Arbeiten die Deutschen zu viel?

Von Suitbert Cechura 

Diese Frage stellt sich hierzulande natürlich niemand, obgleich die Produktivität der Arbeit ständig steigt und die Krankheitsstatistiken der Krankenkassen die negativen Gesundheitsfolgen der Arbeit dokumentieren. Stattdessen sind die Medien voll von Äußerungen von Industriellen, Politikern und Journalisten, dass die Deutschen zu wenig arbeiten. Was ist da eigentlich der Maßstab, an dem das zu viel oder zu wenig gemessen wird?

Die Produktivität der Arbeit steigt ständig

Diese Tatsache wird eigentlich von niemandem bestritten. Das heißt ja nichts anderes, dass für die Herstellung der verschiedenen Güter immer weniger Zeit aufgewandt werden muss. Um die Menschheit mit dem notwendigen zum Leben oder auch Annehmlichkeiten zu versorgen, braucht es also immer weniger Arbeit. Warum also die Forderung nach Mehrarbeit? Auch das ist kein Geheimnis: Es geht eben nicht um die Versorgung der Menschen mit einem Dach über den Kopf, Essen, Kleidung, Kultur und Urlaub, sondern alles ist Mittel des Geschäfts, Mittel, um aus Geld mehr Geld zu machen. Und für diesen Zweck gibt es nie ein Genug, sondern dieser Zweck ist maßlos und daher kann es nie genug lohnende Arbeit geben. Deshalb gibt es auch die Forderung nach ständigem Wachstum.

Vom Standpunkt der Versorgung könnte es auch reichen, wenn alle Menschen ausreichend versorgt und vergnügt sind, dass nicht die Wirtschaft, sondern die Freizeit wachsen könnte. Nicht so im Kapitalismus. Technische Neuerungen dienen daher auch nicht der Entlastung derer, die arbeiten, sondern sind ein Mittel in der Konkurrenz um Marktanteile, in der die Billigkeit der Produkte Konkurrenzvorteile verschafft. Billigkeit heißt eben auch, dass die Kosten für die Arbeitskräfte ebenfalls billig zu sein haben. Viel Arbeit für wenig Geld ist daher die ständig gültige Devise.

Das Wachstum der Wirtschaft in Deutschland stockt

Ein Zustand, der Wirtschaftsbossen, Politikern, Medien und Gewerkschaftern keine Ruhe lässt. Wirtschaftsbosse haben ein unmittelbares Interesse an der Vermehrung ihres Reichtums. Die Politik ist davon abhängig, dass in dem von ihr regierten Land möglichst viel Wachstum stattfindet, an dem sie sich durch Steuern bedienen kann. Und das umso dringlicher, da sich Deutschland auf einen Krieg vorbereitet, der jetzt schon viel kostet. Die Medien begleiten die Politik kritisch, ob ihr Handeln auch vom Erfolg für Deutschland gekrönt ist. Arbeitnehmer sind vom Gang des Geschäfts abhängig, das gilt Gewerkschaftern nicht als Übel, sondern sie haben es zum Anlass genommen, sich mehr um das Wohl von Unternehmen als um das ihrer Mitglieder kümmern.

Wenn nun alle Parteien ein Mehr an Arbeit von denen fordern, die arbeiten müssen und nicht von der Arbeit anderer leben, dann kann einem dies auch zu denken geben. Schließlich verzichten viele Großunternehmen gerade auf die Beschäftigung einer erheblichen Zahl ihrer Mitarbeiter. Entlassungen im großen Stil bei VW, Thyssen-Krupp, Siemens, ZF, Schäffler, Bosch, Ford usw. füllen die Titelseiten von Zeitungen. Mit der Forderung nach Mehrarbeit ist offensichtlich etwas anderes gemeint, als dass deutschen Unternehmen die Beschäftigten ausgehen würden. Gedacht ist bei dieser Forderung wohl an etwas anderes: Mehr Arbeit fürs gleiche oder weniger Geld. Das soll die Arbeit lohnender machen und die Gewinne für die Unternehmen wieder sprudeln lassen. Und dies Anliegen stößt in der deutschen Öffentlichkeit auf weitgehende Zustimmung und keinerlei Kritik.

Die nationale Einigkeit

Angestoßen wurde die Debatte im letzten Jahr von Wirtschaftsvertretern wie dem Telekom-Chef Tim Höttges . Die Politiker ließen sich nicht zweimal bitten mit vorne dran der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Und so fand die Forderung denn auch Eingang in den Koalitionsvertrag. Und auch die Gewerkschaft Verdi wollte sich dieser Forderung nicht verschließen und hat im Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes einer Verlängerung der Arbeitszeit zugestimmt.

Als nun der neue Kanzler vor wenigen Tagen dies als seine Forderung bekräftigte, gab es auch gleich eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die dieser Forderung Objektivität verleihen sollte.  Die Medien griffen diese Studien sofort begierig auf (Spiegel, Bild am Sonntag 18.5.2025, rtl-aktuell 18.5.2025). Bloß Zahlen sprechen nicht für sich, wie sie erhoben und in welches Verhältnis sie gesetzt werden spricht jedoch Bände: „Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat mit Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit  und Entwicklung  (OECD) berechnet, wie viele Stunden in den einzelnen Ländern je Einwohner im erwerbsfähigen Alter (15-64 Jahre) gearbeitet wurde.“ (BamS) Wenn die Stunden aller Menschen einer bestimmten Altersgruppe unterschiedslos zusammengezählt werden, dann heißt dies, dass diese Alterspopulation für eines da ist, ob Männlein, Weiblein, Jugendlicher oder Alter: zum Arbeiten zum Wohle der Nation. Erstellt wurde eine Rangliste, geordnet nach der Stundenzahl  in den einzelnen Ländern, in der Deutschland auf einem der letzten Plätzen rangiert.

Als Erfolgsmeldung für die Deutschen gilt dies allerdings nicht, wenn sie  weniger arbeiten müssen und mehr Freizeit haben. Schließlich ist der Erfolg Deutschlands nicht der Erfolg der Deutschen in Sachen Freizeit. Die Rangliste soll für die Konkurrenzsituation der einzelnen Länder stehen in Sachen Gewinn ihrer Unternehmen.  Und weil die Studie erstellt wurde, um den Anspruch auf Mehrarbeit zu untermauern, ist es auch völlig unerheblich, was die betreffenden Arbeitnehmer in den einzelnen Stunden leisten. Da werden Äpfel und Birnen zusammengezählt. Schließlich macht es einen Unterschied, ob ein Auto von Hand zusammengeschweißt wird oder durch einen Roboter. Im ersten Fall braucht es eine ganze Mannschaft, diese wird ihren Lohn los und überflüssig, wenn es reicht, dass ein Mensch die Roboter beaufsichtigt. Eine teure Investition, die sich durch die Lohneinsparungen schnell lohnt.

An der Bestimmung des Personenkreises, deren Arbeitsstunden wie auch immer berechnet wurden, fällt auf, dass es für die Untersuchung unerheblich scheint, wie lange Kinder oder Jugendliche sich in der Ausbildung befinden. Schließlich lernen sie ja, statt zu arbeiten, wozu sie offenbar da sind. Jede nicht geleistete Arbeitsstunde ist in dieser Rechnungsweise ein Minus.

Ein Ergebnis stößt allerdings auf, dass die Deutschen in den letzten Jahren nicht weniger gearbeitet haben. So antwortet der IW-Arbeitsmarktexperte  Holger Schäfer auf die Frage von Bild am Sonntag „Haben wir früher mehr gearbeitet?“: „Im Vergleich zu den 1970er Jahren arbeiten wir weniger, aber seit der Wiedervereinigung arbeiten wir tendenziell immer etwas mehr.“ (BamS) Das hindert allerdings einen Kanzleramtsminister Thorsten Frei in einem Artikel gleich neben der Darstellung der Studie nicht daran, das glatte Gegenteil zu behaupten: „Ungeachtet der Tatsache, dass es bei uns viele Menschen gibt, die sehr leistungsstark sind und sich reinhängen, ist die Pro-Kopf-Arbeitszeit der Deutschen in den vergangenen Jahren kontinuierlich nach unten gegangen.“ (BamS) So frei gehen Politiker eben mit der Wahrheit um und ihre Behauptungen werden zu Fakten. Wenn Studien nicht in allen Belangen das hergeben, was die Politik gerne hätte, dann ist die Politik so frei, sich die Fakten selber zu erfinden, und die Medien sind so frei, jedes Geschwätz von Politikern als Fakten zu verbreiten.

Die Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) sieht sich denn auch gleich gefordert, ihrem Kollegen beizuspringen und zu überlegen, wie Mütter schneller wieder in Arbeit gebracht werden können (SZ 19.5.2025) – zwar haben diese Mütter reichlich zu tun, aber Arbeit ist nicht gleich Arbeit, es geht eben immer um lohnende Arbeit für andere.

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Der Autor:

Suitbert Cechura ist Diplom-Psychologe und Psychotherapeut. Er arbeitete lange im Bereich der beruflichen Eingliederung junger Menschen mit Behinderung. Er hat mehrere Bücher geschrieben. Sein letztes Buch heißt „Unsere Gesellschaft macht krank – Die Leiden der Zivilisation und das Geschäft mit der Gesundheit“ und ist 2018 im Tectum Verlag erschienen.

 

 

 

 

 

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