Ob die Zahlen stimmen oder nicht, ist egal – sie werden auf jeden Fall ihre Wirkung haben.
In den vergangenen Wochen geisterten Zahlen durch die Medienlandschaft, bei der jede Zahl für sich schon ein Skandal ist.
Das Bundessozialministerium gab bekannt, dass mindestens 14,5 Millionen Menschen in Deutschland seit der Einführung im Jahr 2005 zumindest einmal Hartz-IV-Leistungen bezogen haben. Ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland – und damit rund 16,1 Millionen Menschen – war einer Statistik zufolge im vergangenen Jahr von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Dieser Anteil ist seit 2008 nahezu unverändert, teilte das Statistische Bundesamt mit.
Im vergangenen Jahr waren rund 13,4 Millionen Menschen in Deutschland von Armut durch Geldprobleme bedroht, das entsprach 16,7 Prozent der Bevölkerung.
14,5 Millionen Menschen in Deutschland haben seit der Einführung im Jahr 2005 zumindest einmal Hartz-IV-Leistungen bezogen. Diese hohe Zahl zeigt auf, dass Hartz-IV ein Massenphänomen ist.
Rund zehn Millionen der Betroffenen zählten als erwerbsfähig. 4,4 Millionen waren Kinder unter 15 Jahren.
Aktuell beziehen 5,9 Millionen Menschen Hartz-IV. 4,3 Millionen von ihnen sind erwerbsfähig, 1,6 Millionen nicht.
Dabei handelt es sich auch um eine ganze Generation von Minderjährigen, die sich in einem Disziplinierungsprozess befinden oder befunden haben, dem sie völlig hilflos ausgesetzt waren.
Für die 15- bis 24-Jährigen waren die Regeln schon im Jahr 2007 derart verschärft worden, dass ein Sachbearbeiter vom Jobcenter sie nicht nur in jedwede Ausbildung, sondern auch in jeden Ein-Euro-Job, jedes unbezahlte Praktikum und jede Leihfirma verpflichten kann. Leistet z.B. ein Schulabgänger dem nicht Folge, darf das Jobcenter ihm drei Monate lang den kompletten Regelsatz sperren. Wenn er nicht verhungern will, muss der Jugendliche dann um Essensgutscheine betteln.
Für die Über 25-Jährigen werden Sanktionen gestaffelt: 30 Prozent beim ersten „Vergehen“ innerhalb eines Jahres, dann 60 Prozent Leistungskürzung und schließlich erhalten sie nichts mehr, auch keine Mietkostenzahlung.
Die Sachbearbeiter in den Jobcentern können jede Ablehnung eines Jobs oder einen Jobverlust, wenn sie dem Klienten ein Mitverschulden vorwerfen, als „sozialwidriges Verhalten“ auslegen. Sie können dann bis zu vier Jahre lang Ersatzforderungen stellen.
Für immer mehr junge Menschen wird ihre konkrete Lebenssituation durch die o.g. Gängelung geprägt. Hinzu kommt, dass sie zunehmend Schwierigkeiten haben, sich eine Welt jenseits von Geld und Ware vorzustellen. Sie werden in eine städtisch ausgerichtete Gesellschaft hineingeboren und darin sozialisiert, in der mittlerweile alles zur Ware geworden ist, selbst ihre Bildung, Gesundheit und soziale Kontakte. Sie sind einem permanenten Konkurrenzdruck ausgeliefert, bei dem kein Platz mehr für „konkrete Utopien“ ist.
Die Logik von Geld und Ware durchdringt alle Lebensbereiche bis hinein in ihre alltägliche Lebensführung. Sie müssen sich zunehmend als lebendige Waren- und Geldsubjekte verstehen und andauernd an ihrer Selbstoptimierung arbeiten. Ihr möglichst makelloses Gesicht ist zum Markenzeichen mutiert und muss zu Werbezwecken in den „sozialen“ Netzwerken öffentlich gezeigt werden.
Die jungen Menschen wissen genau, dass ihre vielen virtuellen Freunde eigentliche mehr ihre Konkurrenten sind und ihr zukünftiges Leben an Reichtum, Konsumieren, Spaßhaben, individuelle Stärke und Durchsetzungsvermögen gemessen wird.
Sie wissen wahrscheinlich noch nicht, dass
- ihre Arbeitskraft im Zuge der dritten, der mikroelektronischen industriellen Revolution überflüssig geworden ist und nicht mehr gebraucht wird
- sie anders als noch ihre arbeitslosen Vorgängergenerationen, nicht zur industriellen Reservearmee gehören, die nach einer Krise wieder eingestellt werden, sondern dass sie überflüssig sind
- sich durch die Globalisierung und Rationalisierung die Produktivität immens erhöht hat, aber die Anzahl der Arbeitsplätze nicht. Eher hat sich die weltweite Massenarbeitslosigkeit strukturell verfestigt
- sie keine durchgängige Beschäftigungsbiografie haben werden, sie meist flexible Beschäftigungsverhältnisse eingehen müssen, die kaum eine Lebensplanung ermöglichen und sie sich nicht um eine ausreichende Altersvorsorge kümmern können
- im Konkurrenzkampf soziales Verhalten als Schwäche ausgelegt wird, Gesund- und Fittsein ausgestrahlt werden müssen, sie ständig erreichbar und mobil sein müssen und nirgendwo Wurzeln schlagen können
- wenn sie eine Arbeit haben, sie ständig einer Überforderung ausgesetzt sein werden, die sie langfristig körperlich und seelische erkranken lässt.
Die hohe Zahl der Hartz-IV-Bezieher in den letzten 10 Jahren räumt mit dem Vorurteil auf, dass dies nur eine kleine Minderheit betrifft, die nun mal in prekären Verhältnissen lebt.
Es dürfte wohl einmalig in den westlichen Industrieländern sein, dass der Staat bisher ein Fünftel seiner Bürger einem brutalen Repressionssystem aussetzt.
Ein zentrales Moment der Hartz-IV Gesetzgebung ist die Verbreitung der Angst, sich diesem System unterwerfen zu müssen, zugleich ein wesentliches Element der Disziplinierung, die erst die Politik der Lohnsenkung und des Abbaus des Sozialstandards ohne großen Widerstand in der Bevölkerung möglich machte.
Hartz-IV war die Voraussetzung für den Angriff auf das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes. Begleitet von einer ideologischen Mobilmachung, die Opfer zu Tätern erklärt, Menschen in ihrer Not nicht nur im Stich lässt, sondern ihnen auch Schuld an ihrer Situation zuschreibt.
Hier wird auch die Funktion der Sanktionen deutlich. Sie sind immer Strafe und Legitimation zugleich.
Die Bestrafung ist immer wieder verschärft worden, damit die Legitimation von Hartz IV nicht in Frage gestellt wird. Da wurde z.B. Jobcentermitarbeiter, die für Ordnungswidrigkeiten zuständig sind, ähnliche Kompetenzen eingeräumt wie Staatsanwälte. Sie können Bußgelder bis zu 5.000 Euro gegen Leistungsbezieher verhängen, die „Angaben nicht, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig gemacht“ haben oder der Auskunft Dritter – etwa des Vermieters oder Arbeitgebers – nicht zustimmen. Selbst gegen Verwandte oder Bekannte des Leistungsberechtigten können sie vorgehen, wenn sie eine Beziehung vermuten oder Anhaltspunkte dafür annehmen, dass diese Vermögensgegenstände für Betroffene aufbewahren.
Das Einzige, was sie noch nicht dürfen, sind freiheitsentziehende Maßnahmen anzuordnen.
Da werden Grundrechte geschleift, wie bei der Umzugserlaubnis, wobei ein Umzug nur noch genehmigt wird, wenn die neue Wohnung billiger als die alte ist. Oder die erneut erweiterten Kontrollmöglichkeiten, die einen monatlichen Datenabgleich zur Ermittlung von Einkommen oder Ausgaben des Betroffenen und seiner Angehörigen ganz ohne deren Zustimmung ermöglichen.
Es geht konkret darum, sich dem Markt vollständig zu unterwerfen, um nicht zu verhungern oder obdachlos zu werden.
Die Aussicht auf Hartz-IV hindert aber auch die Arbeitsplatzbesitzer daran, ihre Rechte einzufordern. So kann der bisher tarifentlohnte Beschäftigte ohne Murren zum prekär Beschäftigten werden und der Leiharbeiter, im 10. Jahr der Leiharbeit angekommen, dankbar sein, dass das Jobcenter ihm und seiner Familie das Erwerbseinkommen aufstockt und er froh darüber ist, dass man aus ihm noch keinen „richtigen Hartz-IVer“ gemacht hat.
Genau diese Entwicklung war mit den Hartz-Gesetzen beabsichtigt.
Für die hohe Zahl der Armen und Hartz-IV-Bezieher schämt sich von den Verantwortlichen niemand – warum auch, solche Horrorzahlen dienen der Disziplinierung.
Quellen: BA, junge Welt