Gesellschaftliche Unzufriedenheit und zunehmende soziale Ungleichheit in Deutschland führen nicht zum Erstarken linker Parteien oder Bewegungen. Im Gegenteil, unkritische Übernahme staatlicher Maßnahmen in der Corona-Krise und eine radikale Umwidmung friedenspolitischer Grundsätze am Beispiel der russischen Invasion in der Ukraine marginalisieren linke Positionen zusehends. Sozial sensible und emanzipative Politik ist nur noch bruchstückhaft erkennbar. Viel schneller als die Linke sich darauf einstellen kann passen sich kapitalistische Institutionen auf ökonomische und soziale Veränderungen an, wirken auf die Lebensweisen der Betroffenen ein und bieten scheinbare Alternativen aus jeglicher Krise. Dagegen wird von den meisten linken und linksradikalen Initiativen eine an medialen Konjunkturen und Aufregern orientierte Politik gesetzt, die reaktiv bleibt, den eigenen politischen Blick einengt, dem Hinterfragen dieser Art von Praxis keine Zeit lässt und schließlich in Dauererschöpfung mündet. Gleichzeitig sind überzeugende Alternativerzählungen eher selten.
Der eigenen Praxis fehlt es oft an einem theoretisch-analytischen Unterbau. Der Ruf nach einem „System Change“ wirkt eher ratlos. Gemeinsame Reflexionen über Theorie und Praxis linker Gruppen sind dünn gesät und laufen nicht selten auf schlichte Rechtfertigung der eigenen Existenz hinaus. Lernprozesse sind damit ausgeschlossen! Es fehlt an organisatorischen und inhaltlichen Verbindungsbrücken zwischen den einzelnen Teilbereichskämpfen und es fehlt an einer bestechenden gesamtgesellschaftlichen Perspektive.
Erwerbslosengruppen und -zentren verstanden sich mit Beginn der 1980er Jahre als linke Bewegung. Ihre Höhepunkte markierten die Jahre 1982 (1. Bundeskongress[1]), 1988 (2. Bundeskongress[2]), 1998 (bundesweite Aktionstage[3]), 2003 (Demo der 100.000[4]) und 2004 (Montagsdemonstrationen[5]). Den damals Aktiven gelang es weder die sich entfaltende Massenbewegung in die bestehende Arbeit vor Ort einzubinden, noch Hartz IV zu verhindern. Vom Wind der Veränderung profitierte hauptsächlich die sich im Aufbau befindliche Partei „Die Linke“. Achtzehn Jahre später spielt die Erwerbslosenpolitik innerhalb der Linken-Partei kaum noch eine Rolle, während der Rest der damals entstandenen Erwerbsloseninitiativen, in die Jahre gekommen, sich fast ausschließlich auf das bezieht, was schon immer ihre Stärke war: die Beratung! Erfolgreiche Widersprüche, nutzbringende Sozialgerichtsurteile und eine an den Interessen der Betroffenen orientierte „Willkommenskultur“ zeichnet viele Initiativen in Deutschland aus. Gleichzeitig hat es, nach der Einführung von Hartz IV, kaum mehr bundesweite politische Aktionen gegeben, sieht man mal von der „Krachschlagen“ Demo[6] in Oldenburg 2010 und den Aktionstagen des Bündnisses „AufRechtbestehen“[7] ab. Sie bestätigten bereits zu einem frühen Zeitpunkt, dass die ursprüngliche Erwerbslosenbewegung an einem Scheidepunkt angekommen ist. Ein einfach „weiter so“ wird nach und nach (schon aus Altersgründen) zu einem Ende der beteiligten Gruppen führen. Übrig bleiben wird das Beratungsangebot, allerdings dann nicht mehr unter einem unabhängigen Label, sondern als Teil einer kirchlichen, wohlfahrtsverbandlichen oder gewerkschaftlichen Leitlinie.
Meines Erachtens hat die Erwerbslosenbewegung erhebliche Defizite theoretischer wie auch praktischer Art. Insoweit finden sich negative Parallelen zur gesamten linken Bewegung.
Große Teile der Erwerbslosenbewegung sind mittlerweile, ob gewollt oder ungewollt, Teil sozialstaatlicher Formierung. Linke Beratungspraxis kann so Integrationspartner einer modernisierten Sozialpolitik sein. Der ständige (und sicherlich auch notwendige) Verweis auf menschenrechtlich problematische Ausuferungen behördlicher Angriffe gegen Erwerbslose ist ein Art Seismograph, der für sozialpolitisch engagierte ParteipolitikerInnen notwendig ist, um den sozialen Frieden zu bewahren. Als Beispiel sei der jahrelange Kampf gegen die Sanktionsparagrafen bei Hartz IV genannt. Wobei Kampf weniger den Straßenkampf meint, sondern mehr den Beratungskampf bis vor höchste Gerichte. Erst mit dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2019 wurde nach jahrelangem rechtlichen Ringen das bestätigt, was Erwerbslose oft am eigenen Leib erfahren mussten: Sanktionen führen zu einer Unterschreitung des Existenzminimums und erhöhen den Druck schlecht bezahlte Jobs annehmen zu müssen. Ein Erfolg? Einerseits ja, denn es gibt eine zeitlich limitierte Möglichkeit unsinnige Arbeitsangebote und Qualifizierungsmaßnahmen ohne rechtliche Konsequenzen abzulehnen. Gleichzeitig dürfte der interne Druck der Jobcenter auf Erwerbslose zunehmen, denn nach zweimaligem Meldeverstoß darf die Leistung um 10% gekürzt werden. Und was auf die Betroffenen ab Januar 2023 zukommt verheißt nichts Gutes. Vermutlich verwirklicht sich ein reorganisiertes Sanktionsinstrumentarium in Verbindung mit neuen Anreizen, d.h. belohnt, mit zusätzlichen Sozialleistungen, wird derjenige, der sich dem Willen oder „wohlgemeinten“ Vorschlägen der sozialstaatlichen Institution beugt. Alle anderen erhalten die klägliche Grundversorgung. Dies könnte auch der Hintergrund sein, weshalb, trotz wissenschaftlich stringenter Begründung, etwa einiger Wohlfahrtsverbände, der Regelsatz auch zukünftig nur bescheiden angehoben wird.
Innerhalb der Erwerbslosenbewegung herrscht wie in anderen sozialen Bewegungen eine gewisse Abwehr theoretischer Reflexion. Es gibt kaum Beiträge, die versuchen die sozialpolitischen Ansprüche der neuen Koalition kritisch einzuschätzen. Etwa, ob sich mit der Umbenennung von Hartz IV zu Bürgergeld real etwas verändern wird und ob wir es nicht mit einer neuen Sozialstaatlichkeit zu tun bekommen auf die wir angemessen reagieren müssen. In diesem Zusammenhang wäre auch zu überprüfen inwieweit sich, verglichen mit den 80er Jahren die soziale Zusammensetzung der industriellen Reservearmee und der von Armut betroffenen Bevölkerung verändert hat. Außerdem ist das Spektrum abhängiger Arbeiten vielfältiger geworden, unentgeltliche, aber verwertbare Tätigkeiten haben zugenommen, die simple Gegenüberstellung lohnerwerbstätig versus erwerbslos vereinfacht viel zu sehr. Daraus ergäbe sich unter Umständen eine Neuausrichtung unserer Konzeptionen (Bündnispolitik etc.) bezüglich Beratung, sozialer Zusammenkünfte und politischer Arbeit. Und: Ist es noch unsere gemeinsame Positionsbestimmung, dass der Sozialstaat Teil einer arbeitsorientierten, ausgrenzenden kapitalistischen Gesellschaft ist, dass dieser Sozialstaat nicht in der Lage ist Armut aufzuheben, dass Akkumulation privaten Reichtums Armut produziert und dass wir für eine andere, nichtkapitalistische Gesellschaft einstehen?
All diese Debatten fehlen, neue Überlegungen werden ignoriert und die tagtägliche Praxis unreflektiert weitergeführt. Dabei ist das Ziel der eigenen Arbeit nicht selten unklar, es variiert zwischen politischem Support und sozialarbeiterischer Intervention.
Staatliche Coronapolitik, das 100 Mrd. Paket für die Bundeswehr, die anhaltenden Preissteigerungen für Lebensmittel, die ausufernden Energiekosten und die Behandlung von Flüchtlingen aus der Ukraine waren oder sind politische Ansatzpunkte, die verdeutlichen können, was möglich ist, wenn denn der politische Wille vorhanden ist. Von Seiten der Erwerbslosenorganisationen herrscht vor allem Stille.
Diese Stille zu durchbrechen und einen gemeinsamen Diskussionsprozess zur sozialpolitischen Lage, ihrer institutionellen Verfassung und zu unseren politischen Interventionsmöglichkeiten zu initiieren sollte eine der Aufgaben in der nächsten Zeit sein!
Anmerkungen:
[1] Erster Bundeskongress der Arbeitslosen vom 02.-05.12.1982 in Frankfurt/M. Beginn der bundesweiten Erwerbslosenbewegung
[2] Zweiter Bundeskongress der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut vom 17.-19.06.1988 in Düsseldorf. Konsolidierung der inhaltlichen Arbeit.
[3] Ab 05.02.1998 bis 07.07.1998 regelmäßige monatliche bundesweiter Aktionstage, analog der Verkündung der monatlichen Arbeitslosenzahlen
[4] Bundesweite Demonstration am 01.11.2003 in Berlin „Alle gemeinsam gegen Sozialkahlschlag“
[5] Sommer 2004 Montagsdemonstrationen, meist im Osten Deutschlands mit bis zu 200.000 TeilnehmerInnen
[6] Bundesweite Demonstration am 10.10.2010 in Oldenburg „Krach schlagen statt Kohldampf schieben“
[7] Erstmals am 02.10.2014 rief das Bündnis zu einem Aktionstag unter dem Motto „Kein Sonderrecht im Jobcenter“ auf.
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Der Autor:
Harald Rein ist aktiv in der Bundesarbeitsgemeinschaft prekäre Lebenslagen BAG-PLESA
Der Beitrag erschien im express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 7-8/22 Bild: salisw.de