Im November 2022 verabschiedeten die katholischen Bischöfe der 27 Diözesen in Deutschland, gut in den Medien platziert, eine Änderung der „Grundordnung des kirchlichen Dienstes“. Was großartig klingt, meint allerdings nur das Ende der arbeitsrechtlichen Diskriminierung, wenn die Beschäftigten der katholischen Kirchen sich zu einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft bekennen oder wenn sie nach einer Scheidung wieder heirateten. Es ist weder die Aushandlung von Tarifverträgen auf Augenhöhe vorgesehen noch das Grundrecht auf Streik. Auch bei Fragen der Glaubens- und Meinungsfreiheit können Beschäftigte weiterhin von den Kirchenunternehmen sanktioniert werden, sogar bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes. Der ist beispielsweise vorgesehen, wenn Beschäftigte aus der Kirche austreten.
Der öffentlichkeitswirksame Vorstoß der katholischen Kirche zeigt wie so häufig in der Vergangenheit, dass bei beiden christlichen Kirchen kein ernsthafter Reformwille vorhanden ist und sie nur die Salamitaktik anwenden, immer nur so viel Veränderungen zuzulassen, wie sie unter dem jeweils aktuellen Druck sein müssen. Hatte doch die neue Bundesregierung die Anpassung des kirchlichen an das staatliche Arbeitsrecht erstmals im Koalitionsvertrag zum Thema gemacht und das Handeln bei den Kirchen damit angemahnt.
Ein aktuelles Rechtsgutachten, das das Hugo-Sinzheimer Institut der Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat, kommt zu dem Ergebnis, dass die Ungleichbehandlung von Beschäftigten der Kirchen nicht länger haltbar und nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt ist.
Die kirchlichen Unternehmen sind in eine unüberschaubare Anzahl von Einrichtungen und Rechtsträgern aufgesplittert, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts, als eingetragene Vereine oder gemeinnützige GmbH firmieren. Sie werden je nach Sichtweise und Interessenlage unterschiedlich zugeordnet und gezählt und bilden auch bei gleicher Trägerschaft einen bunten Flickenteppich.
Diese Einrichtungen haben sich zu profitablen Unternehmen mit ständig wachsenden Beschäftigtenzahlen entwickelt. Sie berufen sich immer noch auf die ihnen im Grundgesetz zugesicherte Kirchenautonomie und bestehen nach wie vor darauf, dass auf ihre Krankenhäuser, Altenheime und Beratungsstellen das Betriebsverfassungs- und das Mitbestimmungsgesetz nicht angewendet werden. Immer noch werden Verstöße gegen kirchenrechtliche Loyalitätspflichten mit verhaltensbedingten Kündigungen geahndet.
Das kirchliche Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht – fälschlich auch als Selbstbestimmungsrecht bezeichnet – wird von den Kirchen arbeitsrechtlich insbesondere in drei Richtungen ausgeübt:
- Für eine Mitarbeit in kirchlichen Einrichtungen wird von den mehr als 1,8 Millionen Beschäftigten eine Übereinstimmung mit den kirchlichen Glaubens- und Moralvorstellungen erwartet. Ein Verstoß gegen diese Loyalitätspflichten zieht arbeitsrechtliche Konsequenzen – bis hin zur Kündigung – nach sich.
- Anstelle eines Betriebs- oder Personalrates werden die kirchlichen Beschäftigten durch eine Mitarbeitervertretung an den betrieblichen Entscheidungen beteiligt.
- Die Löhne und andere grundlegende Arbeitsbedingungen werden überwiegend nicht im Rahmen von Tarifverhandlungen („zweiter Weg“) oder einseitig vom Arbeitgeber („erster Weg“) festgelegt, sondern durch Gremien, die paritätisch aus den Reihen der Beschäftigten und der Unternehmensleitung besetzt werden („dritter Weg“). Arbeitskampfmaßnahmen ( z.B. Streik und Aussperrung) sind nach Ansicht der Kirchen mit dem Dienst am Nächsten unvereinbar und werden deshalb ausgeschlossen.
Kirchliche Anstellungsträger unterbinden die Gewerkschaftsarbeit
Seit Mitte der 1970er Jahre sind gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte meistens mit Hilfe der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di dabei, immer wieder zu klären, inwieweit kirchliche Anstellungsträger die Gewerkschaftsarbeit unterbinden bzw. behindern dürfen.
Dabei ging und geht es meistens um
– das Werberecht, also um das Recht, neue Mitglieder zu werben und diese werbewirksam und agitatorisch zu informieren und Schriften, wie Flugblätter und Plakate zu verteilen und auszuhängen.
– das Informationsrecht und bedeutet neben dem Ausbringen von Informationsmaterial aber auch, dass die Mitglieder ihre Gewerkschaft über Belange der Arbeitsverhältnisse oder des Betriebes informieren können, um ihr eine sachgerechte Interessenvertretung zu ermöglichen.
– das Aushangrecht, es erfasst besonders auch das Recht, Info-Material am Schwarzen Brett anzubringen. Es besteht ein Anspruch darauf, ein gewerkschaftseigenes Schwarzes Brett an einer, allen Beschäftigten leicht zugänglichen Stelle anbringen zu lassen.
Es bleibt laut Bundesverfassungsgericht den gewerkschaftlich organisierten Betriebsangehörigen unbenommen, sich innerhalb des Betriebes werbend und unterrichtend zu betätigen.
Doch in der Praxis muss z.B. die Anbringung eines Informationsbretts als elementares Recht vor dem Arbeitsgericht für jede Einrichtung erstritten werden.
Für die gewerkschaftlich aktiven Beschäftigten eine zermürbende Sisyphosarbeit, die nach jeder Niederlage ganz von vorne wieder begonnen werden muss.
Die Beschäftigten im kirchlichen Bereich
Der Wettbewerb zwischen katholischen und evangelischen Einrichtungen und die Konkurrenz zu anderen Wohlfahrtsverbänden und privaten und öffentlichen Trägern prägt die Situation der kirchlichen Beschäftigten. Der Wettbewerb wird vor allem über die Löhne ausgetragen.
Bei der Gestaltung des Arbeitsrechts berufen sich die Kirchen auf die ihnen im Grundgesetz zugesicherte Kirchenautonomie und bestehen nach wie vor darauf, dass auf ihre Krankenhäuser, Altenheime und Beratungsstellen das Betriebsverfassungs- und das Mitbestimmungsgesetz nicht angewendet werden. Das bedeutet,
- die Beschäftigten bei kirchlichen Einrichtungen können keine Betriebsräte wählen, sondern nur Mitarbeitervertretungen, deren Rechte gegenüber den Betriebsräten stark eingeschränkt sind. Wenn es zu Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung dieser Mitbestimmungsrechte kommt, entscheiden nicht die staatlichen Arbeitsgerichte, sondern innerkirchliche Schlichtungsstellen. Deren Entscheidungen haben lediglich Empfehlungscharakter, da es keinerlei Durchsetzungsmittel wie im staatlichen Recht gibt,
- Arbeitskampfmaßnahmen wie Streiks sind bei den Kirchen ausgeschlossen. Um das Streikrecht wird seit Jahrzehnten vor Gerichten gestritten, ohne dass ein Durchbruch erzielt wurde,
- die Beteiligung der Mitarbeitervertretungen und oder gar der Gewerkschaften in Aufsichtsräten bzw. entsprechenden Aufsichtsgremien ist nicht vorgesehen. Anders als in der Industrie oder im öffentlichen Dienst schieben kirchliche Regelungen der Mitbestimmung einen großen Riegel vor. Dies widerspricht dem sonst von den Kirchen vorgetragenen Gedanken der „Dienstgemeinschaft“ aller Beschäftigten einschließlich der Leitungen,
- diese Dienstgemeinschaft, übrigens ein Begriff aus dem deutschen Faschismus, wird als Begründung herangezogen, weshalb mit Gewerkschaften keine Tarifverträge abgeschlossen werden (es gibt einige wenige Ausnahmen),
- Tarifverhandlungen mit einem möglichen Streikrecht sind nicht vorgesehen, mehr noch, den Gewerkschaften wird vorgeworfen, durch ihre Interessenvertretungspolitik den Gegensatz zwischen Beschäftigten und Unternehmen zu verschärfen, den es so in kirchlichen Einrichtungen gar nicht geben würde,
- statt über Tarifverträge wird das kirchliche Arbeitsrecht in innerkirchlichen Arbeitsrechtlichen Kommissionen (ARK) festgelegt, die zwar von der Anzahl her paritätisch besetzt sind, den kirchlichen Unternehmen aber einen bequemen strukturellen Vorteil bieten. Sie verhandeln ja nicht mit unabhängigen Gewerkschaftsfunktionären mit entsprechender Ausbildung, Erfahrung und Organisation im Rücken, sondern mit von ihnen abhängig beschäftigten Menschen. Sollte man sich in diesen Kommissionen nicht einigen, steht am Ende eine Zwangsschlichtung, deren Regularien wiederum die Kirche bestimmt,
- die Mitarbeitervertretungen können den Druck im Betrieb oft nicht aushalten, weil sie durch ihr abhängiges Beschäftigungsverhältnis erpressbar sind,
- Vorreiter für Lohnabsenkungen und prekärer Beschäftigung war ein Großteil der diakonischen Einrichtungen bereits 1998 bei der Einführung von „Leichtlohngruppen“, das kirchliche Arbeitsrecht, der sogenannte dritte Weg, wurde dafür missbraucht,
- mittlerweile hat jeder vierte Betriebsangehörige unter 34 Jahren, der bei der Kirche arbeitet, ein befristetes Arbeitsverhältnis und der Missbrauch von Werkverträgen und Leiharbeit in kirchlichen Einrichtungen hat extrem hohe Ausmaße erreicht
und
der Trend zum Outsourcing wurde bei kirchlichen Einrichtungen eingeläutet, wobei die Ausgliederung von Tätigkeiten in eigene Tochterunternehmen zur Lohnsenkung genutzt wird und die Entfernung unerwünschter langjährig Beschäftigter durch ein Insolvenzverfahren möglich machte.
Für die kirchlichen Träger gelten auch die gleichen Bedingungen bei Finanzierung und Wettbewerb um Klienten oder Arbeitskräfte. Sie betreiben genau so wie andere Unternehmen auch Tarifflucht, nutzen Leiharbeit oder befristen die Arbeitsverhältnisse ohne Sachgrund.
Seit Jahrzehnten schuften die „Programmkräfte“ in den Maßnahmen der Arbeitsverwaltung bei den Kirchen für „einen Appel und ein Ei“ oder als 1-Euro-Jobber
Seit den 1990er Jahren treten die Kirchen und ihre neu gegründeten Beschäftigungs- und Maßnahmeunternehmen auf dem Arbeitsmarkt auf und nutzen vor allem langzeitarbeitslose Menschen in den gut geförderten Maßnahmen brutal aus.
Die Maßnahmeteilnehmer werden bewusst vom ersten Arbeitsmarkt ferngehalten, auch weil sie für den Maßnahmeträger gut eingearbeitete vollwertige Arbeitskräfte sind und in den sogenannten Zweckbetrieben für Profit sorgen. Da sie rechtlich gesehen in keinem Beschäftigungsverhältnis stehen, haben sie auch keine Rechte, die sich aus einem regulären Normalarbeitsverhältnis ergeben. Sie sind den im Sozialgesetzbuch festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter ausgeliefert und damit verstoßen diese Maßnahmen gleich gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes, wie gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Berufsfreiheit oder das Koalitionsrecht.
Ehrenamtliche Arbeit
Die beiden Großkirchen betonen gern, dass sie in entscheidendem Maße auf das ehrenamtliche Engagement ihrer Mitglieder angewiesen sind. In der evangelischen und der römisch-katholischen Kirche engagieren sich jeweils rund eine Million Menschen freiwillig und unentgeltlich. Hinzu kommt die ehrenamtliche Arbeit unzähliger Menschen in Einrichtungen der zu Sozialkonzernen mutierten früheren christlichen Wohlfahrtsverbände der Diakonie und der Caritas. Der Beitrag der Frauen an dieser Mitarbeit ist mit einem Anteil von etwa 70 Prozent besonders hoch.
Bei dem Einsatz der ehrenamtlich arbeitenden Menschen entstehen neue Unterschichtungen zwischen Erwerbsarbeitsverhältnissen und Ehrenamtlichen bzw. den neuen Freiwilligen des Bundesfreiwilligen Dienstes. Das führt zu noch mehr Konkurrenz zwischen den ohnehin schon heterogenen Beschäftigtengruppen bei den Kirchen und zwischen Ehrenamtlichen, Freiwilligen und bezahlten Kräften. Eine Trennung zwischen Erwerbsarbeit und Engagement ist kaum mehr möglich.
Die ehrenamtlichen Arbeitskräfte haben schon immer gegen Gotteslohn als Lückenbüßer nicht besetzte Planstellen ausgleichen müssen, die dann mit öffentlichem Geld weiter voll ausfinanziert werden und der „Dienst am Menschen“ als Notdienst aufrechterhalten wird.
Der Personalmangel in den schlecht bezahlten Sozial- und Pflegeberufen lässt wieder einmal den Ruf nach verbindlicheren und verlässlicheren Strukturen beim Ehrenamt ertönen. Man möchte die engagierten Menschen stärker in vertragliche Vereinbarungen einbinden und in personell unterversorgte Bereiche noch mehr als bisher einsetzen, auch um mehr Planungssicherheit zu erhalten.
Weil Staat, Kirchen, Wohlfahrtsverbände und private Träger die sozialen und pflegerischen Arbeiten nicht regulär bezahlen wollen, erhöht sich der Bedarf an der „freiwilliger Arbeit“ immens. So ist es kein Zufall, dass wieder offen über die Einführung von Arbeitsdiensten im Sinne von „sozialen Pflichtjahren“ diskutiert wird. Die Umsetzung dieser Überlegungen scheitert derzeit noch daran, dass sie ohne Verfassungsänderung schwer zu realisieren wären, denn das Grundgesetz Artikel 12, Abs. 2 gebietet: „Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden“.
Wie aber die Erfahrungen mit dem Bundesfreiwilligendienst (BFD) zeigen, geht das auch einfacher. Dort wurde zwischen dem „Freiwilligen“ und dem „Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben“ eine Vereinbarung abgeschlossen, die mit einer Verpflichtung für einen vollen Arbeitstag (40 Stunden für unter 27-Jährige und 20 Stunden für über 27-Jährige wöchentlich) über mindestens zwölf Monate hinweg verbunden ist und mit einem Taschengeld (maximal 336,00 Euro monatlich) entlohnt wird.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund nennt diese Form des BFD eine „nicht gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung“.
Caritasverband blockiert das gesamte Projekt eines allgemeingültigen Tarifvertrags in der Altenpflege
Was passieren kann, wenn man die kirchlichen Unternehmen nicht endlich abbremst und klare Kante zeigt, wurde kürzlich wieder deutlich, als das gesamte Projekt eines allgemeingültigen Tarifvertrags in der Altenpflege vom katholischen Caritasverband kaputt gemacht wurde, weil er um den Verlust seiner kirchlichen Sonderrechte fürchtete.
Der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di war es gelungen, mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) einen Tarifvertrag über Mindestbedingungen in der Altenpflege zu vereinbaren. Die Stundenlöhne sollten stufenweise ansteigen, so dass sie rund 25 Prozent über dem bisherigen Pflegemindestlohn liegen. Vereinbart wurden auch mindestens 28 Tage Urlaub und ein zusätzliches Urlaubsgeld von mindestens 500 Euro. Um die Mindeststandards für Arbeitsbedingungen in der Altenpflege als Tarifvertrag allgemeinverbindlich zu erklären, war die Zustimmung der beiden großen kirchlichen Unternehmen in der Altenpflege Caritas und Diakonie, die Voraussetzung zu dem Verfahren. Der Deutsche Caritasverband hat dem geplanten Verfahren seine Zustimmung verweigert und damit das gesamte Vorhaben gesprengt, die evangelische Seite schloss sich dem an.
Es hätte einen bundesweiten Aufschrei geben müssen, der die Privilegien der Kirchen und die miese Situation der Beschäftigten dort skandalisiert.
Aber nein, das Thema scheint niemanden zu interessieren und man ist schon zufrieden, wenn z.B. die katholische Kirche an ihren Beschäftigten, die sich zu einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft bekennen oder wenn sie nach einer Scheidung wieder heirateten, keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen mehr vollstreckt.
Ob das überall umgesetzt wird ist fraglich, denn über die Änderung der „Grundordnung des kirchlichen Dienstes“ von November 2022 muss in jedem einzelnen Bistum bestimmt werden, es ist allein die Entscheidung des jeweiligen Bistums.
Vielleicht ist das im Folgenden vorgestellte Rechtsgutachten dazu behilflich, dass die permanente Blockadehaltung zukünftig nicht mehr vorkommt.
HSI-Rechtsgutachten: Arbeitsrechtliche Privilegien für Kirchen nicht mehr haltbar
Ein aktuelles Rechtsgutachten, das das Hugo-Sinzheimer Institut der Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat und nun veröffentlicht wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass die Ungleichbehandlung von Beschäftigten der Kirchen nicht länger haltbar, nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt und Änderungen zu Gunsten der kirchlich Beschäftigten rechtlich nicht nur möglich, sondern auch geboten sind.
Es kommt zu dem Schluss, dass es keine ausschließlich „eigenen Angelegenheiten“ der Kirchen mehr sein kann, wenn kirchliche Unternehmen privatrechtliche Arbeitsverhältnisse schließen, sondern dass das staatliche Arbeitsrecht anzuwenden ist. So könnten die Beschäftigten von Kirchen genauso streiken wie andere auch. Das Betriebsverfassungsgesetz sollte auch für sie gelten und die Sonderregelung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, die es u. a. erlaubt, kirchliche Beschäftigte wegen des Kirchenaustritts zu entlassen, müssten gestrichen werden.
Kirchliche Beschäftigte sind daran gewöhnt dass sich der Anstellungsträger in ihr Privatleben einmischt oder ihnen eine bestimmte Weltanschauung vorschreibt. Etliche, schon jahrelang beschäftigte Menschen haben in der Vergangenheit bei den Kirchen ihre Stelle verloren, weil sie sich beispielsweise für eine zweite Ehe oder eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft entschieden haben. Deutsche Arbeitsgerichte haben den Nachschnüffeleien der Kirchen regelmäßig ihren Segen erteilt, immer mit dem Verweis auf deren Selbstbestimmungsrecht.
Wie weit dieses Recht reicht, hat der ehemalige Arbeitsrichter Peter Stein, der an einem der Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshofs (EuGH) als Anwalt beteiligt war in dem HSI- Gutachten erörtert. Demnach sind die Grenzen enger gesteckt, als es die Rechtsprechung hierzulande über Jahrzehnte vorgegeben hat. So sei das kirchliche „Nebenarbeitsrecht“ spätestens nach mehreren Urteilen des EuGH nicht mehr haltbar, z.B. die Vorgaben, die in die private Lebensführung eingreifen und auf eine Ungleichbehandlung von Beschäftigten hinauslaufen, seien allenfalls bei „verkündigungsnahen“ Tätigkeiten rechtmäßig. In jedem Einzelfall müssten staatliche Gerichte und nicht die Kirchen selbst entscheiden, ob das zutrifft.
Bundesverfassungsgericht deutet Selbstverwaltungsrecht zu einem Selbstbestimmungsrecht um
Peter Stein erklärt, dass die Stellung der Kirchen im Staat im Grundgesetz in Artikeln geregelt, die aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen wurden. Dort befindet sich unter anderem auch ein „Recht der Glaubensgemeinschaften auf Selbstverwaltung innerhalb der Schranken des für alle geltenden Rechts“. Damit habe die Verfassung in erster Linie klarstellen wollen, dass für die Kirchen die gleichen Rechte wie für alle gelten. Doch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe den Artikel dagegen zu einer Schutznorm der Kirchen gegen den Staat umgedeutet und das kirchliche Selbstverwaltungsrecht hin zu einem Selbstbestimmungsrecht extrem ausgeweitet, insbesondere im Arbeitsrecht. Beispielsweise müssen bei Streitigkeiten, bei denen es um Verstöße von Beschäftigten gegen „Loyalitätspflichten“ geht, die Arbeitsgerichte laut BVerfG das Selbstverständnis der Kirchen als Maßstab zugrunde legen.
Europäischer Gerichtshof sieht in der „Überbetonung kirchlicher Sichtweisen“ einen Irrweg
Auch der EuGH hatte schon 2018 bestätigt, dass die „Überbetonung kirchlicher Sichtweisen“ ein Irrweg ist. Die EU-Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie enthalte zwar Ausnahmen vom Diskriminierungsverbot, die sich durch berufliche Anforderungen rechtfertigen lassen und auf die sich Kirchen berufen können, wenn sie zum Beispiel die Konfession als Einstellungskriterium verwenden. Allerdings seien diese Ausnahmen eng auszulegen, z.B. müsse der Aufgabenbereich, der ohne eine bestimmte Religion nicht ausgeübt werden kann, „quantitativ einen erheblichen Teil des gesamten Aufgabenfeldes ausmachen“. Zudem müsse die Diskriminierung „geeignet“ und sachlich notwendig sein. Bei verkündigungsnahen Tätigkeiten, beispielsweise als Pfarrer, Rabbi, Imam oder Religionslehrer, sei regelmäßig davon auszugehen, dass das der Fall ist.
Nicht dagegen, wenn es um Sportlehrer, Erzieherinnen oder Mediziner an konfessionellen Kitas, Schulen oder Krankenhäusern geht. In solchen Fällen sei das legitime Interesse der Kirchen durch „loyales und aufrichtiges Verhalten“ gewahrt. Nötig sei nur Rücksichtnahme auf die Werte des Anstellungsträgers, nicht Übernahme dieser Werte. Die Ungleichbehandlung dürfe sich zudem nur auf die Religion oder Weltanschauung beziehen, nicht aber auf die sexuelle Orientierung. Die Beweislast dafür, dass im Einzelfall Gefahr für ihr Ethos oder ihr Recht auf Autonomie besteht, liege vor Gericht bei den Kirchen.
Um für Klarstellungen im deutschen Recht zu sorgen und es in Einklang mit dem Unionsrecht zu bringen, sollten nach Peter Stein Anpassungen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz erfolgen. Die Frage, ob eine gerechtfertigte berufliche Anforderung vorliegt, dürfe sich nicht nach dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht bestimmen, sondern allein nach der Art der Tätigkeit.
Auch sollte der Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes auf kirchliche Einrichtungen ausgedehnt werden, weil über die kirchliche Mitarbeitervertretung neben den Interessen der Beschäftigten zugleich auch ein kirchliches Amt vertreten wird. Das Recht zu streiken steht kirchlichen Beschäftigten nach Peter Steins Einschätzung bereits jetzt zu, weil ohne dieses Recht keine Lohnverhandlungen auf Augenhöhe möglich sind.
Dienstleistungsgewerkschaft verdi lässt 1,8 Millionen als potentielle Mitglieder bei den Kirchen außen vor
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich die Gewerkschaften bei diesem Thema lieber zurückhalten und Probleme aussitzen, obwohl sie genau wissen, dass eine ungeheuer große Zahl von potenziellen Gewerkschaftsmitgliedern dort schuften. Man tut aber nichts substanzielles, auch weil die hauptamtlichen Gewerkschaftsleute genau wie die hauptamtlichen Kirchenleute sich zu Eliten vor Ort zählen und man lieber unter sich auf der mittleren Managementebene bleibt.
Wenn es hoch kommt, bietet die Dienstleistungsgewerkschaft mit dem hauptamtlichen Apparat Treffmöglichkeiten und Unterstützung in der Öffentlichkeitsarbeit an. Doch wenn es darauf ankommt, wie z.B. bei den Arbeitskämpfen der Erzieherinnen wurde und wird eine Vernetzung mit den kirchlichen Beschäftigten blockiert, Aktionen vor kirchlichen Einrichtungen kategorisch abgelehnt, einzelne Aktivitäten boykottiert und rechtliche Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Präsents in den Einrichtungen nicht nutzt. Werden Besuche vor Ort angemahnt, wird dem nur ungern nachgekommen, wenn es gelingt, werden dann an die Beschäftigten ver.di-Gummiquietsch-Enten verteilt. Währenddessen streitet die Gewerkschaftsbürokratie über die Frage, sich welcher Fachbereich nur eigentlich bei den Kirchen etwas machen sollte.
Selbst beim Kirchentag in Dortmund vor 3 Jahren mit seinen 120.000 Besuchern wurden die Situation der kirchlichen Beschäftigten und die Arbeitsrechtlichen Privilegien für Kirchen lediglich in einer kleinen Arbeitsgruppe abgehandelt.
Das neue HSI – Gutachten über die Arbeitsrechtlichen Privilegien für Kirchen könnte für die Dienstleistungsgewerkschaft endlich ein Anstoß sein, die Situation der Kirchenbeschäftigten stärker in den Blick zu nehmen. Nach wie vor ist der Erhalt der privilegierten Sonderstellung den Kirchen immer schon wichtiger, als die Verbesserung der Arbeitssituation ihrer Belegschaft.
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Weitere Informationen:
Peter Stein: Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im Arbeitsrecht und seine Grenzen, HSI-Schriftenreihe Band 47, Januar 2023.
Quellen: https://www.boeckler.de/ EKD, Kath. Bischofskonferenz, Ev. Kirchentag 2019, Bundesfreiwilligendienst, SGB II, Stadt Dortmund, WAZ Bildbearbeitung: L.N.