Die Europäische Union will ihre Regeln für Asylverfahren noch einmal verschärfen, aber die Hauptverantwortung den Ländern an den Außengrenzen überlassen. Minos Mouzourakis von »Refugee Support Aegean« (RSA), unserem Team in Griechenland, erklärt die Konsequenzen, die von der Reform des »Gemeinsamen Europäischen Asylsystems« (GEAS) erwartet werden.
PRO ASYL: Minos, kannst du die aktuelle Situation in Griechenland beschreiben? Wir sprechen über Griechenland als eine Art Blaupause für die europäischen Pläne im Hinblick auf Grenzverfahren.
Minos Mouzourakis: Für Griechenland gelten zunächst die gleichen Regeln wie für Deutschland und andere Länder. Grob gesagt haben wir in den letzten Jahren eine Reihe schwerwiegender Verletzungen des Asylrechts durch aufeinanderfolgende Reformen und schlechte Praktiken erlebt, insbesondere nach dem EU-Türkei-Abkommen. Bedauerlicherweise sollen diese Praktiken, soll diese verfehlte Politik nun in der EU-Gesetzgebung verankert werden. Verstöße gegen zentrale Rechtsgrundsätze werden also zur neuen Normalität, nicht nur für Griechenland, sondern für die gesamte EU.
Was wird sich in Griechenland mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem ändern, wenn die neuen Pläne, zum Beispiel in Bezug auf die »Fiktion der Nichteinreise«, umgesetzt sind?
Das Ergebnis dieser Reform wird eine Absenkung der Standards über die Grenzen hinweg und ein Abbau des Schutzes in Griechenland sein. Die so genannte »Fiktion der Nichteinreise«, die an den Grenzen und auf den Inseln gilt, würde bedeuten, dass die Menschen sich rechtlich gesehen nicht auf griechischem Boden befinden. Das ist etwas, was Deutschland durch sein Flughafenverfahren nur zu gut kennt. Daher wissen wir, dass die einzige Möglichkeit, dies rechtlich durchzusetzen, der massenhafte Freiheitsentzug ist. Wenn dies auf den griechischen Inseln geschehen würde, wäre das eine fundamentale Veränderung eines ohnehin schon schwierigen Umfelds hin zu einer völlig explosiven Situation.
Du hast erwähnt, dass sich die Möglichkeiten zur Beantragung auf Asyl in Griechenland, insbesondere auf den Inseln, ändern könnten. Wie sieht es derzeit damit aus?
Eine der wichtigsten Änderungen ist die Einschränkung der Möglichkeiten, Zugang zum Asylsystem zu bekommen, indem die Absicht geäußert wird, Schutz in der EU zu erhalten. Gegenwärtig geht aus dem Völkerrecht und der Rechtsprechung des EU-Gerichtshofs eindeutig hervor, dass es dafür keine Einschränkungen oder Formalitäten gibt. Eine Person kann die Worte »Ich brauche Schutz« aussprechen oder nachweisen, dass sie Schutz benötigt und den Status eines Asylsuchenden erhalten, bis ihr Antrag tatsächlich geprüft wird.
» Ein Schutzgesuch würde die Menschen nicht mehr vor Abschiebung, willkürlicher Festnahme, Inhaftierung und allen möglichen anderen negativen Folgen für ihre Grundrechte schützen.«
Die Mitgliedstaaten wollen diese Möglichkeit, einen Antrag auf Schutz zu stellen, nun einschränken, so dass dies nur persönlich und nur vor bestimmten Behörden erfolgen kann. Dies würde in Zukunft bedeuten, dass es nicht als Antrag auf Schutz gelten würde, wenn jemand nach dem Übertreten der Grenze einem griechischen Soldaten mitteilt, dass er Schutz benötigt. Dieses Schutzgesuch würde die Menschen nicht mehr vor Abschiebung, willkürlicher Festnahme, Inhaftierung und allen möglichen anderen negativen Folgen für ihre Grundrechte schützen.
Was die so genannten »sicheren Drittstaaten« betrifft, könnte Griechenland ebenfalls ein Vorbild sein, da die Türkei von Griechenland zu einem »sicheren Drittstaat« erklärt wurde. Welche Erfahrungen hast du mit diesem Thema gemacht?
Das Konzept der »sicheren Drittstaaten« ist eines der Kernelemente der Aushöhlung des griechischen Asylsystems seit 2016. Zehntausende von Asylanträgen wurden willkürlich und systematisch abgelehnt, ohne dass geprüft wurde, ob die Menschen Schutz brauchen. Allein aufgrund der Annahme, dass die Türkei ein Land ist, in dem sie Schutz finden können – ohne dass das nachzuweisen wäre. Mit der GEAS-Reform wird dieser äußerst negative, äußerst schädliche Präzedenzfall durch eine umfassende Ausweitung des Konzepts des sicheren Drittstaates in EU-Recht umgewandelt. Nach der von den Mitgliedstaaten vertretenen Auffassung könnte die EU dann sichere Länder auf EU-Ebene oder auf nationaler Ebene benennen.
In der Praxis wird es dann möglich sein, Länder als »sichere Drittstaaten« zu bezeichnen, auch wenn sie ihre eigenen Staatsangehörigen verfolgen, es also Länder sind, die selbst Flüchtlinge hervorbringen. Es wäre möglich, sie als »sichere Drittstaaten« zu bezeichnen, auch wenn sie Flüchtlingen keinerlei rechtlichen Status erteilen. Für die Einstufung »sicher« reicht als Grundlage dann ein einziges Abkommen, in dem ein Land eine faire und vorschriftsmäßige Behandlung der Menschen und das Recht, dort zu bleiben, zusichert, ohne dass es einen richtigen Aufenthaltsstatus gibt und ohne, dass das nachprüfbar oder einklagbar wäre.
Kannst du Beispiele aus der Praxis nennen, was dann passieren könnte?
Ein praktisches Beispiel, das nicht allzu weit von unseren Erfahrungen entfernt ist: Griechenland bezeichnet die Türkei als »sicheres Drittland«, obwohl die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht für Menschen aus Staaten außerhalb der EU ratifiziert hat. Die Türkei hält sich nicht an die Regeln des internationalen Flüchtlingsrechts, und es gibt gut dokumentierte, seriöse und fundierte Berichte, die auf systematische Mängel und die Missachtung internationaler Normen hinweisen, wodurch syrische Flüchtlinge systematisch nach Syrien oder afghanische Flüchtlinge zurück nach Afghanistan gezwungen werden.
Die griechischen Behörden vertreten in der Regel den Standpunkt, dass ihre türkischen Amtskollegen in Briefen an die EU versichert haben, dass Flüchtlinge im Einklang mit den Standards behandelt werden, und dann werden alle Beweise dafür, wie die Menschen vor Ort tatsächlich behandelt werden, völlig außer Acht gelassen.
Das könnte die Tür für Länder öffnen, die sich nicht nur nicht an die Genfer Flüchtlingskonvention halten, sondern Flüchtlingen auch keinerlei Dokumente ausstellen. Der Iran ist ein gutes Beispiel in Bezug auf afghanische Flüchtlinge, von denen viele dort leben, ohne irgendeinen rechtlichen Status oder eine Anerkennung durch den Staat zu haben.
Welche Auswirkungen könnten die Änderungen im Dublin-Verfahren, mit den verlängerten Fristen, für Griechenland haben? Möglicherweise wird es dann häufiger zu Abschiebungen aus Deutschland kommen.
Ich denke, einer der wichtigsten Aspekte, der zeigt, dass diese Reform ständig und grundlegend falsch dargestellt wird, ist tatsächlich die Beibehaltung der Dublin-Regeln. Schon 2020 war die Rede davon, dass das Dublin-System gescheitert sei und durch einen neuen Ansatz ersetzt werden würde. Nur um am Ende mit einer extrem komplexen und verworrenen Verordnung dazustehen, die alle wesentlichen Merkmale von Dublin beibehält.
Für Mitgliedstaaten, bei denen die erste Einreise erfolgt, wie z.B. Griechenland, ist die Verantwortung größer. Und die seit jeher bestehenden Kriterien werden sogar verschärft. Der Zeitraum, für den ein Land nach den derzeitigen Vorschriften verantwortlich ist, beträgt bislang ein Jahr. Nach den neuen Regeln werden es zwei Jahre sein. Für Länder wie Deutschland und andere wird es damit einfacher sein, Menschen in Länder wie Griechenland zurückzuschicken, selbst wenn das Aufnahmeland die Überstellung nicht akzeptiert hat. Außerdem sind die Überstellungsfristen für Länder wie Deutschland viel großzügiger, viel länger. Dies würde nicht nur zu mehr Rückführungen in unsichere Länder führen, sondern auch zu einem ewigen Schwebezustand für Menschen, die in einem Mitgliedstaat festsitzen, ohne tatsächlich Zugang zu einem Asylverfahren zu haben.
Für Menschen, die in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt wurden, gelten ähnlich strenge Beschränkungen – das betrifft z.B. auch mehrere zehntausend Flüchtlinge in Deutschland, die zuvor in Griechenland Schutz erhalten haben. Deutschland könnte die Asylanträge dieser Menschen abweisen, ohne sie überhaupt zu befragen. Dies würde zu einer direkten Ablehnung und zur Rückführung führen, obwohl Griechenland, wie die deutschen Gerichte festgestellt haben, keine menschenwürdige Behandlung dieser Menschen garantiert.
»Angesichts der derzeitigen Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei könnten wir uns ein Szenario vorstellen, in dem jede einzelne Ankunft aus der Türkei als Versuch der »Instrumentalisierung« von Flucht und Migration für eigene Zwecke ausgelegt werden könnte«
Die EU diskutiert die sogenannte »Instrumentalisierungsverordnung« und will sie ins GEAS aufnehmen. Was könnte dadurch passieren?
Die »Instrumentalisierung« ist offensichtlich von den griechischen Erfahrungen beeinflusst. Es ist eine Idee, die im griechischen Diskurs immer wieder vorgebracht wird. Sie wird als Grundlage für den Abbau von Standards verwendet, um Menschen den Zugang zu Schutz zu verwehren.
Angesichts der derzeitigen Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei könnten wir uns ein Szenario vorstellen, in dem jede einzelne Ankunft aus der Türkei als Versuch der »Instrumentalisierung« von Flucht und Migration für eigene Zwecke ausgelegt werden könnte, was eine ganze Reihe von Ausnahmeregelungen auslösen würde.
Und wie würden sich die neuen Vorschriften auf Eure Möglichkeiten zur Unterstützung von Flüchtlingen auswirken?
Die Auswirkungen, die wir von der GEAS-Reform erwarten, sind erdrückend negativ. Wenn diese Reform verabschiedet wird, wird der Zugang zu Menschen, die rechtlichen Beistand benötigen, sehr viel schwieriger werden, vor allem wenn sie in geschlossenen, unzugänglichen und unübersichtlichen Haftanstalten untergebracht werden. Und die Vorschriften, gegen die wir dann ankämpfen müssen, werden extrem komplex sein.
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Minos Mouzourakis ist Legal & Advocacy Officer bei Refugee Support Aegean (RSA). RSA wurde 2017 gegründet und ist »implementing partner« von PRO ASYL in Griechenland. Das Team besteht aus Anwält*innen, Sozialarbeiter*innen, Wissenschaftler*innen, Medienschaffenden und Dolmetscher*innen mit umfangreicher und langjähriger Erfahrung im Bereich Flüchtlingsschutz in Griechenland.
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Das Interview führten Max Klöckner & Jonas Bickmann im Juli in Athen.
Quelle: PRO ASYL – Der Einzelfall zählt Bild: nord dgb.de