Als zu Beginn der Corona-Pandemie die prekäre Personalsituation in den deutschen Kliniken zu einem öffentlichen Thema wurde, bestand für eine kurze Zeit die Chance, dass sich wirklich nachhaltig etwas am skandalösen Pflegenotstand ändern könnte. Doch die Hoffnung währte nur kurz. Es gab Applaus und warme Worte, geändert hat sich seitdem jedoch nichts. Nun liegt endlich der erste Referentenentwurf mit Eckpunkten für eine bessere Pflegepersonalregelung vor. 2025 soll das Gesetz dann allgemein gelten. Doch wie es derzeit aussieht, weist der Gesetzentwurf so viele Lücken auf, dass Karl Lauterbach vielleicht besser den Bundestag auffordern sollte, noch einmal eine Runde für die Pflegekräfte zu klatschen…
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist ein vielbeschäftigter Mann. Gäbe es für jeden Tweet ein Honorar – der Mann wäre heute Millionär. Abseits von PR-Arbeit in eigener Sache und seiner öffentlich ausgelebten Corona-Zwangsfixierung bleibt verständlicherweise wenig Zeit für andere Dinge. So überrascht es nicht wirklich, dass sein Ministerium erst jetzt die ersten Eckpunkte für eine „neue“ Rechtsverordnung vorlegt hat, die ihrerseits auf ein Konzept für ein neues “Pflegepersonalbemessungsinstrument” (PPR 2.0) aufsetzt, das Lauterbachs Amtsvorgänger Jens Spahn bereits im Januar 2020 – also vor mehr als zweieinhalb Jahren – vom Deutschen Pflegerat, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und Verdi übergeben wurde. Doch bei diesen zweieinhalb Jahren wird es nicht bleiben.
Zur Erinnerung: Im Oktober 2019 wurde endlich seitens des Gesetzgebers eine „Personaluntergrenze“ für das Pflegepersonal verabschiedet. Diese Regelung wurde jedoch nie ernsthaft befolgt, da es weder Kontrollen noch nennenswerte Sanktionen gab, und „wegen Corona“ ohnehin, kaum war sie in Kraft, wieder ausgesetzt.
Nun soll alles besser werden. Zum 31. Januar 2023 soll nun erst einmal ein Sachverständigenrat eine Verordnung zur Personalbemessung im Pflegesystem vorbereiten und dazu zum 31. August 2023 einen Abschlussbericht vorlegen. Zum 30. November 2023 will das Ministerium dann einen ersten echten Gesetzesentwurf vorlegen, ab 2024 soll das neue Gesetz dann erst einmal gelten, wobei Verstöße erst ab 2025 sanktioniert werden sollen. Fünf verlorene Jahre.
Um was geht es eigentlich bei diesem Gesetz? Bislang ist es den Krankenhäusern de facto freigestellt, wieviel Pflegepersonal sie einsetzen. Personal kostet Geld und da die Erträge des „Wirtschaftsunternehmens“ Krankenhaus nicht an die Krankenpflege gekoppelt sind, besagt die betriebswirtschaftliche Logik, dass ein niedriger Personalstand gut für Rendite ist. Gerade für die renditeorientierten privaten Krankenhauskonzerne ist dies der entscheidende Punkt. Vergessen Sie das ganze Gerede von Qualität und sozialer Verantwortung – es geht ganz profan ums Geld.
Wohin diese Fehlentwicklung geführt hat, beobachten wir seit Jahren. Immer mehr Mitarbeiter verlassen die „Knochenmühle“ Krankenhaus und junge Menschen haben verständlicherweise immer weniger Lust, einen Beruf in der Pflege zu erlernen. Versuche, die Lücke mit ausländischen Pflegekräften zu schließen, schlugen fehl. Wer qualifiziert ist, geht in ein Land, in dem der Job besser bezahlt ist und die Arbeitsbedingungen besser sind. Wer nicht ausreichend qualifiziert ist, findet zwar in Deutschland einen Job, wirft aber oft auch genauso schnell wieder hin und kehrt in sein Heimatland zurück. Sprach- und kulturelle Barrieren tun ihr Übriges.
So gibt es in der Tat einen faktischen Fachkräftemangel, dennoch mangelt es nicht an Fachkräften. Nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung ließen sich alleine in der Krankenpflege bis zu 378.000 Vollzeitstellen besetzen, wenn man das Personal wieder zurückholt, das aufgrund der Überlastung entweder dem Job ganz den Rücken gekehrt hat oder ihn nur noch in Teilzeit bewältigen kann.
In der Pflege gibt es einen Teufelskreis. Weil die Arbeitsbedingungen so schlecht sind, verlässt das Personal die Häuser, und die Arbeitsbedingungen sind so schlecht, weil es nicht genügend Personal gibt. Dieser Teufelskreis lässt sich nur dadurch brechen, dass massiv Personal eingestellt wird. Um dies zu erreichen, müssen die Krankenhäuser gezwungen werden, mehr Personal auf den Stationen einzusetzen; denn nur dann sinkt die Belastung und nur dann findet man überhaupt die nötigen Mitarbeiter.
Aber wie kann man Krankenhäuser zwingen, Personal einzustellen? Schon heute gibt es schließlich sogenannte Pflegeschlüssel, die in einigen Bereichen eine – immer noch zu geringe – Mindestbesetzung vorschreiben. Doch diese Vorschriften sind eigentlich eher unverbindliche Empfehlungen. Die Einhaltung der Mindestbesetzung wird nicht kontrolliert und man hat den Krankenhausbetreibern einen ganzen Wust an Möglichkeiten mit auf den Weg gegeben, um die Zahlen zu schönen. So werden beispielsweise in vielen Häusern Mitarbeiter aus dem administrativen Bereich, wie Stationssekretärinnen, einfach als Pflegepersonal mitgerechnet und Springer sowie Bereitschaftskräfte werden einfach in allen Stationen als Vollzeitkräfte mitgezählt, die laut interner Regelung Zugriff auf diese Mitarbeiter anmelden können. Kontrolliert wird das ohnehin nicht, Sanktionen sind die absolute Ausnahme. Und selbst wenn einmal sanktioniert wird, ist der wirtschaftliche Verlust dadurch wesentlich geringer als die Personalkosten, die nötig wären, um den Pflegeschlüssel zu erfüllen. Stellen Sie sich das wie eine Parkuhr vor, die 20 Euro pro Stunde verlangt, obgleich ein Ticket wegen Falschparkens nur fünf Euro kostet und ohnehin niemand kontrolliert. Wer würde da Geld in die Parkuhr werfen?
Leider lassen die Eckpunkte der gesetzlichen Neuregelung vermuten, dass auch Lauterbachs „große“ Reform genau die Umgehungsmöglichkeiten eingebaut hat, die dazu führen, dass auch das neue Gesetz in der Praxis keine großen Auswirkungen haben wird. So berichtet das Ärzteblatt, dem der erste Rohentwurf vorliegt, dass es dort an einer Stelle heißt, dass sich „die Festlegung der Erfüllungsgrade […] an realisierbaren Werten orientieren und die Lage auf dem Arbeitsmarkt für Pflegekräfte berücksichtigen“ soll. Das ist paradox. Wenn Krankenhäuser nicht gewillt sind, mit besseren Arbeitsbedingungen oder Löhnen zusätzliche Pflegekräfte am Arbeitsmarkt für sich zu gewinnen, ist dies lt. Gesetz ein Ausnahmezustand, der dazu führt, dass diese Pflegekräfte nicht mehr zwingend eingestellt werden müssen. Das ist exakt die Behauptung, mit der die Lobbyisten der Krankenhauskonzerne und die einzelnen Häuser seit Jahren hausieren gehen. Na klar, wer sich ernsthaft bemüht, Arbeitskräfte zu bekommen, wird auch kein Personal bekommen. Wer 1.000 Euro für einen Porsche bezahlen will und kein Angebot bekommt, sollte lieber nicht von einem Porsche-Mangel schwadronieren. Und wer Pflegekräften nur schlecht bezahlte Jobs auf überlasteten Stationen im unattraktiven und aufreibenden Schichtdienst anbietet, sollte lieber nicht von einem Fachkräftemangel schwadronieren.
Als zweite große Umgehungsmöglichkeit sieht der Entwurf vor, dass Häuser, die sich über tarifvertragliche oder andere vertraglich getroffene Vereinbarungen zur Entlastung des Pflegepersonals abgesichert haben, generell nicht unter die neuen Regelungen fallen. In einer Branche, in der weniger als zehn Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind, es nur so von „Gewerkschaften“ wimmelt und so mancher Betriebsrat froh über jedes kleine Zückerli ist, das man ihm anbietet, ist diese Ausnahmeregelung geradezu fatal. Es wäre ein Wunder, wenn es nicht bis zum Jahr 2025 nur so an Entlastungstarifverträgen hagelt, mit denen die Regulierungen des neuen Gesetzes ausgehebelt werden. Und wer mag den Betriebsräten hier einen Vorwurf machen? Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Schließlich ist es noch lange nicht ausgemacht, dass sich durch das Gesetz auch faktisch etwas ändert.
Die große Unbekannte sind und bleiben nämlich die Sanktionen. Hier gäbe es abseits hoher Strafzahlungen ja durchaus Mittel und Wege, die Krankenhausbetreiber „sanft“ zu zwingen, mehr Personal einzustellen. Wenn ein Haus beispielsweise nicht auf allen Stationen genügend Personal vorhalten kann, so könnte man es zwingen, einzelne Stationen zu schließen – und zwar nicht die ohnehin oft defizitären Stationen, die zur medizinischen Grundversorgung zählen, sondern die berühmten „Cash Cows“, also die Fachabteilungen, die fette Gewinne abwerfen.
Letzten Endes verstehen die Krankenhauskonzerne nur eine Sprache – und das ist die Sprache des Geldes. Nur wenn es ökonomisch sinnvoll ist, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und mehr Personal einzustellen, wird dies auch passieren. Ein Gesetz, das dies ermöglicht, müsste harte, zielgenaue und vor allem teure Sanktionen beinhalten, die nicht so einfach umgangen werden können. Wenn aber schon der erste Entwurf an entscheidenden Stellen so wirkt, als stamme er aus der Feder der Lobbyisten von Asklepios, Helios oder Fresenius, ist die Erwartungshaltung gering, dass am Ende für die Pflegekräfte mehr herausspringt als eine Runde Applaus.
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