Das Lieferkettengesetz stellt einen weiteren Versuch dar, Wirtschaft und Menschenrechte in Einklang zu bringen. Die Vorgeschichte reicht weit zurück.
Schon die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. Dezember 1948 – eine nicht bindende Resolution der Uno-Vollversammlung – beschränkte sich nicht auf die klassischen bürgerlichen Rechte wie Meinungs- und Informationsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, sondern enthielt wichtige wirtschaftliche und soziale Aspekte. In ihren Artikeln 22 bis 26 geht es um das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf Arbeit bei gleichem Lohn, das Recht auf Bildung.
Auch über 70 Jahre nach ihrer Verabschiedung werden diese Rechte wohl in keinem Land der Erde umfassend garantiert, denn profitorientiertes Wirtschaften und die Respektierung der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte stehen zueinander im Widerspruch. Zu verbreitet ist das Prinzip der Privatisierung der Gewinne und Vergesellschaftung der Kosten.
Bis zum Zusammenbruch des sozialistischen Lagers, wirkte dessen schiere Existenz und sein Anspruch, soziale Sicherheit zu bieten, als ein gewisses Korrektiv in den westlichen Gesellschaften. Doch mit Beginn der 1990er Jahre wurde die ursprünglich zu Thatchers und Reagans Zeiten begonnene neoliberale Politik vehement durchgesetzt. Die Spitzentreffen neoliberaler Politiker wurden allerdings bald von Protesten begleitet, unter anderem zur 3. WTO-Konferenz im Dezember 1999 in Seattle und zu den G8-Gipfeln im Juli 2001 in Genua und im Juni 2007 in Heiligendamm.
Die Leitprinzipien
Die Proteste dürften dazu beigetragen haben, dass im Jahr 2005 die Position eines UN-Sonderbeauftragten für „Unternehmen und Menschenrechte“ eingerichtet wurde. Der Inhaber dieses Postens, John Ruggie, koordinierte unter anderem die Erarbeitung der „UN- Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“, die 2011 vom UN-Menschenrechtsrat verabschiedet wurden.
Aber wie bei der Menschenrechtserklärung von 1948 handelt es sich bei den Leitprinzipien um ein unverbindliches Dokument, das einerseits den Regierungen ihre ohnehin existierenden, aus früheren globalen Abkommen erwachsenden Verpflichtungen ins Gedächtnis ruft, erkennbar an der Formulierung „Staaten müssen …“. Andererseits appellieren die Leitprinzipien an die Unternehmen in der Hoffnung, dass diese die Prinzipien freiwillig erfüllen: „Unternehmen sollten …“. Da solche Hoffnung größtenteils unerfüllt blieb, ergriffen die damals progressiven Regierungen Südafrikas und Ecuadors die Initiative für ein völkerrechtlich bindendes Abkommen.
Im Juni 2014 nahm der UN-Menschenrechtsrat die von Südafrika und Ecuador eingebrachte Resolution schließlich an. Seither wird an einem verbindlichen Abkommen gearbeitet. Im Jahr 2018 wurde ein erster Entwurf, 2021 dessen dritte Überarbeitung veröffentlicht. Das Unterfangen ist als Binding Treaty bekannt. Noch im Jahr der Verabschiedung der UN-Leitprinzipien, 2011, hatte die Europäische Kommission die EU-Mitgliedsstaaten aufgefordert, nationale Aktionspläne für eine Umsetzung der Leitprinzipien aufzustellen. Es dauerte fünf Jahre, bis die deutsche Bundesregierung ihren „Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte“ (NAP) 2016 verabschiedete. Bis 2020 sollte er umgesetzt sein – entsprechend den UN-Leitprinzipien basierend auf Freiwilligkeit. Immerhin hatte die Bundesregierung im Kapitel III des NAP konkrete Erwartungen formuliert und deren sukzessive Erfüllung überprüft. Sie erwartete, dass „mindestens 50 Prozent aller in Deutschland ansässigen Unternehmen mit über 500 Beschäftigten bis 2020 die (im NAP) beschriebenen Elemente menschenrechtlicher Sorgfalt in ihre Unternehmensprozesse integriert haben“. Zu den „Elementen“ gehörten unter anderem die Einrichtung eines Verfahrens zur Ermittlung von Menschenrechtsverletzungen, eine Wirksamkeitskontrolle und ein Beschwerdemechanismus. Die Anforderungen zur Einhaltung der Menschenrechte richteten sich nicht nur auf die Niederlassungen deutscher Unternehmen im Ausland, sondern auch auf deren dortige Auftragnehmer, also auf die Lieferkette. Das abschließende Monitoring im August 2020 förderte jedoch zutage, dass nur 13 bis17 Prozent der Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten die NAP-Anforderungen erfüllt hatten. Damit war das Kriterium von 50 Prozent deutlich unterschritten. Für diesen Fall waren weitergehende Schritte bis hin zu gesetzlichen Maßnahmen“ angekündigt. Das Ergebnis war die Verabschiedung des Lieferkettengesetzes durch den Bundestag im Juni 2021.
Das Lieferkettengesetz
Das Lieferkettengesetz (LKG), das offiziell die Bezeichnung Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz trägt, ist zwar verbindlich, bleibt aber deutlich hinter dem Inhalt der UN-Leitlinien zurück. Das betrifft vor allem die Länge der Lieferkette, als auch die Zahl der Unternehmen. Das LKG gilt ab 1. Januar 2023 für Unternehmen mit über 3000 statt über 500 Beschäftigten in Deutschland und betrifft hier etwa 900 Firmen. Mit Jahresbeginn 2024 find das Gesetz Anwendung bei allen Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten, das waren dann zirka 4800. Ein schweres Manko ist die Reichweite des Gesetzes – es gilt nur für das unmittelbar nächste Glied, also den direkten Zulieferer, für den das deutsche Unternehmen künftig die Verpflichtung tragt, dass dieser die im LKG definierten Menschenrechte einhält. Eine Verbindung zweier Glieder überhaupt noch als Kette zu bezeichnen, verlangt schon einiges an Langmut. Strittig ist die Richtung, in der das Gesetz die Lieferkette in den Blick nimmt. Die industriefreundliche Sicht ist ausschließlich nach hinten gerichtet. Das heißt die Lieferkette endet beim Unternehmen mit Sitz in Deutschland und bezieht sich auf die Zulieferer des Unternehmens, die Rohstoffe oder Halbfertigprodukte zur Weiterverarbeitung oder Fertigprodukte zur Weitervermarktung bereitstellen. Aber auch die Beziehung zwischen dem verkaufenden Unternehmen in Deutschland und dem Käufer der Produkte fügt sich in die Lieferkette ein. Warum sollte beispielsweise Bayer nicht zur Verantwortung gezogen werden, wenn das Unternehmen hochgiftige Pestizide, die in der EU längst verboten sind, in afrikanische Länder exportiert, wenn es dort zu Vergiftungen bei den Anwendern führt? Diesbezüglich versuchen progressive Juristen derzeit eine Klärung herbeizuschaffen. Im Gegensatz zu seiner rudimentären Ausrichtung hinsichtlich der Länge der Lieferkette und der Zahl der ihm unterworfenen Betriebe, sind die vom LKG erfassten Menschenrechte umfangreich. Sie reichen vom Verbot von Kinderarbeit, Sklaverei und Ungleichbehandlung über das Recht auf gewerkschaftliche Interessenvertretung, die Beachtung des Arbeitsschutzes und eine angemessene Bezahlung.
Selbst negative Auswirkungen auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit sind mit einem Verbot belegt. Die entscheidende Frage ist, ob die Anwendung dieses Gesetzes, für das zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen hart gekämpft haben, zum Regelfall wird, oder ob dieses Gesetz nur der Simulation von sozialer Gerechtigkeit dient. Für die behördliche Kontrolle und Durchsetzung des LKG ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zuständig, dass zu diesem Zweck eine Außenstelle im sächsischen Borna einrichtet. Im Bundeshaushalt 2022 sind dafür 57 Planstellen vorgesehen. Auch wenn die Zahl in den nächsten Jahren noch steigen wird, dürfte die weltweite Kontrolle der Lieferketten von 4800 Unternehmen, von denen ein signifikanter Teil Niederlassungen in mehreren oder gar vielen Ländern hat, kaum zu leisten sein, zumal die BAFA-Außenstelle laut Gesetz in erster Linie für die Überprüfung der jährlichen Unternehmens-Berichte zur Erfüllung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten zuständig ist. Die Behörde checkt, ob die Unternehmen Risiken oder tatsächliche Verletzungen ihrer Sorgfaltspflicht identifiziert und welche Maßnahmen sie laut Bericht ergriffen haben. Im Klartext bedeutet dies eine am Schreibtisch stattfindende Überprüfung der von den Unternehmen durchgeführten Selbstkontrolle.
Selbstkontrolle
Es gibt ein System, das zum Teil auf Selbstkontrolle der Industrie beruht und für das in Deutschland über 20 Jahre Erfahrung vorliegen – das System der „Guten Laborpraxis“ (GLP). Für die Zulassung von Arzneimitteln und Pestiziden liefern die Unternehmen der chemischen und Arzneimittelindustrie den Behörden Berichte, die sie selbst geschrieben haben und deren dazugehörige Versuche von ihnen durchgeführt wurden. Als Reaktion auf einen Skandal in den USA in den späten 1960er Jahren aufgrund gefälschter Industrie-Studien und Haftstrafen für die Laborleiter hatten die US-Behörden das GLP-System eingeführt. Mit fast 20-jähriger Verzögerung setzte auch Deutschland die Gute Laborpraxis 1990 in Kraft. Dieses System funktioniert ganz gut, wenn man von der immer vorhandenen Möglichkeit absieht, mit krimineller Energie ein System zu durchbrechen. Aber es ist ein System mit präzise formulierten, überprüfbaren Vorgaben, auf deren Grundlage eine innerbetriebliche Institution kontinuierlich und unangekündigt Vor-Ort-Kontrollen durchführt. Außerdem nimmt die zuständige Behörde in zwei- bis dreijährigen Abstanden eine Tiefenprüfung vor und entscheidet, ob das Industrie-Labor seine GLP-Akkreditierung behält. Im Lieferkettengesetz fehlen sowohl präzise formulierte, genau überprüfbare Vorgaben als auch turnus-mäßige behördliche Tiefenprüfungen.
Das einzige Plus des LKG gegenüber dem GLP-System ist die Verpflichtung der Unternehmen, ihre jährlichen Berichte spätestens vier Monate nach Abschluss des Geschäftsjahres auf ihren Internetseiten zu veröffentlichen. Ab 2024 wird zu prüfen sein, ob nachvollziehbar über die Erfüllung der Sorgfaltspflichten berichtet wurde. Der relevante Paragraph enthält allerdings die dehnbare Formulierung: „Der Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen ist dabei gebührend Rechnung zu tragen.“
Unzureichende Verantwortlichkeit stellt vermutlich das schwerwiegendste Manko des LKG dar, das explizit ausführt: „Eine Verletzung der Pflichten aus diesem Gesetz begründet keine zivilrechtliche Haftung.“ Eine zivilrechtliche Haftung hätte es den Betroffenen ermöglicht, zivilrechtlich gegen das in Frage stehende Unternehmen zu klagen und gegebenenfalls eine Entschädigung zu verlangen.
Nach Einschätzung von Nichtregierungsorganisationen ist für Betroffene der Zugang zur Justiz und zur Entschädigung weiterhin voller Hindernisse. Bei Verstößen gegen das Gesetz sind Bußgelder bis zu 800.000 Euro vorgesehen und bei bestimmten Sachverhalten für Unternehmen mit mehr als 400 Millionen Euro Umsatz bis zu zwei Prozent des durchschnittlichen Jahresumsatzes. Außerdem ist ein Ausschluss aus der öffentlichen Vergabe möglich.
Der Menschen Recht
Das Gesetz definiert, was ein „menschenrechtliches Risiko“ darstellt – eine der wichtigsten Voraussetzungen für alle weiteren Maßnahmen in diesem Kontext. Laut Paragraph 2 ist das „ein Zustand, bei dem aufgrund tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Verstoß gegen eines der folgenden Verbote droht“, und es folgt eine lange Liste. Im konkreten Fall werden Unternehmen viele Möglichkeiten haben, Verstöße abzustreiten. Denn wenn es in anderem Zusammenhang selbst in klar definierten Fallen möglich ist, die Tatsachen zu verdrehen – es sei an den Streit erinnert, ob Glyphosat krebserregend ist oder nicht – wird es bei dem im LKG definierten Verbot „der Herbeiführung einer schädlichen Bodenveränderung, Gewässerverunreinigung, Luftverunreinigung (…) oder eines übermäßigen Wasserverbrauchs“ umso schwieriger sein, die Dinge festzunageln.
Das beginnt bei der Ermittlung des Verursachers eines Umweltschadens, insbesondere, wenn dazu mehrere Verursacher beigetragen haben können. Es setzt sich fort bei der Definition, was tatsächlich als Schaden gilt. Die Unternehmen werden sich vermutlich hinter nationalen Regulierungen verschanzen, die, gemessen an europäischen Standards, unzureichend sind. Das betrifft nicht nur das Ausmaß an Kontamination, also die Überschreitung bestimmter Grenzwerte in Boden, Wasser und Luft, sondern auch die Zahl der Substanzen, die überhaupt als Schadstoffe betrachtet werden. Oftmals beschränken sich diese auf die etwas mehr als 30 Chemikalien, die nach langwierigen Verhandlungen im „Stockholmer Übereinkommen zu persistenten organischen Schadstoffen“ gelistet sind. Welche Maßstäbe wird das LKG anlegen? Erschwerend kommt ein unzureichendes oder fehlendes Umweltmonitoring in den Ländern des globalen Südens hinzu. Selbst im OECD-Land Mexiko basiert das Monitoring im „Register der Emissionen und Transfers von Kontaminanten“ auf freiwilligen Angaben der Unternehmen.
Das Gesetz wird die Möglichkeit erleichtern, bei emblematischen Fällen für betroffene Arbeiter:innen beziehungsweise Gemeinden Gerechtigkeit einzufordern. Doch es wird weiterhin notwendig sein, dass die Betroffenen in den Ländern des Südens durch zivilgesellschaftliche Organisationen vor Ort und in Deutschland Unterstützung erhalten, um ihre berechtigten Forderungen zu Gehör zu bringen. Ein grundlegender Wandel in der Unternehmenskultur wäre überraschend, denn der müsste vom Gesetzgeber intensiv begleitet, um nicht zu sagen erzwungen werden. Dafür fehlen die Ressourcen und vermutlich auch der politische Wille. Für das deutsche LKG sind noch Rechtsverordnungen angekündigt. Zivilgesellschaftliche Organisationen sollten sich nicht nur für ein stärkeres EU-Lieferkettengesetz einsetzen, sondern auch die Umsetzung des deutschen LKG scharf im Auge behalten. Der Entwurf der EU-Kommission zum Lieferkettengesetz sieht immerhin eine zivilrechtliche Haftung und eine Weiterverfolgung der Lieferkette über das erste Glied hinaus vor. Es wird sich zeigen, ob dies dem Lobbydruck standhalt.
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Der Autor:
Peter Clausing stieß im Rahmen seines langjährigen Engagements für die Menschenrechte in Mexiko auf das Thema Lieferkettengesetz. Dort haben tausende deutscher Unternehmen Niederlassungen.
Der Beitrag erschien in siehe auch LunaPark21 • zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie und wird mit freundlicher Genehmigung gespiegelt. Bild: Sendebild-tagesschau.de