Der Düsseldorfer „Industriekurier“ schrieb 1968: „Die Demokratisierung der Wirtschaft ist so unsinnig wie eine Demokratisierung der Schulen, der Kasernen und der Zuchthäuser“. Für Ludwig Erhard waren Mitbestimmung und eine „Demokratisierung der Wirtschaft“ Teufelswerk, das den „Schutz und die Verfügung über Eigentum entgegen den moralischen und rechtlichen Normen der gesitteten Welt in Frage“ stellt. Der gegenwärtige Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, beschreibt in einem FAZ-Interview Anfang 2020 seine Sicht auf 100 Jahre Betriebsverfassungsgesetz wie folgt: „Betriebsräte waren und sind für uns keine Einrichtungen zum Anzetteln einer Revolution. […] Für viele Unternehmen heute lässt sich sagen, dass auch sie Betriebsräte als Errungenschaft ansehen – auch im Hinblick auf ihre eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. […] Das geht nicht immer konfliktfrei. Aber dafür gibt es e in geregeltes Verfahren des Interessenausgleichs. Dass es trotzdem noch immer Unternehmer gibt, die in Betriebsräten einen Angriff auf ihre Dispositionsfreiheit sehen, ist völlig unverständlich“.
Dem ist entschieden zu widersprechen. Alle Errungenschaften der Arbeiterbewegung mussten und müssen erkämpft und danach immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Im ungleichen Kampf Arbeiterinteressen gegen Kapitalmacht gingen die arbeitenden Menschen allzu oft nur als zweiter Sieger vom Kampfplatz. Vermeintliche Siege entpuppten sich oft als Pyrrhussiege. So erging es schon der Rätebewegung nach der Novemberrevolution von 1918. Mit der Schaffung des Betriebsrätegesetzes wurden aus Arbeiter-Räten, die die Macht im Land beanspruchten, gezähmte Betriebsräte. Diese sollten zwar die „gemeinen Interessen der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber gegenüber“ wahrnehmen. Doch ebenso wurden sie auf die „Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke“ verpflichtet.
Gegen die Verabschiedung des Betriebsrätegesetzes hatten am 13. Januar 1920 100.000 Arbeiter und Arbeiterinnen vor dem Berliner Reichstag vergeblich demonstriert. Der Grund: Der in Berlin tagende „Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte“ hatte sich zwar im Dezember 1918 mit 344 zu 98 Stimmen gegen eine Räterepublik ausgesprochen, aber an der Forderung zum „Ausbau der Betriebsräte zu selbstständigen revolutionären Organen neben den Gewerkschaften“ festgehalten. Im Gesetzentwurf hieß es dann aber nur noch: „Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat.“ Bloß „mitwirken“ zu können war ihnen zu wenig, sie erstrebten das „volle Kontrollrecht über die Betriebsführung“. Zur Demonstration und Kundgebung aufgerufen h atten die Linksabspaltung von der SPD, die USPD, und die KPD. Während der Massenkundgebung feuerte die Polizei plötzlich in die Menge. 42 Tote und 105 Verletzte war die traurige Bilanz. Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) verkündete den Ausnahmezustand. Trotz Verbot nahmen an der Gedenkfeier für die Toten, die auf dem Neuköllner Hermannplatz stattfand, rund 10.000 Menschen teil.
In der Zeit des Faschismus hielt dann 1934 das „Führerprinzip“ in den Betrieben Einzug. Völlig machtlose, dem „Betriebsführer“ unterstellte „Vertrauensräte“ ersetzten die Betriebsräte; sie wurden wegen der für die Nazis unerfreulichen betrieblichen Wahlergebnisse aber nur bis 1935 gewählt, danach nur noch ernannt.
Auch heute stecken die Betriebsräte im Zwangskorsett der Verpflichtung auf die „gemeinsamen Interessen“. Das weiß auch Christiane Benner, Zweite Vorsitzende der IG Metall. Dennoch frohlockte sie Anfang 2020: „Herzlichen Glückwunsch, Betriebsverfassung! Du bist auch nach 100 Jahren ein nachhaltiges und innovatives Erfolgsmodell“. Erfolgsmodell Betriebsverfassung? Die Alltagswirklichkeit sieht anders aus. Tatsache ist: Die meiste Lebenszeit verbringt ein durchschnittlicher Erwachsener bei der Arbeit im Betrieb oder in Büros, in der Verwaltung usw. Aber in über 90 Prozent aller Betriebe, die die Voraussetzungen für einen Betriebsrat erfüllen, gibt es keinen Betriebsrat. Und nur etwa 40 Prozent der unter das Betriebsverfassungsgesetz fallenden Lohnabhängigen werden durch einen Betriebsrat vertreten. Und die Zahl der Betriebsräte sinkt weiter. 2009 war das Wort „betriebsratsverseucht“ Unwort des Jahres. Es stammte aus einem Interview mit einem Abteilungsleiter der Baumarktkette Bauhaus, in dem dieser sich gegen die Gründung von Betriebsräten sträubte. Über ein Jahrzehnt später sind „Bossing“ oder „Union-Busting“ Begriffe für die hierzulande immer öfter praktizierten Mobbingmethoden durch Vorgesetzte, um die Gründung von Betriebsräten zu verhindern oder unliebsame Betriebsratsmitglieder loszuwerden.
Vergleichbares konnten sich die Unternehmer unmittelbar nach 1945 nicht trauen. Nach der Befreiung vom Faschismus gab es eine breite Stimmung gegen das Großkapital, das Hitler an die Macht gebracht hat. So war es möglich, dass die in den Jahren 1947/48 geschaffenen Länderverfassungen zum Teil sehr weitgehende Mitbestimmungsrechte vorsahen. So auch die Verfassung des Landes Hessen (26. Mai 1948), die mit den Stimmen von CDU, SPD und KPD im Hessischen Betriebsrätegesetz (HBG) in Paragraf 39 (1) festhielt: „Jeder Missbrauch der wirtschaftlichen Freiheit – insbesondere zu monopolistischer Machtzusammenballung und zu politischer Macht – ist untersagt“. Und in Paragraf 39 (2) wird festgelegt: „Vermögen, das die Gefahr solchen Missbrauchs wirtschaftlicher Freiheit in sich birgt, ist […] in Gemeineigentum zu überführen.“
Nur wenige Jahre später waren die alten Machtverhältnisse wieder hergestellt. Daher sprach Otto Brenner, der damalige Vorsitzende der IG Metall, Anfang der 1950er Jahre im Zusammenhang mit den Debatten um ein zu schaffendes Betriebsverfassungsgesetz in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland vom wieder erstarkenden „Geist der vorüber geglaubten Zeit“. Er wies warnend auf den Stellenwert der „spezifisch nationalsozialistischen Ideologie in der Volks- und Betriebsgemeinschaft“ hin. Die mehrheitlich dennoch sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Gewerkschaften erlitten 1952 im Kampf um die Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes eine herbe Niederlage. Schon der Gesetzentwurf blieb hinter dem Betriebsrätegesetz von 1920 zurück. Die Gewerkschaften reagierten und mobilisierten hunderttausende Beschäftigte zu Demonstrationen und Streiks. Den Höhepunkt bildete ein zweitägiger Zeitungsstreik der Drucker und Setzer. Doch am Verhandlungstisch ver loren sie den ungleichen Kampf. Verabschiedet wurde ein Betriebsverfassungsgesetz, das die gesamte Betriebsratsarbeit unter die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ mit dem Arbeitgeber stellt und den Betriebsrat der Friedens- und Schweigepflicht unterwirft. Statt der paritätischen Mitbestimmung (mit ebenso vielen Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat wie Vertretern der Kapitalseite), wie eine solche noch in der Montanindustrie (Kohle- und Stahlbranche) durchgesetzt werden konnte, wurde nun für die übrige Wirtschaft nur eine Drittelparität beschlossen.
Zwar wurde dann im Jahr 1976 – als SPD und FDP regierten – auf Druck von Gewerkschaften und SPD das neue Mitbestimmungsgesetz geschaffen. Doch auch dieses Gesetz hat in der betrieblichen Wirklichkeit die Eigentumsrechte der Kapitaleigner nicht grundsätzlich eingeschränkt. Die Strategie der Unternehmen, die der Mitbestimmung unterliegen, wird nach wie vor von ihren Vorständen und Anteilseignern bestimmt und nicht von den Arbeitnehmervertretern. Im Gegenteil: Alle Mitbestimmungsregeln führten in der Tendenz dazu, dass die Vertreter von Belegschaft und Gewerkschaft in den Aufsichtsräten – und leider auch sehr viele Betriebsräte – sich zu einem „Ko-Management“ veranlasst sahen und sich so sehr oft die Interessen der Kapitalseite zu eigen machten.
Wie geht es in Zukunft mit der Mitbestimmung weiter? Wird Friedrich Merz der mögliche künftige CDU-Vorsitzende oder gar Kanzler der Deutschland AG, dann ist mit einer Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes zu rechnen. Zu wessen Gunsten diese erfolgen wird, ist leicht vorauszusehen. Schon vor Jahren zeigte Merz da klare Kante: Die geltende Mitbestimmung hält er schon lange für völlig überholt. „Nach fast 30 Jahren verdient das Mitbestimmungsgesetz von 1976 eine Überprüfung“, sagte vor mehr als einem Jahrzehnt. „Außer Luxemburg wollte kein Land der Erde unser Modell übernehmen, das sollte uns nachdenklich stimmen.“ Und: „Wenn in diesem Land eine Ehe leichter geschieden werden kann als ein Arbeitsverhältnis beendet, dann stimmt etwas nicht.“
Manfred Dietenberger lebt in Waldshut. Er schreibt unter anderem für die UZ, für die Sozialistische Zeitung/SoZ und für Lunapark21. Zum Umgang der Kapitalseite mit Betriebsräten siehe: Werner Rügemer, Elmar Wigand, Die Fertigmacher – Arbeitsunrecht und professionelle Gewerkschaftsbekämpfung (Köln 2017, PapyRossa) und die Initiative Arbeitsunrecht in Deutschland – siehe: https://arbeitsunrecht.de/