In kurzer Zeit hat sich die Zahl der Menschen, die bei den Tafel-Einrichtungen um Lebensmittel bitten, um 50 Prozent erhöht. Einige Tafeln berichten von doppelt so vielen Bedürftigen wie noch vor einem halben Jahr.
Weil die Regelleistungen im Sozialgesetzbuch (SGB II/SGB XII) und Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu gering sind, rutschen immer mehr Menschen in Armut und Überschuldung ab. Sie können sich die verteuerten Lebensmittel nicht mehr leisten und müssen zu den Tafeln gehen.
Seit Beginn der „Tafelbewegung“ in den 1990er Jahren haben die staatlichen Stellen die Institutionalisierung der Tafeln kräftig gefördert, auch um die Leistungsbemessung für die Zahlungen gemäß dem Sozialgesetzbuch möglichst gering halten zu können.
Doch nun scheint das Tafelkonzept nicht nur an seine Grenzen zu stoßen, sondern das gesamte Modell wird mittlerweile in Frage gestellt, neuerdings auch von den Tafeln selbst.
Höchststand der Armut in Deutschland
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) leben derzeit etwa 5,5 Millionen Menschen in sogenannten Bürgergeld/Hartz-IV-„Bedarfsgemeinschaften“, darunter sind fast zwei Millionen Kinder. Rund jeder fünfte Bezieher von Leistungen der Jobcenter arbeitet für einen Niedriglohn und stockt auf. Hinzu kommen mehr als eine Million Menschen, die Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung benötigen, weil ihre Rente zu gering ist, sowie rund 400.000 Bezieher von Asylbewerberleistungen. Letztere erhalten sogar noch fast 20 Prozent geringere Leistungen als Bürgergeld/Hartz-IV-Bezieher. Außerdem arbeiten fast acht Millionen Beschäftigte in Deutschland im sich immer weiter ausbreitenden Niedriglohnsektor.
Der Regelsatz für Alleinstehende beträgt aktuell 502 Euro. Hinzu kommt noch die Warmmiete. Doch wenn diese die sogenannte Angemessenheitsgrenze übersteigt, müssen Betroffene die Differenz auch noch aus eigener Tasche zahlen. Im vergangenen Jahr musste fast jeder sechste Haushalt im Bürgergeld/Hartz-IV-Bezug einen Teil der Miete selbst zahlen. Im Durchschnitt waren dies beachtliche 93 Euro monatlich und die Jobcenter konnten so fast eine halbe Milliarde Euro einsparen.
Andere Posten im Regelsatz, vor allem der Energieposten, reichen schon seit Jahren nicht aus, um den realen Bedarf zu decken und führen direkt in die Überschuldung.
Unternehmensberatungsfirma als Motor der „Tafelbewegung“
Die Idee der Tafeln ist ein fester Bestandteil der neoliberalen Politik und gleichzeitig ein billiges Konzept für die Abfallbeseitigung, denn schwerpunktmäßig sind die Produkte der Tafeln Waren, deren Verfallsdatum erreicht oder überschritten ist und die deshalb nicht mehr verkauft werden dürfen. Da ist die Entsorgung durch Abgabe an die Tafeln billiger als eine kostenpflichtige Entsorgung auf dem Müll. Nicht einmal Transportkosten entstehen, weil die Tafeln die Lebensmittel selbst abholen.
Ende des Jahres 2022 gab es in Deutschland 962 Tafeln, die regelmäßig an mehr als zwei Millionen armutsbetroffene Menschen Lebensmittel verteilen.
Während der stärksten Preissteigerungen bei Lebensmitteln seit Jahrzehnten lässt die Spendenfreude der Lebensmittelhändler nach und die Zahl der bedürftigen Menschen steigt rapide an.
Wie die Tafel Deutschland e.V. schon Mitte Juli 2022 verkündete, reichen die ausrangierten Lebensmittel, die die Supermärkte andernfalls in den Müll geworfen hätten, nicht mehr für alle Hungrigen. Zwei Drittel der Einrichtungen haben deshalb die für zwei oder drei Euro ausgegebenen Rationen verkleinert, um möglichst vielen Menschen Lebensmittel mitgeben zu können. Ein Drittel hat bereits einen Aufnahmestopp verhängt und 17 Prozent haben die Abholhäufigkeit reduziert, so dass die einzelnen Personen oder Familien beispielsweise nur noch alle zwei Wochen, statt jede Woche, zur Lebensmittelausgabe kommen dürfen. 60,7 Prozent der Tafeln verzeichnen einen Zuwachs von bis zu 50 Prozent bei denen, die Lebensmittel nachfragen. 22,6 Prozent der Tafeln unterstützen bis zu doppelt so viele Menschen wie vor einem halben Jahr. Zu den neuen Nutzern zählen Geflüchtete, besonders aus der Ukraine, aber auch viele erwerbslose Menschen mit Bezug von Arbeitslosengeld I oder II, Beschäftigte mit geringem Einkommen sowie Ältere im Rentenbezug.
Erstaunlich ist, dass so eine Bewegung wie die Tafelbewegung mithilfe einer Unternehmensberatungsfirma flächendeckend gewachsen ist. Über die Medien hochgejubelt, wurde auch suggeriert, dass jeder, dem es nicht gut geht, zur Not doch die Tafel nutzen kann und er mit „durchgefüttert“ wird. Die hohe Akzeptanz der Tafeln in der Bevölkerung ist das Ergebnis einer Mission, die den Sozialstaat vorführen wollte, um „Sozialromantiker“, die für diesen eintreten, zu diskreditieren.
Dabei haben staatliche Stellen die Institutionalisierung der Tafeln kräftig gefördert, auch um die Leistungsbemessung für die Zahlungen gemäß dem Sozialgesetzbuch möglichst gering halten zu können.
McKinsey, die weltweite Unternehmensberatung, hat mittlerweile sehr viel Erfahrung mit dem Sozialsystem in Deutschland. Sie ist auch für die Entlassung Hunderttausender verantwortlich, die in dem von ihr beratenen Unternehmen beschäftigt waren. Auch hat McKinsey maßgeblich am Hartz-Konzept mitgewirkt und war Mitglied der Hartz-Kommission der rot-grünen Bundesregierung Anfang des Jahrhunderts.
Der Leitspruch lautet dabei immer, dass Sozialleistungen und Unternehmenssteuern abgebaut werden müssen.
McKinsey war auch der Initiator der „Tafelbewegung“ und hat unzählige Unternehmen und Einzelpersonen in sein Tafelkonzept eingebunden mit seinen unzähligen ehrenamtlichen Beschäftigten.
Tafeln als Ergebnis einer verfehlten Sozialpolitik
Sozialpolitisch gesehen ist dieses flächendeckende Tafelangebot äußerst problematisch, da
- mit der Ausgabe von Lebensmitteln Armut gelindert werden kann, aber die Armut und deren Ursachen können so nicht beseitigt werden,
- die Tafeln als Nothilfe den Druck auf die Politik reduzieren, die Ursachen der Armut zu beseitigen,
- es verhindert, dass eine armutsfreie, bedarfsgerechte und existenzsichernde Mindestsicherung gewährleistet ist, die die Tafeln und andere mildtätige Angebote in Zukunft überflüssig machen,
- sie nur reine Überlebenshilfe und Notversorgung leisten, verhindern sie eine Befähigung, den Bedürftigen verfügbare Handlungsperspektiven zu eröffnen, die über die Linderung der akuten Not hinauswirken,
- die Tafelarbeit in der Medienberichterstattung und Öffentlichkeit als genügende Absicherung gegen Armut erscheint, ihre flächendeckende Ausbreitung den Eindruck eines kompletten und ausreichenden Hilfsangebots vermittelt, das in der Realität aber nur einen Bruchteil der Bedürftigen erreicht und die eigentliche Armutsbekämpfung in den Hintergrund treten lässt,
- es die Menschen bremst, für Bedingungen einzutreten, die den „Befähigungsgedanken“‘ in den Mittelpunkt stellen und den Anspruch des Sozialgesetzbuches auf „selbstbestimmte Teilhabe“ unterstützt,
- das eingetreten ist, was Vordenker der Tafelbewegung sich wünschten, nämlich, dass sich der Staat mit Hinweis auf die Bürgergesellschaft aus der Daseinsvorsorge seiner Bürger sukzessive zurückgezogen hat und sich weiter zurückziehen wird,
- der Staat als Reaktion auf die Hilfe durch die Tafeln seine Mittel kürzt, weil z.B. § 9 SGB I sagt: „Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert. Hierbei müssen Leistungsberechtigte nach ihren Kräften mitwirken“,
- der Bestand und Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme und die Etablierung der beruflichen, fachlich qualifizierten Sozialen Arbeit die Abschaffung von mildtätigen, auf Zufall beruhenden Gaben und einhergehenden Abhängigkeiten für bedürftige Menschen voraussetzt. Den zufälligen möglichen Hilfeleistungen müssen individuelle Rechte entgegengestellt werden, die die Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder sichern,
- dadurch, dass Kosten für Lebensmittel eingespart werden können, Tafeln Bedürftigen den entgeltlichen Konsum von Waren ermöglichen, die eigentlich bei der Regelbedarfsermittlung berücksichtigt sein müssten,
- laut dem Bundesverband Deutsche Tafel e.V. von den ca. 9 Millionen Menschen, die in Deutschland auf Sozialleistungen angewiesen sind, rund 2 Million zur Tafel gehen. Die Tafeln sehen diese 7 Millionen Menschen als „unausgeschöpftes Potenzial“ an und betreiben entsprechende Akquise. Die „Kundenbindung“ bei Tafeln dient alleine der Aufrechterhaltung der Bedürftigkeit und ist das Gegenteil von einer strukturellen Armutsbekämpfung,
- anstelle an einer Abschaffung der Armut mitzuarbeiten, die Tafeln sich an einer Spaltung der Gesellschaft in Reiche und Arme beteiligen. Die langen Schlangen vor den Ausgabestellen signalisieren allen Menschen, dass unser Sozialsystem so etwas zulässt und man selbst schnell zum Tafelnutzer werden kann und dann zu „denen“ gehört,
- fast überall die Sozialämter und Jobcenter Bedürftigen in Not die schnelle Hilfe verweigern. Sie schicken „ihre Klientel“ zu einer Tafel, und zwar ohne die Einrichtung zu fragen, ob diese überhaupt in der Lage ist, zu helfen,
- viele Jobcenter zuvor sanktionierten oder aus anderen Gründen bedürftigen Menschen an die Tafeln verweisen, wenn sie in Not geraten sind. Dort gibt es neue Probleme, denn auch Tafeln fordern aktuelle Nachweise über das gesamte Einkommen der Hilfesuchenden. Wer dies nicht hat, muss draußen bleiben. So kommen bei Problemen mit dem Jobcenter und Sozialamt nicht selten Probleme mit der Tafel hinzu
und der große Zulauf zu den Tafeln das Zeichen einer verfehlten Sozialpolitik überhaupt ist.
Das ist eine Sozialpolitik, die es zu verantworten hat, dass große Teile unserer Gesellschaft von einer gleichberechtigten Teilhabe ausschlossen werden, die Menschen materiell kurzhält und dann noch mit dem Sozialgesetzbuch II permanent bevormundet, erniedrigt und sanktioniert. Hinter dieser Politik stehen auch diejenigen Honoratioren aus Politik, Kirche, Unternehmen und Kultur, die vor Ort in den Gremien der Tafeln mitarbeiten und sich öffentlichkeitswirksam „sozialpolitisch engagieren“.
Leben als Tafel-„Kunde“
Einen Einblick in die Praxis der Tafelarbeit bekommt man aber, wenn die Nutzer der Tafeln zu Wort kommen. Dann ist zu hören, dass
- es etwas ganz Anderes ist, als im Supermarkt einkaufen zu gehen,
- die Menschen meistens in der Warteschlange anstehen müssen, mal eine halbe Stunde, mal bis zu zweieinhalb Stunden lang, dabei kann es vorkommen, dass sie im Regen stehen oder zur Toilette müssen,
- die Reihenfolge mit Nummern geregelt wird,
- wenn die Tafel-Besucher dann an die Reihe kommen, sie nicht selbst auswählen dürfen, sondern sie von den Helfern Nahrungsmittel in die Tasche gepackt bekommen,
- die Ware in die Tasche reingeworfen wird – man kann sie nicht anschauen oder Fragen stellen,
- manchmal Waren dabei sind, die die Kunden aus gesundheitlichen Gründen nicht essen können,
- es oft 3 Wochen lang nur die gleiche Gemüsesorte gibt,
- die ehrenamtlichen Tafelhelfer oft als reserviert und unfreundlich beschrieben werden,
- die Helfer auch bestimmen können, wer wie viele Lebensmittel erhält,
- von den Nutzern „Bescheidenheit und Demut“ erwartet wird,
- sie in eine passive und ohnmächtige Rolle hineinkommen,
- sie sich beschämt fühlen,
- die „Bedürftigkeitsprüfung“ schamvoll ist, die Nutzer müssen ihren Bürgergeld/Hartz-IV- oder Rentenbescheid vorlegen, um Essen zu bekommen
und dass jeder sich darüber im Klaren ist, dass es sich dabei um eine freundliche Gabe handelt, die auch ausbleiben kann.
Neue Töne von der Tafel Deutschland e.V.
In den vielen Interviews der letzten Zeit schlug Jochen Brühl, Vorstand der Tafel Deutschland e.V. neue Töne an. Er sagte: „Bürgerschaftliches Engagement darf nicht dazu dienen, staatliches Versagen zu kaschieren. Mit Minijobs oder Niedriglohn klappt es nicht, gesellschaftlich teilzuhaben, auch wenn letzterer jetzt zwölf Euro betragen soll. Wir fordern stattdessen 100 Euro Zuschuss pro Monat. Auch Regelsätze und Sozialleistungen müssen angehoben werden. Die Versorgung der Menschen ist Aufgabe des Staates. Wir von den Tafeln unterstützen nur, wir sind keine Existenzhilfe. Unser Anliegen ist es, kurzfristig in Not geratene Menschen zu unterstützen.“
Brühl stellte klar: „dass alle Menschen in Deutschland genug zu essen und zu trinken haben, muss der Staat gewährleisten, nicht das Ehrenamt“. Denn „Tafeln sind ein privates Zusatzangebot“. Weiter sagt er: „Die Menschen haben große Existenzängste und Sorgen, wie sie Lebensmittel, Wohnen, Heizen zahlen können. Die Tafeln können aber nicht auffangen, was der Staat nicht schafft.“
Die staatlichen Hilfen seien „unzureichend“ und kämen zu spät. „Menschen, die zu den Tafeln kommen, haben keine Reserven. Armutsbetroffene Menschen brauchen jetzt schnelle Hilfen.“
Er schließt sich auch den Forderungen an, dass die Regelleistungen dringend deutlich erhöht und die Stromkosten aus den Regelleistungen heraus- und in die Unterkunftskosten mit herein genommen werden müssen.
So ein Statement war von den Tafeln bisher nie zu hören. Vielleich ist das Umdenken der aktuellen Lage bei den Tafeln geschuldet, bei der die Preissteigerungen zur Belastungsprobe, die Tafeln an ihre Grenzen stoßen und ihre Stellung und Daseinsberechtigung in der Sozialpolitik offenkundig wird.
Das Tafelprojekt scheint den neoliberalen Förderern auf die Füße zu fallen. Die wachsende Zahl der armen Menschen kann durch die Tafeln nicht mehr versorgt und ruhig gehalten werden. Momentan wird besonders deutlich, was die Tafeln immer schon waren und noch sind: ein Ort der Konkurrenz an der Resterampe unserer Gesellschaft.
Quellen: WAZ, WDR, Tafel Deutschland e. V., SGB, junge welt, der paritätische, BA
Bild: Bundesverband Tafel