Es braucht keine jahrelange Marx-Lektüre, um zu verstehen: eine soziale Wohnversorgung und private Renditeinteressen schließen sich aus. Die Forderung nach der Enteignung großer Immobilienkonzerne mag radikal klingen – nüchtern betrachtet ist sie die Quittung für jahrzehntelanges Versagen von Politik und Immobilienwirtschaft.
Die Mieterproteste in Berlin und anderen Städten haben die Wohnungsfrage zurück auf die politische Agenda gesetzt. Während Politik und Wohnungswirtschaft das von Mieterinitiativen gestartete Volksbegehren zur Enteignung großer Wohnungskonzerne mit Vehemenz zurückweisen, können viele Mieterinnen und Mieter der Forderung durchaus etwas abgewinnen. Umfragen zeigen, dass zumindest in Berlin eine Mehrheit der Befragten Sympathien für die radikal klingende Forderung hegt. Das ist kein Wunder, denn die zugespitzte Wohnungsmarktsituation verunsichert die Einwohner vieler Städte.
Noch vor ein paar Jahren galt Deutschland als fertig gebaut. Wohnungsnot wurde allenfalls als Problemlage von gesellschaftlichen Randgruppen diskutiert. Heute steigen in den großen Metropolen die Grundstückspreise, die Neubaukosten und die Mieten rapide. In einer Untersuchung für die Böckler-Stiftung, haben zwei Kollegen und ich die Wohnversorgung in deutschen Großstädten untersucht und die Wohnkosten mit den Haushaltseinkommen verglichen. Ein Ergebnis war: vier von zehn Haushalten geben mehr als 30 Prozent ihres Einkommens ausgeben, um ihre Miete zu bezahlen. Eine Mietkostenbelastung von 30 Prozent gilt in den sozialpolitischen Debatten als leistbar, weil bei höheren Mieten das Geld am Ende des Monats nicht für ein anständiges Leben reicht. Vor allem Haushalte mit geringen Einkommen sind auf halbwegs günstige Mieten angewiesen, um nicht von Sozialleistungen abhängig zu sein. Schon jetzt gibt es in den Großstädten 1,3 Millionen Haushalte, denen nach der Mietzahlung weniger bleibt als der Regelsatz nach Hartz IV.
Der Wohnungsmarkt vergrößert die soziale Ungleichheit
Wenig überraschend bestimmt das Einkommen die Wohnsituation. Haushalte mit höheren Einkommen wohnen im Durchschnitt in besser ausgestatteten, größeren und schöneren Wohnungen und haben es auch bei der Wohnungssuche einfacher, ein passendes Angebot zu finden. Es ist die Marktlogik, die den Platz in der Stadt nach der Größe des Geldbeutels zuweist. Reiche wohnen, wo sie wollen, Arme wohnen, wo sie müssen.
Doch die Einkommensunterschiede werden in der Wohnungsversorgung nicht nur gespiegelt, sondern sogar noch verschärft. Während Haushalte mit Einkommen von über 140 Prozent des Medianeinkommens durchschnittlich 17 Prozent davon für das Wohnen ausgeben müssen, liegt die Mietbelastungsquote bei Haushalten unterhalb der statistischen Armutsgrenze (weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens) bei etwa 40 Prozent. Diejenigen, die deutlich weniger haben, müssen davon mehr abgeben.
Insgesamt gibt es in den deutschen Großstädten knapp 5 Millionen Haushalte, die geringe Einkommen haben oder sogar unter der Armutsgrenze leben müssen. Eine soziale Wohnversorgung mit leistbaren Mieten würde Wohnungen mit Mietpreisen zwischen 4,50 und 6,00 Euro pro Quadratmeter voraussetzen – Wohnungen, die nur von wenigen Genossenschaften und öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften angeboten werden. Schon jetzt fehlen fast 2 Millionen leistbare Wohnungen in den Großstädten. Mit einer Versorgungslücke von über 300.000 leistbaren Wohnungen ist Berlin unangefochtene Spitzenreiterin in dieser Kategorie. An dieser Versorgungslücke wird sich wenig ändern, so lange Unternehmen auf den Wohnungsmärkten vor allem viel Geld verdienen wollen.
Von der alten Idee des sozialen und gemeinnützigen Wohnungsbaus, die Einkommensunterschiede in der Wohnversorgung auszugleichen, ist nicht viel geblieben. Durch die Kürzung der Fördermittel, die Aufhebung der Gemeinnützigkeit und die Privatisierungen öffentlicher Wohnungsbaugesellschaften gibt es immer weniger Wohnungen, die unterhalb der Durchschnittsmieten angeboten werden oder einer Belegungsbindung unterliegen. So hat sich Bestand von 2,9 Million Sozialwohnungen im Jahr 1990 auf etwa eine Millionen verringert. Auch in den kommenden Jahren werden mehr Bindungen auslaufen, als neue Sozialwohnungen hinzukommen. Grund dafür ist die Fördersystematik, die in den geförderten Wohnungen die Mietpreis- und Belegungsbindungen auf 20 bis 30 Jahre begrenzt.
Gemeinnütziger Wohnungsbau wird seit 1989 nicht mehr begünstigt
Haben die Fördernehmer – oft private Wohnungsunternehmen – alle öffentlichen Darlehn zurückgezahlt, enden auch die Sozialbindungen. Ehemalige Sozialwohnungen können dann teurer vermietet, aufwendig saniert oder auch in Eigentumswohnungen umgewandelt werden. Der österreichische Wohnungsforscher Christian Donner beschreibt das deutsche Fördersystem des Sozialen Wohnungsbaus deshalb völlig zu Recht als eine „Wirtschaftsförderung für private Investoren mit sozialer Zwischennutzung“. Vorschläge für Förderprogramme mit dauerhaften Bindungen werden im Bundestag und auch von den Verbänden der Wohnungswirtschaft regelmäßig mit der Begründung abgelehnt, dass die Wohnraumförderung dann für private Investoren nicht mehr attraktiv sei.
Allein die Vorstellung, dass mit Sozialwohnungen Gewinne erzielt werden sollen, ist absurd. Doch seit der Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit ist genau dies der Weg, den die Wohnungspolitik eingeschlagen hat. Im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Bereichen gibt es in der Wohnungsversorgung seit 1989 keine steuerlichen Begünstigungen für gemeinnützige Unternehmen mehr. Dabei würde die weitgehende Gewinnbeschränkung, die mit der Gemeinnützigkeit verbunden ist, einen deutlich entspannenden Effekt auf die Mietentwicklung haben. Gemeinnützige Wohnungsunternehmen wäre es nicht erlaubt, ihre Mietpreise nach Marktlage zu bestimmen – sie dürften nur so viel verlangen, dass die tatsächlichen Kosten gedeckt werden.
Gerade in älteren Immobilien – wenn alle Kredite für den Bau zurückgezahlt sind – wären Mietpreise zwischen drei und vier Euro den Quadratmeter möglich, ohne die Wohnungsunternehmen in den wirtschaftlichen Ruin zu treiben. Dass uns solche Mietpreise heute als völlig unrealistisch erscheinen, hat viel mit der Aufhebung der Gemeinnützigkeit zu tun: In den vergangenen 30 Jahren mussten sich die Mieterinnen und Mieter daran gewöhnen, dass Angebot und Nachfrage und nicht die Kosten den Preis für das Wohnen bestimmen. Die Vorschläge zur Einführung einer Neuen Wohnungsgemeinnützigkeit (NWG) – wie sie Gewerkschaften, Mieterbund und viele Initiativen fordern – wurden von den Regierungsparteien und der Immobilienlobby zurückgewiesen. Ihre Befürchtung: Zuviel staatliche Auflagen machen das Geschäft kaputt und gefährden die wichtigen Investitionen in den Neubau.
Fragt man die Wohnungswirtschaft nach ihren Vorstellungen zur Lösung der Wohnungsfrage, erhält man in der Regel drei Antworten: vereinfachter Zugang zu Baugrundstücken, Steueranreize für den Wohnungsneubau und eine Erhöhung des Wohngeldes. Dass alle drei Forderungen ohne soziale Auflagen auskommen ist dabei kein Zufall, sondern das Prinzip. Gefördert werden soll der ökonomische Anreiz für Investitionen – alles andere erledigt dann der Markt. Bis sich der Markt irgendwann entspannt, solle der Staat mit erhöhten Wohngeldzahlungen einspringen. Im Gegensatz zum Sozialen Wohnungsbau mit seinem Fehlbelegungsproblem sei das Wohngeld zielgenau und müsse nur für die Haushalte gezahlt werden, die es wirklich benötigen.
Sozialer Wohnungsbau ist lediglich verdeckte Wirtschaftsförderung
Doch zielgenau ist das Wohngeld vor allem in Richtung Wohnungswirtschaft selbst, denn die ausgezahlten Gelder landen ja über die Mietzahlungen bei den Vermieterinnen und Vermietern. Schon jetzt fließen als Wohngeld und Kosten der Unterkunft pro Jahr mehr als 15 Milliarden Euro vom Staat an die Wohnungswirtschaft. Diese Subjektfördermittel ermöglichen Mieterträge, die aus den Einkommen nicht bezahlt werden könnten. Hier setzt der Staat letztendlich die sonst so heiligen Marktregeln von Angebot und Nachfrage zugunsten der Wohnungswirtschaft außer Kraft. Mit diesen über 15 Milliarden Euro indirekter Wirtschaftsförderung ist die Wohnungswirtschaft eine der am stärksten subventionierten Branchen in Deutschland. Paradoxerweise sind es die Begünstigten dieser staatlichen Unterstützung die in den wohnungspolitischen Debatten regelmäßig die Stimme gegen mietrechtliche Auflagen, Dauerbindungen in Förderprogrammen oder Sozialquoten bei Neubauvorhaben erheben und vor „zu viel staatlicher Einmischung“ warnen.
Angesichts von ständig steigenden Mieten, der Angst vor Verdrängung und einer zunehmend spekulativen Immobilienwirtschaft fordern viele Sozialverbände und Mieterinitiativen eine wohnungspolitische Kehrtwende: Öffentliche Verantwortung statt private Gewinne. In Städten wie Berlin braucht es zurzeit keine jahrelange Marx-Lektüre, um zu verstehen, dass sich eine soziale Wohnversorgung und private Renditeinteressen ausschließen. Die Forderung nach der Enteignung großer Immobilienkonzernen mag radikal klingen – nüchtern betrachtet ist sie die Quittung für eine jahrelange Verweigerungshaltung von Politik und Immobilienwirtschaft. Zu den Forderungen nach einer Aufhebung der Modernisierungsumlage und verbesserten Mieterschutz hieß es: Das schreckt Investoren ab und baut keine neuen Wohnungen. Zu den Vorschlägen für Dauerbindungen in Förderprogrammen und Sozialquoten wurde gesagt: Das ist für Investoren nicht attraktiv und baut keine neuen Wohnungen. Zur Einführung der Neuen Gemeinnützigkeit (NWG) gab es die Antwort: Damit entsteht ein bürokratisches Monster und sie baut keine neuen Wohnungen.
Egal wo die Diskussionen über eine soziale Wohnungspolitik beginnen – die Antwort der Immobilienwirtschaft heißt immer Neubau. So notwendig eine Erweiterung der Wohnungsbestände in den wachsenden Metropolen auch sein mag – allein im Neubau sind die sozialen Versorgungsprobleme nicht zu lösen. Auch die Vorstellung, dass so viel Angebotsüberhang entsteht, dass die Mietpreise auf unter fünf Euro pro Quadratmeter fallen, ist unrealistisch – zumal vor allem in die höherpreisigen Segmente investiert wird. Eine soziale Wohnversorgung und private Gewinne lassen sich nicht unter einen Hut bringen, weil mit unterdurchschnittlichen Mieten auf Dauer keine Renditen erwirtschaftet werden können. Wenn öffentliche Auflagen über Jahre hinweg immer wieder zurückgewiesen werden, ist es kein Wunder, dass Vorschläge einer „Enteignung zum Zwecke der Vergesellschaftung“ (Art. 15 Grundgesetz) inzwischen bei vielen Anklang finden.
Ein historischer Rückblick:
„Jeden Tag schließen sich neue Häuser dem Kampf gegen die hohen Mieten an. In den Amtsgerichten herrscht Hochbetrieb. Eine Räumungsklage jagt die andere. Aber dieser Hochbetrieb wird bei weitem von dem übertroffen, der auf der Straße herrscht, wenn ein erwerbsloser Prolet exmittiert werden soll. In der zweiten Septemberhälfte wurden in Berlin nicht weniger als 300 Exmittierungen infolge des Protests der werktätigen Bewohner zurückgenommen. Allein im Südosten konnten aus diesem Grunde 180 Exmittierungen nicht durchgeführt werden.“
Diese Passage aus der „Roten Fahne“ erschien am 16. Oktober 1932. Der Streik der Berliner Mieterinnen und Mieter dauerte zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Monate, und immer mehr Menschen schlossen sich den Protesten an. Auf dem Höhepunkt des Streiks Anfang 1933 haben sich, nach vorsichtigen Schätzungen, über 3.000 Häuser auf diese Weise gegen die Profiteure der Wohnungsnot, Hausbesitzer und Spekulanten gewehrt.
Quelle: Gegenblende - https://gegenblende.dgb.de Bild: stadtmission-nuernberg.de