Kalte Wut macht keinen warmen Winter – Wie schon die Hartz-Proteste die „leistungskonforme Sozialpolitik“ nicht verhindern konnten

Von Mag Vompel

Zu Recht ist breit die unstrittige Notwendigkeit von sozialen Protesten gegen die (mal wieder) einseitige Abwälzung der Kosten der Profit-Preis-Spirale nicht nur im Energiesektor Thema. Richtig und wichtig sind dabei Überlegungen um die Protestformen, will mensch einerseits möglichst viele der ausnahmslos betroffenen Lohnabhängigen einbinden, dabei andererseits deren abzuschreckenden Vorab-Diffamierungen trotzen und sich dabei von rechten Mobilisierungen distanzieren. Zu kurz gerät dabei die Diskussion der bei den Protesten zu stellenden Forderungen, dabei können die richtigen Ziele den wirksamsten antifaschistischen Schutzwall darstellen und für ihre nicht nur ökologische Nachhaltigkeit sorgen.

Das, was wir gerade erleben und erleiden ist nichts Neues, mögen es auch neue Gründe sein, warum „wir“ den berühmten Gürtel enger schnallen sollen (#Opferbereitschaft!). Natürlich verkürzend erinnere ich aus der jüngsten Vergangenheit an die – durchaus stattgefundenen – Proteste gegen die Hartz-Gesetze (2004/05), die Finanzkrise (2007ff), die Flüchtlings“krise“ und Festung EU (2015ff) und seit 2 Jahren die Corona-Pandemie. Gemeinsam ist diesen Bewegungen, dass sie für uns linke Menschen das Problem beinhalteten, sich gegen rechte Okkupierungen zu wehren. Und ihre Erfolglosigkeit. „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ war dabei der Grundtenor – doch erst wurden dennoch (zu Lasten gesellschaftlicher Daseinsvorsorge) die Banken gerettet, dann die Pandemiegewinner, nun die Energiekonzerne…

Lange habe ich übrigens als (leider durchaus verdiente) Beleidigung empfunden, dass die Politik den Respekt vor uns Bürger:innen verloren hat, uns wenigstens anständig zu belügen. Diese Offenheit hat allerdings den nun offensichtlichen Vorteil der immer breiteren Desillusionierung.

Erfreulicherweise gibt es breite Wut darüber, wie offensichtlich ausgerechnet die armutsbetroffenen Menschen die Zeche zahlen sollen für immer brutalere Folgen der jahrzehntelangen Politik der Umverteilung und Gewinnsicherung zugunsten des Kapitals und zu Lasten der Gesellschaft, ihrer Infrastruktur wie der Umwelt. Es ist breite und berechtigte Empörung über verletztes Gerechtigkeitsempfinden zu spüren.

Doch wer sich nur moralisch empört und höchstens für gerechtere Behandlung des „kleinen Mannes“ oder gar “ sozial Schwacher“ protestiert (und diese Titulierung akzeptiert), wird sich nicht wundern dürfen, mit einer kurzfristigen Befriedung abgespeist zu werden, die schlimmstenfalls eine „gerechte“ Angleichung nach unten darstellt und keinesfalls die andauernde Umverteilung von unten nach oben tangiert. An den drängenden sozialen Unzumutbarkeiten und dramatischen Umweltfolgen werden und können auch 100 Euro von den 100 Milliarden nichts ändern.

Daher ist es richtig und wichtig, dass nun eine Debatte stattfindet, wie die Proteste dieses Mal erfolgreicher gestaltet werden können – egal ob gegen Gasumlage, drohende Obdachlosigkeit oder für die Fortführung des 9-Euro-Tickets etc. (ich verzichte hier auf Beispiele und verweise auf die Berichterstattung im LabourNet Germany in den diversen Dossiers).

„Erfolgreicher werden“ wird dabei meist mit der wachsenden Größe der Proteste gleichgesetzt. Zwangsläufige Folge ist die – durchaus gesehene – Gefahr, dass ein linker Populismus sich an rechte Mobilisierungsstrategien der einfachen (und durchaus berechtigten) „Wut auf die da oben“ annähert. Schon hat sich der Hashtag #Wutwinter (leider) durchgesetzt…

Übrigens sollten wir Linke (ich meine damit immer die Bewegung) selbstbewußter werden und aufhören, unsere Forderungen daran zu messen, ob sie denen der Nazis gleichen – was sie wollen, wollen sie immer nur für sich, teutsche. Wofür wir kämpfen, sollten wir für alle wollen und nicht nur hier.

Doch die Erfahrungen der Proteste gegen die Hartz-Gesetze haben bereits auch gezeigt, dass „in die Breite gehen“ bedeuten kann, für kosmetische Linderungen auf wesentliche Veränderungen der Politik zu verzichten. Denn diese setzen auch Veränderungen in den Köpfen (und im Verhalten) der betroffenen Bevölkerungsteile voraus.

Am Scheitern der Proteste gegen die Hartz-Gesetze, die die Sozialpolitik endgültig ökonomisiert haben, war nicht die mangelnde Masse schuld. Es war die breit verankerte Ideologie der „Leistungsgerechtigkeit“, die durch latente Akzeptanz des Menschenbildes der Agenda 2010 dem Widerstand das Genick gebrochen hat. Ich erlaube mir, meine eigene Kritik von 2005 zu zitieren (Mag Wompel: Vom Protest zur Revolte?):

„… die bei vielen der Montagsdemos verbreitete Kritik an Hartz IV, nach Jahrzehnten des Buckelns und nach nur 12 bzw. 18 Monaten auf das Sozialhilfeniveau zu fallen, bezeugt ein für Spaltungen und Sozialneid anfälliges Gerechtigkeitsverständnis. Anstatt diesen Versicherungsbetrug als solchen anzuprangern – wie auch die Tatsache, dass Sozialversicherungen allgemein durch die zunehmende Privatisierung der Lebensrisiken zu verdeckten Steuern verkommen – grenzt man sich vielmehr von als »Schmarotzern« empfundenen Sozialhilfeempfängern ab, während es (im Gegensatz zu den Angriffen auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) jahrzehntelang nicht kümmerte, dass sie längst unter der Hartz’schen Verfolgungsbetreuung litten und ihre Grundsicherung kontinuierlich gekürzt wurde. Diese an den Sozialhilfeempfängern erprobten Maßnahmen wurden erst als menschenunwürdig erkannt, als es auch die Menschen betraf, die sich bislang fernab und als »bessere Gesellschaftsmitglieder« wähnten. »Ein diskriminierendes, verarmendes, repressives System wird angeklagt, weil es einen selbst trifft – ein interessantes Phänomen, das allerdings in dieser Gesellschaft voller Untertanen zum gängigen Bewusstseinsrepertoire gehört.« Dieser Haltung müssen wir unbedingt eine solidarische entgegensetzen, bevor uns die andauernde Massenerwerbslosigkeit weitere Spaltungen beschert. (…)
Als die größte Klippe für wirksame einheitliche Proteste und den Widerstand gegen die Hartz-Gesetze hat sich die breite Akzeptanz des Leistungsprinzips und der Lohnabhängigkeit als einziger Quelle der Existenzsicherung erwiesen. Dies gilt für die Gewerkschaftsbürokratie gleichermaßen wie für die meisten der (noch?) beschäftigten wie erwerbslosen Lohnabhängigen selbst. (…)
In dieser gewollten Konzentration auf das Notwendige, auf die blanke Existenz, sollen wir alle Hoffnungen und Träume von Menschenwürde, Luxus und Muße vergessen. Denn die Praxis von Hartz und Agenda 2010 heißt Entwürdigung: um den Job zu bekommen oder um ihn zu behalten. Grundrechte als unveräußerliche, also auch »unverdiente« werden abgeschafft, denn »nichts ist umsonst«. Neben dem ökonomischen Elend, das dadurch keinesfalls vernachlässigbar wird, muss auch dieses kulturelle Elend in den Blick geraten, wenn Protest und Widerstand nicht nur bloße Abwehr, sondern auch ein wirklich besseres Leben bewirken sollen. Denn bloß den schon immer repressiven Sozialstaat verteidigen zu wollen, beließe uns in der Defensive und überließe uns permanent erneuten Zumutungen und Angriffen
…“

Es ist traurig, die Kritik aus aktuellem Anlaß wiederholen zu müssen. Denn der immer noch breit vorhandene Glaube an die prinzipielle „Leistungsgerechtigkeit“ auch bei durchaus breiter Kritik an der „neoliberalen“ aktuellen Politik mag zwar viele aus der berühmten „Mitte“ gegen das verletzte moralische Empfinden auf die Straße locken. Aber mit „Leistungsgerechtigkeit“ wird genau diese Politik gerechtfertigt. Die Spaltung der Belegschaften, die Spaltung in den Sozial-, Kranken- und Rentensystemen. Die Spaltung in „faule“ Arme, Erwerbslose und „Leistungsträger der Gesellschaft“ – die nicht erst Lindner betreibt. Und nicht zuletzt legitimiert die „Leistungsgerechtigkeit“ die Ausgrenzung nicht „verwertbarer“ Migrant:innen, wie sie CDU/CSU nicht erst seit 2014 betreibt und sie gerade eben in Freiburg in der Ausweisung einer Pflegekraft mündet. Überhaupt können nicht nur Pflegekräfte belegen, wie verlogen „Leistungsgerechtigkeit“ gerade bei „systemrelevanten“ Berufen buchstabiert wird…

Will ein berechtigter Protest daher nicht nur zum Dampfablassen (womöglich auch nur am Stammtisch) dienen, darf er nicht bei (moralischen) Forderungen nach „Gerechtigkeit“ stehen bleiben, schon gar nicht, wenn sie lauten, dass AUCH die Reichen sparen sollen.

Natürlich ist alles richtig, vom Abschiebestopp über Lohnerhöhung, Mieten- und Gaspreisdeckel, Anhebung aller Sozialleistungen bis zur Übergewinnsteuer und Wiedereinführung der Vermögensteuer usw.

Doch so wie bei der Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld eine höhere Grundsicherung die größte Not lindert, doch keinesfalls gleichberechtigte Bürger:innenrechte sicherstellt, ist eine Gaspreisbremse (bzw. Gaspreisdeckel) nur der kurzfristige Tropfen auf dem heißen Stein gegenüber der notwendigen Enteignung und Vergesellschaftung nicht nur der Immobilien- und Energiekonzerne, sondern aller Bereiche der Daseinsvorsorge, der gesamten sozialen Infrastruktur. Durch Gemeingüter unter gesellschaftlicher Kontrolle ließen sich auch die Lehren der Pandemie und die Notwendigkeiten der Klimakatastrophe verbinden.

Und, ja, natürlich kommen wir um die Überwindung des Kapitalismus nicht vorbei. Die weltweite ökonomische Entwicklung seit Beginn des Ukraine-Kriegs stellt sich zunehmend als eine Systemkrise dar und es gibt bereits wachsende Kritik – hatten wir schon 2007ff selbst in bürgerlichen Feuilletons… Um diese Kritik in richtungsweisende Forderungen zu lenken, müssen wir Linke eine erotischere Vision liefern (und vorleben), als „gleiches Elend für alle“, wie sozialistische Ideen breit übersetzt werden.

Auch das „richtige“ Fordern allein ändert natürlich nichts, auch wenn die Höhe der Tarifforderungen z.B. schon einiges über die Kampfwilligkeit aussagt. Aber so, wie ich immer die Forderung nach einem BGE als „trojanisches Pferd“ für die Loslösung vom „Fetisch Lohnarbeit“ bezeichne, können Forderungen nach Entprivatisierung der gesellschaftlich relevanten Wirtschaftsbereiche ein Ende des Kapitalismus denkbar und verlockend machen – und zugleich Nazis und ihre Mitläufer:innen abschrecken.

Und: Noch vor dem Ende des Kapitalismus muss das Recht auf soziale bedingungslose Grundrechte und Infrastruktur breit als notwendige und machbare Selbstverständlichkeit verankert werden, sonst wird das neue System kein emanzipatorisches. Auch deshalb droht die Selbstbeschränkung auf aktuelle, die Not bloß lindernde Forderungen ohne diese Basis möglichst vieler lohnabhängiger Menschen, die sich an den Grenzen des kapitalistischen Systems reiben, die Emanzipation zu behindern.

Offensichtlich (doch!) breit bestehende Bedürfnisse nach einer gerechten und soldarischen Gesellschaft müssen daher alltäglich – so weit wie möglich – gelebt werden und nicht nur wöchentlich gefordert. Solidarisch zur Seite und nach „Unten“, respektlos nach „Oben“ – ich nenne es bisher „Linkssein im Alltag“ – es muss ein breit gelebtes „Menschsein im Alltag“ werden. Erst wenn der Protest auf der Straße die Krönung und keinen bloßen Puffer darstellt, hat er das Potenzial, wirksam und nachhaltig zu werden.

 

Siehe zum Hintergrund von vielen:

 

 

 

 

 

 

Kurzlink:  https://www.labournet.de/Bild: verdi.de