuchen, Kontrollmaßnahmen und Überwachungspraktiken der Jobcenter durchgeführt, wobei die Hürden der Bedürftigkeitsprüfung dem Charakter von einer Sippenhaftung sehr nahe kommt.
Beschluss Nr. 3: Arbeit – Solidarität – Menschlichkeit: Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit beim ordentlichen Parteitags der SPD vom 6. bis 8.12.2019
In unserem Zusammenhang sind vor allem die Ausführungen des Beschlusses unter den 3 Überschriften
Anerkennung von Lebensleistung – mehr Schutz in der Arbeitslosenversicherung, Bürgergeld statt Hartz-IV und Kinder absichern und ihnen Bildung und Teilhabe ermöglichen von Bedeutung.
„Unser Sozialstaat muss Partner der Menschen sein. Darum hat die SPD auf ihrem Parteitag einstimmig beschlossen, Hartz IV zu überwinden und ein Bürgergeld einzuführen. Solidarität, Zusammenhalt, Menschlichkeit – das sind die Grundsätze für unseren Sozialstaat der Zukunft. Mehr Chancen, mehr Sicherheit und mehr Gerechtigkeit mit einem Sozialstaat als Partner. Das steht für uns im Mittelpunkt.
Konkret heißt das:
- Anerkennung von Lebensleistung: Wer lange gearbeitet hat, bekommt auch länger Arbeitslosengeld. Leistungsgerechtigkeit steht im Mittelpunkt.
- Mehr Chancen in der Arbeitswelt: Mit dem Recht auf Weiterbildung sorgen wir dafür, dass wirtschaftliche Veränderungen keine Angst machen müssen.
- Mehr Respekt durchs Bürgergeld: Wir setzen an die Stelle von Hartz IV ein neues Bürgergeld. Es ist aus der Perspektive der Menschen gedacht, die den Sozialstaat brauchen. So lange es Hartz IV noch gibt, sollen mögliche Sanktionen das Existenzminimum nicht mehr gefährden dürfen.
- Kinder absichern: Kein Kind darf in einem reichen Land wie unserem in Armut aufwachsen. Darum schaffen wir eine neue Kindergrundsicherung. Für ein gutes und gesundes Aufwachsen, für beste Bildung und Chancen.“
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Soweit der Beschluss. Im Konkreten sollen die anstehenden Veränderungen aus der Perspektive „Was brauchen Arbeitslose“ entwickelt werden. Dazu heißt es:
„Langfristiges Ziel ist die Einführung einer solidarischen Arbeitsversicherung“, die einer Entstehung von Arbeitslosigkeit vorbeugen soll. Die Bundesagentur für Arbeit soll zur Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung werden.
Die Schutzregelungen bei den Arbeitsverhältnissen sollen verbessert werden durch
- den Rechtsanspruch auf Qualifizierung, die Einführung eines Arbeitslosengeld Q für die Dauer von bis zu 2 Jahren in Weiterbildungsmaßnahmen, bei Umschulungen wird auch ein 3. Jahr finanziert, der Anspruch auf Arbeitslosengeld wird durch die Teilnahmen an einer Qualifizierung verlängert.
- den besseren Schutz der Arbeitslosenversicherung, die Anwartschaftszeiten werden verkürzt, die Rahmenfristen in denen als Vorleistung sozialversicherungspflichte Arbeit erbracht werden, ausgeweitet.
- die Veränderung der Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld. Hier soll nicht so sehr das Lebensalter, sondern mehr die Lebensleistung in Gestalt der Dauer der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zählen. So verlängert sich der Arbeitslosengeldzahlungszeitraum unabhängig vom Alter um 3 Monate, wenn jemand 20 Jahre Beschäftigungszeit erfüllt. Nach 25 Jahre Beschäftigungszeit wird um 6 Monate, bei 30 Jahren um 9 Monate verlängert.
Allgemein sollen Menschen, die in der befristeten Beschäftigung, aber auch Menschen, die langjährig beschäftigt waren, einen besseren Schutz erhalten.
Im neu zu reformierenden Sozialgesetzbuch II (SGB II) soll
- ein Bürgergeld die Leistungen gemäß SGB II ablösen.
- im Gesetz soll dann ein Rechtsanspruch auf Absicherung und Teilhabe gewährt werden, gemeint ist z.B. das Recht auf individuell zugeschnittene Arbeits- und Qualifizierungsangebote oder auf die öffentlich geförderte Beschäftigung oder bei dem Nachholen von Bildungsabschlüssen bzw. einer Umschulung.
- denjenigen Menschen, die trotz ihrer sozialversicherungspflichtigen Arbeit auf aufstockende Leistungen angewiesen sind, dann nicht mehr von den Jobcentern begleitet werden, sondern von der Arbeitsagentur gemäß dem SGB III.
- wie schon in den ersten Jahren von Hartz-IV der Abstieg bzw. den Übergang von Leistungen nach dem SGB III, vom Versicherungssystem zum SGB II, als Fürsorgesystem etwas abgefedert werden. Auch soll es in den ersten 2 Jahren im SGB-II-Bezug keine Überprüfung der Wohnungsgröße und keine Vermögensüberprüfung geben.
- beim Bezug von Bürgergeld das Wohneigentum besser geschützt werden. Keiner soll seine Eigentums- oder Mietwohnung verlieren müssen.
- es bei den Sanktionen menschlicher zugehen. Die Sanktionen, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2019 nicht mehr zulässig sind, sollen auch abgeschafft werden. Die scharfen Maßnahmen gegenüber Menschen im Leistungsbezug, die jünger als 25 Jahre sind, sollen abgeschafft werden, so wie auch die Kosten der Unterkunft nicht mehr unter die Sanktionen fallen dürfen
und
anstelle der bisherigen Eingliederungsvereinbarungen als Verwaltungsakt soll es eine „passgenaue Teilhabevereinbarung“ geben.
Was kommt bei den SPD-Vorschlägen zu kurz
Das derzeit noch bestehende Machtverhältnis zwischen dem Jobcenter als Vertreter des Sozialstaats und dessen Bürger als Bittsteller wird nicht angetastet. Weiterhin wird es Mängel bei der Beratungs- und Auskunftspflicht der Jobcenter, den willkürlich ausgelegten langen Bearbeitungszeiten, den Sanktionen und dem würdelosen Umgang miteinander geben. Da werden auch die angedachten neutralen Ombudsstellen zur Konfliktminderung kaum etwas nützen.
Es fehlt eine klare Aussage zur Anhebung der Regelsätze. Hier wird wohl Rücksicht auf die Kassenlage der Großen Koalition genommen und auch auf das sogenannte Abstandgebot zwischen den niedrigen Löhnen und den bedürftigkeitsgeprüften Sozialleistungen, das man auch in der SPD partout nicht sterben lassen will. Lediglich die Namensänderung hin zum Bürgergeld ist reine Augenwischerei.
Die Wiedereinführung von einmaligen Leistungen wird nicht gefordert, die es seit der Pauschalierung der Regelsätze nicht mehr gibt und z.B. für die Waschmaschinenreparatur oder Kauf eines warmen Mantels für schnell gewachsene Kinder benötigt werden. Die Jobcenter vergeben Kredite anstatt Beihilfen und die müssen vom Regelsatz zurückgezahlt werden.
Der inflationäre Gebrauch des Wortes Teilhabe fällt sofort ins Auge. Wie schnell die Begrifflichkeit Teilhabe in die falsche Richtung gehen kann, sieht man an der Ausgestaltung des „Teilhabechancengesetz“ im Rahmen des sozialen Arbeitsmarktes, bei dem der Niedriglohnsektor von staatlicher Seite subventioniert wird und die Menschen nach wie vor unter der Knute des SGB II bzw. der Jobcenter stehen. Mit dem Begriff Solidarität könnten sich z.B. andere Formen der öffentlich geförderten Arbeit entwickeln.
Der Berufs- und Qualifikationsschutz wird nicht erwähnt, ebenso wenig wie die im Grundgesetz verankerte freie Berufswahl. Damit verbunden sind auch die scharfen Zumutbarkeitsregelungen, nach denen jede Arbeitsstelle angenommen werden muss. Da ist es kein Wunder, dass von den immer noch 4 Millionen erwerbsfähigen Menschen, die Leistungen nach Hartz-IV erhalten, 1,2 Millionen ihren Lohn „aufstocken“ müssen. Der Niedriglohnsektor ist wiederum die Hauptursache für die Erwerbs-, Familien-, Kinder- und Altersarmut. Hier zahlte der Staat seit der Einführung von Hartz-IV mittlerweile mehr als 100 Milliarden Euro an Unternehmenssubventionen für ein legalisiertes Lohndumpingsystem.
Was bleibt
Die Leistungen, die die erwerbslosen und prekär beschäftigten Menschen beziehen, werden nur gewährt, wenn sie sich als Empfänger „würdig“ erwiesen haben und sie müssen alles tun, um an der „Überwindung der Hilfebedürftigkeit aktiv mitwirken“. Damit wird den Menschen weiterhin unterstellt, selbst für ihre Lage verantwortlich zu sein.
Das Gesamtsystem der Sanktionen, die Strafe und gleichzeitig Legitimation der schon 2005 verfassungswidrigen „Hartz-Reformen“ ist, wird von der SPD weiterhin nicht in Frage gestellt.
Mit den Vorschlägen aus dem Beschluss der SPD werden die wichtigsten Säulen des Hartz-Systems weiter beibehalten. Das sind nach wie vor
- die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die sich an der vorherigen früheren Lohnhöhe ausrichtete und durch die Arbeitslosengeld-2-Zahlungen ersetzt wurde, nun aber unabhängig von dem früheren Verdienst als Fürsorgeleistung
- die Erwartung an die betroffenen Menschen, sich für die Zahlung der Leistung dem Niedriglohnsektor zur Verfügung zu stellen
und der Wegfall des Berufs- und Qualifikationsschutzes und damit auch die Ungültigkeit der grundgesetzlich garantierten Berufsfreiheit.
Mit dem Beschluss Arbeit – Solidarität – Menschlichkeit: Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit als Teil des neuen Sozialstaatskonzepts untermauert die SPD auch, dass schon seit 15 Jahren ganz bewusst gegen Artikel 1 und Artikel 20 des Grundgesetzes (GG), neben der Verletzung der Gewährleistungspflicht des Existenzminimums und damit auch des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, gleichfalls noch gegen die grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit durch die Zumutbarkeitsregelung und die Sanktionen verstoßen wird.
Quellen: https://indieneuezeit.spd.de/aktuelles/tag-2/sozialstaat/, Ch. Butterwegge, Wolfgang Völker in express 2/2020, SPD, SGB II, SGB III, Teilhabechancengesetz Bildbearbeitung: L.N.