Die Beschäftigten malochen unglaublich viel – die Gewerkschaften machen daraus unglaublich wenig

Zum Jahresanfang liegen die aktuellen Zahlen der letzten zwei Jahre für die Entwicklung  des Tarifentgelts, der Überstunden und des Arbeitsvolumens vor: Die Tariflöhne und -gehälter sind im Jahr 2017 nominal im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt um 2,4 Prozent angestiegen. Nach Abzug des Verbraucherpreisanstiegs von 1,8 Prozent ergibt sich daraus ein realer Zuwachs der Tarifvergütungen um 0,6 Prozent.

Die Beschäftigten in Deutschland haben im Jahr 2016 zusammen fast eine Milliarde unbezahlte Überstunden geleistet. Die Gesamtzahl bezahlter und unbezahlter Überstunden betrug rund 1,7 Milliarden. In Arbeitsplätze umgerechnet ergeben sich aus der Menge der nicht bezahlten Mehrarbeit eine Million zusätzliche Vollzeitstellen. Mehr als zwei Drittel der Überstunden leisteten Männer mit 69,2 Prozent, die Frauen waren mit 30,8 Prozent beteiligt.

Die Erwerbstätigen in Deutschland haben im vergangenen Jahr 59,3 Milliarden Stunden Arbeit geleistet. Im Vergleich zum Vorjahr stieg das Arbeitszeitvolumen um 2,9 Prozent an.

Männer leisteten 2016 demnach mit 36 Milliarden gut 60 Prozent aller Arbeitsstunden. Sie sind aber auch häufiger in Vollzeitstellen anzutreffen. Bei Frauen stieg die geleistete Arbeitszeit zwischen den Jahren 2000 und 2016 um zwei Prozentpunkte auf 39,2 Prozent an. Stark gestiegen ist in den letzten Jahren die Teilzeitarbeit, lag sie im Jahr 2000 noch bei 6,5 Milliarden Stunden, stieg sie im vergangenen Jahr auf fast 11 Milliarden.

Diese Zahlen würden den Gewerkschaften in allen Verhandlungen und Arbeitskämpfen genügend Rückenwind geben, zu vernehmen ist bei ihnen nur ein laues Lüftchen.

Lohnpolitik

Gewerkschaftliche Lohnpolitik muss mehr sein, als für 0,6 Prozentpunkte mehr Lohn zu kämpfen. Ihr  kommt eine viel größere  gesamtwirtschaftliche Bedeutung zu, als vielen gewerkschaftlichen Akteuren bewusst ist.

So kann Lohnpolitik z.B. solche Auswirkungen entfachen:

  • Löhne bzw. Entgelte sind der größte Kostenfaktor für die Unternehmen, deshalb hat die Auseinandersetzung um sie immer einen besonderen Stellwert für die Gewerkschaftsbewegung. Lohn- und Entgelterhöhungen steigern die Konsumnachfrage, stabilisieren damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und tragen so zur Sicherung der Arbeitsplätze bei, ohne dass von der Lohnseite inflationstreibende Effekte ausgehen.
  • Wenn die Einkommen durch höhere Tarifabschlüsse steigen, schlägt sich das auch bei den Renten nieder. Entscheidend für die Rentenberechnung ist die Entwicklung der Bruttolöhne. Der Rentenwert ergibt sich aus den Bruttolöhnen des Vorjahres. Steigen diese an, wird auch dieser Wert angehoben.
  • Das Lohndumping der letzten Jahre bei uns mit seinen geringen Lohnstückkosten ist eine der wichtigsten Ursachen für die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse, für das Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit der Mitglieder der Europäischen Währungsunion (EWU), für die Handelsungleichgewichte und somit eine Hauptursache der Eurokrise.
  • Die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung ist verantwortlich für das Außenhandelsgleichgewicht, d.h. für das Verhältnis von Im- und Exporten. Wenn der Handel auch noch mit Ländern im gleichen Währungsraum stattfindet, sind die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten im Vergleich zu denen der Währungspartnerländer der wichtigste verbleibende Faktor dafür, ob es Handelsüberschüsse oder -defizite gibt. Auch der europäische und weltweite Markt funktioniert so: Wächst eine Volkswirtschaft so muss eine andere naturgemäß schwächer werden. Das Vermögen der einen bilden die Schulden der anderen.
  • Das Märchen von der Lohnentwicklung, die im Vakuum der Tarifparteien stattfindet, wird immer wieder erzählt, ist deshalb aber nichtzutreffend. Lohnpolitik ist abhängig von der Wirtschaftspolitik der Regierung, was seit der HARTZ IV Gesetzgebung ganz einfach zu belegen ist.
  • Die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung hat einen besonderen Einfluss auf die Entwicklung der Preise, weil die Vorleistungen, die die Industrie neben dem Faktor Arbeit zusätzlich zur Produktion benötigt, aus anderen inländischen Unternehmen stammen, sofern sie nicht importiert werden. Deren Produktpreise werden von den dort anfallenden Kosten bestimmt. Diese Vorleistungen bestehen gesamtwirtschaftlich betrachtet vor allem Lohnkosten.
  • Seitdem der Euro eingeführt wurde, blieben die deutschen Löhne bzw. Lohnstückkosten auf niedrigem Niveau, mit der Folge, dass die Preise bei uns nicht anstiegen. Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit verbesserte sich um fast 25 Prozent. In Südeuropa stiegen die Preise enorm an, Waren und Dienstleistungen verteuerten sich gegenüber dem Ausland immens – mit den bekannten Folgen.
  • Die Lohnentwicklung hat maßgeblich zur Verarmung beigetragen, mit Auswirkungen bis in die sogenannten Mittelschichten hinein.
  • Die Umverteilung von unten nach oben ist als Ursache für die seit nunmehr neun Jahren anhaltende wirtschafts- und finanzpolitische Krise zu sehen. Die wachsende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen hat nachweislich zur Destabilisierung des gesamten Finanzsystems beigetragen.

 

Doch gibt es Leute, die dies alles wissen und mit aller Macht verhindern, dass gewerkschaftliche Lohnpolitik diese Entfaltung bekommt.

Die organisierte Unternehmerschaft freut sich immer, wenn die Abschlüsse so ausgehen, wie in den vergangenen Jahren. Ihr Lobgesang hört sich meistens so an: „Das erreichte Ergebnis ist ein solider Dreiklang aus akzeptabler Lohnerhöhung, betrieblicher Flexibilität und langer Laufzeit“. Übersetzt heißt das, dass die Belastung der Unternehmen deutlich unter den der Vorjahre liegt, dass die Laufzeit deutlich länger ist und dass den Unternehmen die Möglichkeit gegeben wird, Teile des Abschlusses differenziert anzuwenden.

Kollektive Arbeitszeitverkürzung

Gegner der Arbeitszeitverkürzung übersehen gerne, dass auch die Arbeitslosigkeit, Kurz- und Teilzeitarbeit Formen von Arbeitszeitverkürzung sind. Auch die Vollbeschäftigten zahlen dafür: Lohndrückerei, wachsender psychischer und physischer Druck, steigende Gesundheits- und Sozialkosten sind der Preis.

Je mehr Arbeitslose, desto weniger Gewerkschaftsmitglieder und mangelnde Tarifbindung. Eine faire Arbeitszeitpolitik könnte das verfügbare Erwerbsarbeitspotential und das entsprechende Arbeitsvolumen so umverteilen, dass die Arbeitslosen eine Arbeit bekämen, aber auch die Teilzeitbeschäftigten ihre Arbeitszeit nach ihren Bedürfnissen erhöhen könnten.

Auch hier geht es um Umverteilung. Würde man die Arbeitszeit der Vollbeschäftigten über fünf Jahre jährlich um fünf Prozent reduzieren, so kämen die 3,5 Millionen Vollzeitbeschäftigten auf eine 30-Stunden-Woche. Dies würde nach und nach 4,7 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte oder ein zusätzliches Arbeitsvolumen von 6,6 Milliarden Stunden bedeuten. Zusätzlich müsste es zu einem Ausbau an Beschäftigung im öffentlichen Sektor kommen.

Allein die vollständige Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit würde etwa 80 Milliarden Euro freisetzen, die der Staat jährlich für die Arbeitslosigkeit aufbringt. Eine solidarische Steuerpolitik könnte mit zur Gegenfinanzierung genutzt werden.

Bei den derzeit anlaufenden Tarifverhandlungen spielt die kollektive Arbeitszeitverkürzung gar keine Rolle. Doch werden mit der favorisierten „Kurzen Vollzeit für Alle“ der Lohnverfall und die Massenarbeitslosigkeit nicht beseitigt. Im Gegenteil, sie wird noch unter den auf uns zukommenden Digitalisierungsprozessen in der Wirtschaft und der Flüchtlingsintegration  weiter zunehmen.

Wie dramatisch die Situation schon heute ist, zeigt die Tatsache, dass eine 30-Stunden-Woche für Alle bei vollem Lohn- und Personalausgleich, wenn sie heute eingeführt würde, nicht mehr ausreicht, um eine Vollbeschäftigung zu erreichen.

Auf betriebswirtschaftlicher Ebene, auf der in der Regel viele Gewerkschaften nur noch agieren, kann dieses gesamtwirtschaftliche Problem nicht gelöst werden.

Auch stellt sich mittlerweile die Frage, ob die Gewerkschaften auch auf tariflicher Ebene unter den oben beschriebenen neoliberalen ökonomischen Veränderungsprozessen überhaupt noch die notwendige Durchsetzungsmacht für eine radikale kollektive Arbeitszeitverkürzung haben und ob ohne eine politische staatliche Intervention überhaupt so etwas überhaupt gelingen kann.

An dem Einsatz, der Motivation und den Leistungen der Beschäftigten liegt es jedenfalls nicht. Vielleicht sind sie besser beraten, wenn sie die erforderlichen Änderungen selbst in die Hand nehmen und sich nicht auf die Gewerkschaftsführung verlassen.

Wie die Gewerkschaftsgeschichte zeigt, liegt nur bei den Beschäftigten selbst die notwendige Durchsetzungsmacht.

 

 

Quellen: WSI, DGB, Bundestagsanfrage Linksfraktion, BDA

Bild: ver.di