Bundesarbeitsminister Heil will in der Fleischindustrie „aufräumen“: Da soll es keine Werkverträge mehr geben und sogar auch keine Leiharbeit mehr! Das klingt radikal. Die plötzlich bekannt gewordenen hohen Corona-Infektionsraten bei den osteuropäischen Fleischzerlegern waren zum „Skandal“ geworden. Da musste reagiert werden.[1] Aber diese Bundesregierung und andere brauchen für das Ziel noch ganz anderen Druck. Der geht auch von Gewerkschaften nicht aus, die jetzt freudig zustimmen.
Das Bundeskabinett hat am 20. Mai 2020 die „Eckpunkte Arbeitsschutzprogramm für die Fleischwirtschaft“ beschlossen. Danach soll „ab dem 1. Januar 2021 das Schlachten und Zerlegen von Fleisch in Betrieben der Fleischwirtschaft nur noch von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern des eigenen Betriebes zulässig sein. Damit wären Werkvertragsgestaltungen und Arbeitnehmerüberlassungen nicht mehr möglich.“
Gute Absicht. Aber glaubwürdig? Seit vielen Jahren sind die Arbeits-Unrechts-Verhältnisse in den Fleischkonzernen am Standort Deutschland bekannt: bei Tönnies, Vion, Danish Crown, Westfleisch, Müller Fleisch, Böseler Goldschmaus usw.
Da hatte die deutsche Niedriglöhnerei der Hartz-Allparteien-Koalitionen, ob von Schröder/SPD oder Merkel/CDU geführt, kräftig mitgeholfen. Ausländische Schlachtkonzerne wie Danish Crown aus Dänemark und Vion aus den Niederlanden verlegten Betriebe in den führenden Arbeits-Unrechts-Staat Deutschland, um mithilfe der noch heftigeren Ausbeutung ausländischer Arbeiter das Billigfleisch europa- und weltweit exportieren zu können.
Das wurde immer wieder heftig kritisiert, allerdings nie von den Bundesregierungen und auch nicht von den Landesregierungen in NRW, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Bayern, wo die Fleischindustrie konzentriert ist.
2017 schon mal ein Gesetz gegen Werkverträge in der Fleischindustrie
Weil die Kritik mal wieder zugenommen hatte, machte die CDU/SPD-Bundesregierung mit der Arbeitsministerin Andrea Nahles 2017 ein Gesetz. Vorher hatten die führenden Arbeiterausbeuter-Parteien, die christlichen Fleischfraktionen der CDU und der CSU, Widerstand geleistet und das Gesetz abgeschwächt. Entsprechend sah es aus, das Große Koalitions-Gesetz: „Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft“, abgekürzt GSA Fleisch. Erinnert sich jemand?
In Paragraph 1 hieß es und da steht es immer noch: „Ziel ist die Sicherung von Rechten und Ansprüchen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Verhinderung von Umgehungen zur Pflicht zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen durch die Beauftragung von Nachunternehmern.“
Das war gendermäßig hochkorrekt formuliert. Sonst war aber nix. Das Gesetz war wirkungslos. Die Werkverträge nahmen noch zu. Werkvertragsfürst Clemens Tönnies verdiente viel Geld und beruhigte als Sponsor des ex-proletarischen Fußballclubs Schalke 04 das Volk. Seine Hass-Sprüche gegen die des Nachts zu viele Kinder produzierenden Afrikaner wurden von den professionellen Hass-Bekämpfern als vorübergehendes Kavaliersdelikt behandelt.
Der Umweg ist schon programmiert: Entsendegesetz
Die neuen Eckpunkte von 2020 verweisen auf das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Es geht auf die Entsende-Richtlinie der Europäischen Union zurück. (Richtlinie 1996/71, seitdem in Deutschland mehrfach überarbeitet, zuletzt 2019). Es regelt die Arbeitsbedingungen ausländischer Beschäftigter im Inland in ausgewählten neun Branchen wie Bau, Gebäudereinigung, Briefdienste, Sicherheit und auch in Fleischbetrieben. Und zwar für Beschäftigte, die „vorübergehend“ tätig sind und aus EU-Staaten „entsandt“ werden. Hier haben die Bundesregierungen die EU-Richtlinie eingeschränkt: Die Fleischindustrie wurde erst ganz spät in die Liste aufgenommen, und durch die Liste werden die Geltungsbereiche eingeschränkt, nicht alle entsandten Arbeiter sind gemeint.
Die Formulierungen sind zudem gewollt schwammig, also eigentlich untauglich. Sie widersprechen den elementarsten Anforderungen an die Rechtssicherheit von Gesetzen. Deutsche Variante des Rechtsstaats: So heißt es in § 1, dass es „angemessene Mindestarbeitsbedingungen“ geben soll. Gleichzeitig soll aber auch „der Wettbewerb“ gewährleistet sein durch „faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen“.
Für die ausländischen Arbeiter sollen also nicht die üblichen Bedingungen gelten, wie in der EU-Richtlinie vorgesehen, sondern es gelten „angemessene Mindest-Bedingungen“. Hier wird gesetzlich das Tor für Ausnahmeregelungen weit geöffnet, und dafür, dass sie auf jeden Fall unterhalb der sonstigen Standards liegen. „Angemessen“ – woran gemessen? Das bestimmen Tönnies, Vion, Danish Crown, Westfleisch & Co. Jedenfalls bestimmen das „Angemessene“, wie wir seit zwei Jahrzehnten wissen, nicht die Arbeiter aus Bulgarien, Polen, Rumänien, Ungarn, Moldau, Ukraine. Die hätten sicherlich gern etwas mehr, wenn man sie fragen würde. Aber sie werden nicht gefragt. Die würden auch gern weniger für das Bett im Mehrbettzimmer bezahlen, wenn man sie fragen würde. Die würden auch gern ihre wöchentlichen 20 Überstunden bezahlt kriegen, wenn man sie fragen würde, oder, was meinen Sie?
Und warum bleiben sie stumm, warum werden sie stumm gehalten im Rechtsstaat, in dem die Meinungsfreiheit so ein alleroberster Wert ist? Und auch deren Vermittler, die Werkvertragsfirmen, unterwerfen sich den Vorgaben von Tönnies & Co. Omertà.
Und das Entsendegesetz zielt auf „vorübergehende“ Arbeit. Wie lange das „vorübergehend“ dauert, bleibt schwammig. Die Arbeiter sollen also von vornherein nicht einen Dauer-Arbeitsplatz bekommen. Vielmehr sollen sie nach Gebrauch bzw. Verbrauch unter „Mindest“-Standards wieder abhauen, zurückgeschickt werden, ausgetauscht werden. Je nachdem, wie lange sie es in der engen, teuren Massenunterkunft des deutschen Un-Rechtsstaats aushalten.
Bisher: Dauerhafter, flächendeckender Rechtsbruch
Das Entsendegesetz verlangt, eigentlich, dass für die vorübergehend aus dem Ausland „entsandten“ Beschäftigten die gleichen Bedingungen wie für sonstige Beschäftigte gelten, etwa hinsichtlich Mindestlohn, Arbeitszeit, Urlaub, Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, und auch bei der „Überlassung von Arbeitskräften, insbesondere durch Leiharbeitsfirmen“.
Es ist also nur von Arbeitnehmer-Überlassung (=Leiharbeit) und nur von Leiharbeitsfirmen die Rede. Von Werkverträgen ist nicht die Rede. Aha – die Bundesregierung und alle Aufsichtsbehörden und auch der direkt zuständige Zoll haben also dauerhaft und flächendeckend bisher Werkverträge geduldet, gesetzwidrig.
Oder genauer: In Wirklichkeit handelte es sich sowieso um Leiharbeit, denn die Werkvertragsfirmen hatten sowieso keine eigenen Werkzeuge, keine eigenen Arbeitsstätten, kein eigenes know how, gaben in den Schlachtfabriken von Tönnies & Co keine konkreten Arbeitsanweisungen, sondern machten reine Arbeitsvermittlung. Dazu hatten und haben sie bis heute aber nicht die gesetzlich vorgeschriebene Lizenz durch die Arbeitsagentur. Durch die Simulation als Werkvertrag wurden die Arbeiter im Vergleich zur Leiharbeit noch weiter entrechtet und verbilligt. Beispielsweise das Recht von Leiharbeitern, nach 9 Monaten dauerhaft und zu besseren tariflichen Bedingungen angestellt zu werden – dieses Recht wurde den gefaketen Werkvertraglern rechtswidrig vorenthalten.
Bisher also: Dauerhafter, flächendeckender Rechtsbruch unter allen bisherigen Regierungen, durch die Parteien CDU, CSU, Grüne, FDP, durch Bundesregierungen und Landesregierungen und Aufsichtsbehörden, durch die BundesarbeitsministerInnen Riester, Müntefering, Clement, von der Leyen, Scholz, Nahles, Barley, Heil.
Umgehung auch noch anders möglich
Clemens Tönnies hat jetzt nach der Infektionswelle schon signalisiert: Wir sind einverstanden – keine Werkverträge mehr, auch keine Leiharbeit, sondern Direktanstellung!
Die Fleischindustrie braucht sich nur umzusehen im Arbeits-Unrechts-Staat Deutschland. Da gilt völlig legal die sachgrundlose Befristung. Der Unternehmer braucht nicht anzugeben, warum ein Arbeitsvertrag befristet ist, auf ein Jahr, auch auf zwei Jahre, auf drei Jahre.
Oder wie es in der Hotelreinigung üblich ist: Unter den geschlossenen Augen der gesetzesfreudigen Bundesregierungen werden Verträge etwa über 20 Wochenstunden abgeschlossen. Weil aber die Arbeit pro Stück – sprich pro gereinigtes Zimmer – zu erledigen ist, kann da schon mal eine 25- oder 30-Stunden-Woche herauskommen. Im Vertrag steht zwar hochkorrekt der geltende Mindestlohn und die gendermäßige Formulierung. Aber durch die notwendig höhere Stundenzahl wird der Mindestlohn unterlaufen.
Auch das Schlachten und Zerlegen von Schweinen, Rindern und Hühnern lässt sich pro Stück vergeben.
Noch im März 2020: Bundesregierung simuliert Unwissen
Am 6. März 2020, also ein paar Tage vor der verspätet eingestandenen Corona-Epidemie, antwortete die Bundesregierung auf die Anfrage der Linkspartei (Jutta Krellmann, Susanne Ferschl, Matthias Birkwald) zu Werkverträgen in der Fleischindustrie. Die Antwort war durch das Arbeitsministerium unter Hubertus Heil vorbereitet worden (Drucksache des Bundestages 19/17679 vom 6.3.2020):
Wie hoch ist der Anteil der Werkverträge in der Fleischindustrie?
„Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor“.
Unterschiede zwischen Werkvertragsarbeitern und Kernbelegschaft?
„Die Bundesregierung hat keine Kenntnis darüber, ob die Arbeitsbedingungen stark voneinander abweichen.“
Scheinwerkverträge, da es sich in Wirklichkeit um Leiharbeit handelt?
„Hierzu liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor“.
Welche Werkvertragsfirmen sind in Deutschland tätig?
„Unternehmen, die auf Grundlage von Werkverträgen tätig sind, können nicht identifiziert werden.“
Wieviele Kontrollen von Werkverträgen haben in der Fleischindustrie von 2008 bis 2019 stattgefunden?
„Der Bundesregierung liegen darüber keine Zahlen vor.“
Ausmaß der betrieblichen Mitbestimmung in der Fleischindustrie, Betriebsräte?
„Werkvertragsbeschäftigte haben in ihrem Betrieb die Möglichkeit, einen Betriebsrat nach den Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetzes zu wählen.“
Bundesregierung und Arbeitsminister lügen hier mutmaßlich doppelt: Erstens sind die Werkvertragler nicht in „ihrem Betrieb“ angestellt, zweitens haben in Deutschland Werkvertragler bei Tönnies & Co noch nie einen Betriebsrat gewählt. So simulierte sich die Bundesregierung noch vor wenigen Wochen als unwissend in der Heile-Heile-Fleisch-Arbeitswelt, agierte als mutmaßliche Komplizin von Dauer-Rechtsbrechern.
Jetzt mehr Kontrollen als bisher?
Jetzt plötzlich wollen die unwissenden Unrechts-Komplizen es ganz anders machen. Die Eckpunkte des Bundeskabinetts fordern jetzt verstärkte Kontrollen in der Fleischwirtschaft, an den Arbeitsplätzen und in den Unterkünften. Gefordert wird auch eine verpflichtende digitale Zeiterfassung.
Ok, klingt vielleicht gut. Aber nirgends gibt es eine Festlegung, dass die in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausgedünnten und kaum Aufsicht ausübenden Aufsichtsbehörden – Zoll, Gewerbeaufsicht, Gesundheitsämter, Bundesagentur für Arbeit, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung – aufgestockt werden. Das wäre zudem ja vielfach Ländersache.
Ob beim Aufstocken beispielsweise die NRW-Landesregierung aus CDU und FDP mitmachen würde? Im Bundesland mit den meisten Schlachthöfen, auch dem größten von Tönnies? Wo sie doch unter Ministerpräsident Armin Laschet sofort nach Amtsantritt 2017 nicht nur die bewährte Steuerfahndung in Wuppertal absägte, die Milliarden von reichen Steuerflüchtigen hereingeholt hatte. Auch die Stabsstelle „Umwelt-Kriminalität“ im Umweltministerium – zuständig auch für Tierschutz und Schweinemast – wurde sofort aufgelöst, und zwar durch die Ministerin Christina Schulze-Föcking: Sie war Miteigentümerin eines Schweinemastbetriebs im Münsterland. Bei einer Anhörung im Landtag log sie, musste zurücktreten. Die Stabsstelle blieb geschlossen.[2]
Zudem sollen Verletzungen des neuen Gesetzes wie im Arbeitnehmer-Entsendegesetz nicht als Straftat behandelt werden, sondern lediglich als Ordnungswidrigkeit. Bestenfalls also Kavaliersdelikte mit Bußgeld aus der Futterkasse, falls mal ein Aufsichtsbeamter vorbeikommen sollte.
Die EU selbst übt keine Kontrolle auf dem Gebiet der Arbeitsrechte aus. Sie überlässt die Kontrolle den nationalen Behörden – wohlwissend, dass die im Wesentlichen als Komplizen der Unternehmer handeln bzw. nicht handeln. Eine unbekannte Zahl an Unternehmern meldet eine unbekannte Zahl ihrer entsandten Beschäftigten sowieso nicht die Behörden – dagegen ist die EU noch nie tätig geworden.[3] Die EU unterhält sechs Agenturen und Aufsichtsbehörden, die sich um Arbeitsmigranten „kümmern“: EURES, EEPO, ELA, SLIC, OSHA, MoveS – noch nie davon gehört? Klar, die tun nix, jedenfalls nichts für Arbeitsrechte.
Das übergeordnete Ziel dieser Agenturen mit tausenden gut bezahlten Mitarbeitern ist es, die Arbeitsmigration zu fördern. Die Einhaltung der ohnehin niedrigen „Mindest“-Standards, die in Staaten wie Deutschland noch gegenüber den EU-Richtlinien abgesenkt werden, ist drittrangig.
Verpflichtende digitale Zeiterfassung? Nicht mit dieser Bundesregierung!
Die Erfassung der Arbeitszeit der Fleischarbeiter, wie in den Eckpunkten angekündigt, wäre elementar für die Rechtssicherheit. Bisher werden in deutschen Unternehmen nur die vertraglichen Arbeitsstunden erfasst, aber nicht die Überstunden, nicht nur in der Fleischindustrie, sondern überall. Die Bundesregierung will das also zumindest jetzt in der Fleischindustrie durchsetzen.
Der Europäische Gerichtshof EUGH urteilte aufgrund der Klage einer spanischen Gewerkschaft gegen die Deutsche Bank am 14.5.2019: Zur Einhaltung der Arbeitszeiten entsprechend der EU-Arbeitszeit-Richtlinie 2003/88 und mit Bezug auf die EU-Grundrechte-Charta muss „das Grundrecht eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der wöchentlichen und täglichen Höchstarbeitszeit und auf die täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten“ gesichert werden. Und das sei nur mit einem „System“ zur Erfassung der gesamten täglichen Arbeitszeit möglich. Die Mitgliedsstaaten müssen ein solches System einrichten. (EUGH C-55/2018)
Die Bundesregierung hätte hier also ein höchstrichtliches Urteil hinter sich. Aber die simulierten deutschen EU-Musterschüler halten sich besonders häufig nicht an EU-Recht, wenn es ihnen nicht passt. So folgte Wirtschaftsminister Peter Altmaier der aufgebrachten Urteils-Schelte der Lobby von BDI, BDA und CDU-Wirtschaftsrat und erklärte umgehend: Wir werden das Urteil nicht einfach hinnehmen! Arbeitsminister Heil von der anderen Fraktion der unwissenden Rechtsbrecher erklärte: Wir werden wegen des Urteils „nicht alles auf den Kopf stellen“.[4] Das Versprechen, die digitale Arbeitszeiterfassung in der Fleischindustrie einzuführen, erweist sich als Lüge.
Dabei hatte das Bundesarbeitsgericht schon 2003 genauso entschieden wie jetzt der EUGH. Aber Unternehmer wie Regierungen verletzen in ihrer Version des immer beschworenen Rechtsstaates dieses höchstrichterliche Urteil. Betriebsräte haben das Recht, die Aufzeichnungen über erfasste Stunden anzufordern. Viele Unternehmer erklären: Wir machen keine Aufzeichnungen, also können wir sie auch nicht herausgeben.
Für diese Ordnungswidrigkeit sieht das Arbeitszeitgesetz Bußgelder vor – die wurden noch nie verhängt. Dabei werden den abhängig Beschäftigten in Deutschland jährlich mindestens eine Milliarde nicht erfasste und auch nicht bezahlte Überstunden abgefordert – ein erpresstes Geschenk an die leistungslos sich Bereichernden von etwa 40 Mrd. Euro, jährlich.[5]
Minister Heil lässt „Arbeits-Unrechts-Professoren“ nach Umgehung suchen
Arbeitsminister Heil beauftragte die beiden führenden „Arbeits-Unrechts-Professoren“: Volker Rieble vom unternehmerfinanzierten Zentrum für Arbeitsrecht und Arbeitsbeziehungen ZAAR (Universität München) und den für die kirchliche Arbeits-Sondergerichtsbarkeit tätigen Gregor Thüsing von der Universität Bonn mit Gutachten. Sie sollen Wege finden, wie das Urteil unterlaufen werden kann, natürlich rechtsförmig! Rieble mit ZAAR waren die wichtigsten Antreiber beim (Un)Rechtskonstrukt Werkvertrag, gegen die damals gesetzlich erweiterten Rechte für Leiharbeiter.[6] Thüsing interpretiert das EUGH-Urteil so: Es müsse zwar ein System zur Aufzeichnung der Arbeitszeit geben. Aber jeder Arbeitnehmer könne doch frei entscheiden, ob er sich erfassen lassen will. Also dann angewandt auf die rumänischen Fleischzerleger, gefragt von Clemens Tönnies oder dessen Anwaltskanzlei Schertz Bergmann: Möchtest du lieber, dass wir deine Überstunden aufzeichnen oder lieber nicht?
Thüsing weiter: Tarifvertrags- und Betriebsparteien könnten ihrerseits „intelligente Lösungen“ finden. Auch könnten bestimmte Arbeitnehmer vor allem in den oberen Rängen ganz von der Erfassung ausgenommen werden.[7]
Merke: „Intelligent“ ist, wer im Interesse der Kapitalisten ein Urteil des EUGH möglichst weitgehend unterlaufen kann. Wer so „intelligent“ ist, wird in Deutschland mit einem Professorentitel belohnt, und mit einem Gutachten durch den sozialdemokratischen Arbeitsminister.
EU: Dauerhafte Reservearmee für Billigarbeit
Die Kehrseite der „vorübergehenden“ Wanderarbeit als Dauerzustand: Das Reservoir in den unterentwickelt gehaltenen neuen EU-Staaten soll erhalten bleiben. Zeitlich begrenzte Billigarbeit in den reichen EU-Gündungsstaaten, wie auch mit den Spargelstechern und sonstigen Saisonarbeitern praktiziert – gleichzeitig werden die armen EU-Staaten in Osteuropa in volkswirtschaftlicher Unterentwicklung gehalten. So bleibt das erpressbare, stumme Reservoir für die mobile, austauschbare Reservearmee erhalten.
So wird auch die Lüge von den diversen „Facharbeiter-Lücken“ ständig weiter alimentiert.
Wenn sich die Bundesregierung nicht aus den EU-Regularien und EU-Praktiken verabschiedet, werden auch Tönnies & Co wie bisher ihren in den Richtlinien garantierten Wettbewerbsvorteil immer irgendwie erhalten können, mit neuen Umgehungs-Konstrukten und mit Billigung und Förderung von sich unwissend gebenden Dauer-Rechtsbrechern.
EU-finanzierte Komplizenschaft des DGB
In den Eckpunkten lobt das Bundeskabinett das Projekt „Faire Mobilität“. Es soll zur Durchsetzung des neuen Schutzprogramms fortgeführt werden. Es wird aus dem Sozialfonds der EU finanziert. Der DGB betreibt damit seit mehreren Jahren Beratungsstellen für ausländische Wanderarbeiter.
Die Mittel werden über das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zugeteilt. In 9 regionalen Beratungsstellen des DGB sollen „mobile Arbeitnehmer/innen aus den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten bei der Durchsetzung von gerechten Löhnen und fairen Arbeitsbedingungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt unterstützt“ werden.[8]
Die Beratungsstellen gehen nicht offensiv in die Betriebe, sondern warten auf verängstigte Werkvertragler, die es wagen, sich an die Beratungsstellen zu wenden. Die Beratung der wenigen Betroffenen beschränkt sich auf das Unmittelbare. Aber die individuelle Stärkung für den Gang vor Gericht oder die kollektive Stärkung etwa durch praktische Heranführung an die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft werden in diesem Gewerkschaftsprojekt nicht gefördert. Betriebsratsgründung? Noch nie gehört.
Die in der Schlachtindustrie praktizierten Rechtsbrüche werden von den DGB-Beratungsstellen nicht zur Anzeige gebracht – einmal, 2017, wurden zwei Arbeiter gegen die Tönnies-Werkvertragsfirma Besselmann vor Gericht vertreten, eine Ausnahme.[9] Dass der Status als Werkvertragler ein Rechtsbruch, ein Betrug ist, weil es sich in Wirklichkeit um Leiharbeiter handelt – keine Kampagne beim DGB.
Arbeits- und Gewerkschaftsrechte sind Menschenrechte – schon mal gehört?
Gegen die Vergessenheits-Strategie von Bundesregierung und Tönnies&Co ist ganz anderes nötig, damit sich die Betroffenen wirklich und dauerhaft wehren können: Frei in eine unabhängige Gewerkschaft eintreten! Kollektive Tarifverträge aushandeln! Das sind übrigens Menschenrechte, die gelten universell, überall, auch gegen bestehende Unrechts-Gesetze – schon mal gehört? Betriebsräte gründen! Sich aus der Mehrfach-Umklammerung der Werkvertragsfirmen lösen! Und auch ordentlich wohnen können!
Damit zum Beispiel auch die bisher betrogenen Werkvertragler jetzt ohne Erpressbarkeit vor deutschen Gerichten die Rechte einklagen können, die ihnen durch die Werkverträge vorenthalten wurden! Und damit die Vermieter die Wuchermieten zurückzahlen müssen!
Recht auf freie Meinung – angeblich, hab’ ich gehört, ein „europäischer Wert“. Aber nicht in der Arbeitswelt? Auch menschenwürdiges Wohnen ist ein Menschenrecht übrigens! Aber nicht für die Unterklassen aus den EU-Mitgliedsstaaten Bulgarien, Rumänien, Polen?
Es muss viel erneuert werden in Deutschland, in der Europäischen Union.
Aber jetzt erstmal: Menschenrechte in der Fleischindustrie! Und schon mal überlegen, was jenseits dieser Art (Un)Kultur von Tierhaltung, Schlachterei und Fleischfresserei sowieso besser ist!
[«1] Werner Rügemer: Hoch-Risikogruppe – Fleischarbeiter, www.nachdenkseiten.de 13. Mai 2020
[«2] Wikipedia: Eintragung Christina Schulze-Föcking, abgerufen 28.5.2020
[«3] Zane Rasnaca / Magdalena Bernaciak (Hg.): Posting of workers before national courts. European Trade Union Institute (ETUI), Brussels 2020, S. 14
[«4] Arbeitszeiterfassung: Suche nach dem Königsweg, Handelsblatt 14.1.2020
[«5] Werner Rügemer: Unternehmer als ungestrafte Rechtsbrecher, in: Klaus-Jürgen Bruder (Hg.): Gesellschaftliche Spaltungen, Gießen 2018, S. 207-222
[«6] Porträts von Rieble und Thüsing siehe Werner Rügemer / Elmar Wigand: Die Fertigmacher S. 134ff., 131f.
[«7] Arbeitszeiterfassung: Suche nach dem Königsweg, Handelsblatt 14.1.2020
[«9] Silke Clasvorbeck: Kein Grundsatzurteil über Umkleide- und Wegezeiten, dgbrechtsschutz.de 28.6.2017
Der Artikel erschien am 05.06.2020 auf https://www.nachdenkseiten.de Bild: https://www.labournet.de/