Zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes: neue Aufgaben für den Verfassungsschutz – er sollte sich für den Schutz der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger einsetzen

Für das Haushaltsjahr 2019, das Jahr in dem das Grundgesetz seinen 70sten Geburtstag feiert, hatte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV)  für seine Behörde knapp 421 Millionen Euro beantragt. Das sind etwa sieben Prozent mehr als im Jahr zuvor. 2015 betrug der Haushalt des Inlandsgeheimdienstes noch 230 Millionen Euro. Der veranschlagte Haushalt für 2019 wäre damit fast doppelt so groß wie vor vier Jahren. Dazu kommen noch die Kosten für die anderen im Geheimen arbeitenden Dienste.

Bei so einem Finanzvolumen stellt sich die Frage: Warum sollte der Verfassungsschutz seine ureigensten Aufgaben nicht erfüllen und 100 Prozent seiner Daseinsberechtigung und seines Aufgabenbereichs für den Schutz der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger einsetzen.

Ein Blick in die Verfassung von NRW und in das Grundgesetz genügt, um dem Verfassungsschutz im Land und im Bund seine zukünftigen, neuen und einzigen Aufgaben aufzuzeigen.

Gehen wir mal auf ein paar einzelne Artikel des Grundgesetzes ein, um an diesen Beispielen aufzuzeigen, dass vom Geist des Grundgesetzes durch viele politische und rechtliche Entwicklungen kaum noch etwas von seiner ursprünglichen Aussage übrig ist.

  • Artikel 3: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“– Frauen erhalten bundesweit im Durchschnitt weniger an Entgelt als Männer. Die Beschäftigungsquote der Frauen liegt derzeit bei 43,4 Prozent. Die Lücke beim Einkommen ist aber ganz deutlich: Das Bruttodurchschnittsarbeitsentgelt der Männer betrug im vergangenen Jahr 3.960,00 Euro, bei den ebenfalls vollzeitbeschäftigten Frauen dagegen nur 3.330,00 Euro.

 

  • Artikel 5: „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Fernsehen werden gewährleistet“ –mittlerweile beherrschen rund 10 Großkonzerne die Presselandschaft. Es besteht eine enge Verflechtung zwischen Politik, Pressekonzernen und der Wirtschaft, die durch die Wechsel vieler Lobbyisten aus der Politik in die Wirtschaft und aus der Presse in die Politik gepflegt wird.

 

  • Artikel 8: „Alle Deutschen haben das Recht sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“ – das sagt jemand mal den Eingekesselten bei Demos gegen Rechts. Obwohl es richterlich verboten wurde, werden immer wieder Demonstranten für viele Stunden festgehalten. Genauso betroffen ist die Drogen-Szene, die sich erst gar nicht versammeln darf und wenn sie es geschafft hat, wird sie aufgelöst und verjagt.

 

  • Art. 9 Abs. 3: „Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden“– der Schutz der Koalitionsfreiheit einer Gewerkschaft, also das Recht von Arbeitnehmern, sich zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zusammenzuschließen, ist für Beschäftigte in sogenannten Tendenzbetrieben z.B. kirchliche Einrichtungen nicht umgesetzt, sofern sich die Religionsgesellschaft der Privatautonomie zur Begründung von Arbeitsverhältnissen bedient. Aktuell von Bedeutung war dieses Grundrecht bei dem Gesetz zur Tarifeinheit, bei dem die Möglichkeiten der kleineren Gewerkschaften eingeschränkt wurden und nur noch ein Mehrheitstarifvertrag gelten soll.

 

  • Artikel 10: Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich“– Google stellte  30 Billionen Adressen in 230 Millionen Domains zur Verfügung. Monatlich werden hier 100 Milliarden Suchanfragen gestellt. Von der Videoplattform YouTube werden am Tag mit 300 Millionen Betrachtungsstunden Videofilme abgerufen. Die Firma Facebook hatte im ersten Quartal des vergangenen Jahres monatlich 1,276 Milliarden aktive Nutzer (Zahlen aus 2017). All diese Riesendatensammler nutzen ihre Möglichkeit der Rückverfolgung und verkaufen die Daten weiter. Die großen US-amerikanischen Konzerne sind fester Bestandteil des  Sicherheitssystems, die gern mal auch unsere Daten austauschen und die dann z.B. von der NSA direkt abgefischt werden.

 

  • Artikel 12: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen“ – hier sei an den Radikalenerlass von 1972 erinnert. In der Folge kam es zu 11.000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Auch bei den Maßnahmen der Arbeitsverwaltung innerhalb der Hartz-IV Gesetzgebung ist dieses Grundrecht nicht vorhanden. Jede Arbeit muss angenommen werden, sonst gibt es Sanktionen, die das Existenzminimum nicht gewähren.

 

  • Artikel 14: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ – da fallen jedem schnell die Steuerflüchtigen ein, die den Wohnsitz verlegen und noch von dort mit ihrem Geld Einfluss auf die politischen und wirtschaftlichen Abläufe nehmen. Auch die großen Immobilienhaie oder die Land- und Waldbarone haben ihr Pfründe  gesetzlich gesichert. Wenn der Ladendieb wegen Eigentumsdelikten zu Haftstrafen verurteilt wird, wird der Wert dieses besonders geschützten Rechtsguts „Eigentum“ besonders deutlich.

 

  • Artikel 16: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ – im Jahr 1993 wurde das Asylrecht zerschlagen, es kann kaum noch genutzt werden, faktisch ist es abgeschafft. Die im so genannten Asylkompromiss beschlossenen Einschränkungen besagen: Ausländer, die über einen Staat der EU oder einen sonstigen sicheren Drittstaat einreisen, können sich nicht auf das Asylrecht berufen (Art. 16 a Abs. 2 GG). Bei bestimmten Herkunftsstaaten (sog. sichere Herkunftsstaaten) kann vermutet werden, dass dort keine politische Verfolgung stattfindet, solange der Asylbewerber diese Vermutung nicht entkräftet. Der Rechtsschutz wurde eingeschränkt. Letztlich kann das deutsche Asylgrundrecht dadurch eingeschränkt oder ausgeschlossen werden, dass ein anderer Staat im Rahmen europäischer Zuständigkeitsvereinbarungen für die Schutzgewähr des Asylbewerbers zuständig ist und der Asylbewerber, ohne dass sein Asylantrag in der Sache geprüft wird, dorthin verwiesen wird. Die Anerkennungsquote nach Art. 16 a GG ist entsprechend gering und liegt seit 2002 ständig bei unter 2 Prozent. Durch die erfolgreiche Abwehrarbeit an den Grenzen der EU können überhaupt immer weniger Verfolgte dieses Grundrecht in Anspruch nehmen.

 

  • Artikel 20: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. – das Netto-Privatvermögen betrug im Jahr 2017 nach zurückhaltender Schätzung 7,72 Billionen Euro, davon 4,95 Billionen im Besitz der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung. Bei den ärmsten zehn Prozent haben sich 15,5 Milliarden Euro Schulden angehäuft. Die Staatsverschuldung beläuft sich auf 2,09 Billionen Euro, es leben 2,6 Millionen Kinder in Armut, eine Million alte Leute ebenfalls. Mehrere Millionen Menschen waren oder sind dauerhaft erwerbslos.

 

  • Artikel 26: „Vorbereitungshandlungen für einen Angriffskrieg sind unter Strafe zu stellen“ – 1999 führte die damalige rot-grüne Bundesregierung Deutschland zum ersten Mal nach dem 2. Weltkrieg in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Mit vorbereitet von Industrie, Politik, Medien und Wissenschaft.

 

  • Artikel 140 GG: gibt der organisierten Kirche sehr viel Rechte. So sind alle der Kirche in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen, ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform, Objekte, bei deren Ordnung und Verwaltung die Kirche grundsätzlich frei ist. – die Verfassungsgarantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts gewährleistet den Kirchen, darüber zu befinden, welche Dienste es in ihren Einrichtungen geben soll und in welchen Rechtsformen sie wahrzunehmen sind. Die Kirchen können sich dabei auch der Privatautonomie bedienen, um ein Arbeitsverhältnis zu begründen und zu regeln. Das Betriebsverfassungsgesetz selbst erweist sich als ein nicht für alle geltendes Gesetz, indem es zugunsten der Religionsgemeinschaften und ihrer karitativen und erzieherischen Einrichtungen, unbeschadet deren Rechtsform, in § 118 Abs.2 einen ausdrücklichen Vorbehalt macht. Das Betriebsverfassungsgesetz muss vielmehr mit diesem Vorbehalt auf das „verfassungsrechtlich Gebotene“ Rücksicht nehmen.

 

Das Recht auf Arbeit wird nicht durch das Grundgesetz gewährt, es hat in Deutschland keinen Gesetzesrang. Deshalb ist es auch nicht z.B. für erwerbslose Menschen einklagbar.

  • Allerdings steht in Artikel 24 der Landesverfassung NRW: „Im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens steht das Wohl des Menschen. Der Schutz seiner Arbeitskraft hat den Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes. Jedermann hat ein Recht auf Arbeit“.

 

Artikel 19 des Grundgesetzes (GG) bestimmt: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden“ – Doch in den 70 Jahren seines Bestehens ist das Grundgesetz mindestens 60 mal geändert worden, ohne dass es große Proteste dagegen gab.

 

Also, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bundesamt für Verfassungsschutz: Auf, auf an die Arbeit.
Es gibt viel für euch zu tun – nämlich, die Verfassung zu schützen!

 

 

 

Quellen: Grundgesetz, Landesverfassung NRW

Bild: flickr cco