Kinderarmut beginnt mit niedrigen Löhnen

Von Christoph Butterwegge

Wir brauchen eine konsequente Beschäftigungspolitik. Mit ihr ließe sich die Erwerbslosigkeit verringern und der sozialen Ungleichheit nachhaltig entgegenwirken. Sie müsste von Zukunftsinvestitionsprogrammen des Bundes und der Länder bis zur Schaffung eines öffentlich geförderten Dienstleistungssektors reichen. Gerade nach der Covid-19-Krise wird das nötiger denn je sein.

Soziale Ungleichheit bei Kindern erwächst aus einer Ungleichverteilung der Ressourcen von Haushalten mit Kindern, die maßgeblich vom Erwerbseinkommen der Eltern(teile) bestimmt wird. Da Kinderarmut fast immer auf Elternarmut zurückzuführen ist, die aus einer exkludierten oder Randstellung am Arbeitsmarkt resultiert, konzentrieren sich Erfolg versprechende Gegenstrategien auf Maßnahmen, welche nicht armutsfeste Löhne und Gehälter so anheben, dass man „von Arbeit wieder leben“ und eine Familie mit seinem Einkommen unterhalten, fördern und sozial absichern kann.

Die Mindestlohn-Kommission ist eine große Schwachstelle

Aus dem Umstand, dass die Armut nicht mehr nur Erwerbslose trifft, sondern in Teilbereiche der Arbeit vorgedrungen ist, haben CDU, CSU und SPD nach langem Zögern die Konsequenz eines gesetzlichen Mindestlohns gezogen. Heute gilt ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn, der zum 1. Juli 2021 auf 9,60 Euro brutto pro Stunde erhöht wurde.

Zwar scheint der Mindestlohn die Massenkaufkraft aufgrund deutlicher Lohnerhöhungen gestärkt und die Binnenkonjunktur belebt zu haben, weniger erfolgreich war er allerdings bei der Armutsbekämpfung, gleichfalls einem wichtigen Ziel. Die größte Schwachstelle des großkoalitionären Mindestlohns liegt vermutlich darin, dass er nicht politisch festgelegt wird, sondern auf der Basis des Votums einer paritätisch besetzten Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften, einem „neutralen“ Vorsitzenden sowie zwei nicht stimmberechtigten Wissenschaftler*innen, die sich nachlaufend an der Tariflohnentwicklung orientiert. Dabei ist ein gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland gerade deshalb nötig, weil die Gewerkschaften selbst in Branchen mit einem relativ hohen Organisationsgrad der Beschäftigten inzwischen zu schwach sind, um nennenswerte Tariflohnsteigerungen zu erkämpfen.

Wie auch das Arbeitslosengeld II, bei dem Bezieher*innen zusätzlich erwerbstätig sein müssen, um menschenwürdig leben zu können, ist der Mindestlohn so konstruiert, dass ergänzend Arbeitslosengeld II bezogen werden muss, weil seine Höhe kaum zur Deckung des Lebensunterhalts ausreicht. Schließlich muss man über den Lohn sowohl Miete wie Heizkosten erwirtschaften, die bislang das Jobcenter bezahlt hat, und zudem die Differenz zwischen dem Kindergeld und dem Hartz-IV-Regelsatz für Kinder. Obendrein entfällt das Bildungs- und Teilhabepaket mit seinen ergänzenden Leistungen, die von A (Ausflugsfinanzierung) bis Z (Zahlung eines gemeinschaftlichen Mittagessens) reichen. Folglich sind die Hürden ziemlich hoch – mit dem Mindestlohn allein ist das kaum zu schaffen, höchstens mit Hilfe von Wohngeld und Kinderzuschlag.

Bisher erreicht der Mindestlohn in Deutschland nicht einmal 50 Prozent des mittleren Lohns. Durch ihn wird höchstens eine weitere Lohnspreizung verhindert und der Niedriglohnsektor nach unten abgedichtet, aber nicht eingedämmt oder gar abgeschafft. Das wäre jedoch nötig, um (Kinder-)Armut und soziale Ausgrenzung wirksam zu bekämpfen. Nur ein Mindestlohn in existenzsichernder Höhe, die Streichung sämtlicher Ausnahmen für besonders vulnerable Gruppen wie Langzeitarbeitslose, Jugendliche ohne Berufsabschluss und Kurzzeitpraktikanten sowie eine flächendeckende Überwachung durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls könnten bewirken, dass der Mindestlohn überall ankommt.

Mini- und Midijobs müssen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse werden

Damit der Mindestlohn seine Wirkung als Instrument zur Armutsbekämpfung entfalten kann, sollte er nach angloamerikanischem Vorbild zu einem »Lebenslohn« (living wage) weiterentwickelt werden, der nicht bloß die Existenz, sondern auch die Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben ermöglicht. Dafür bietet sich die in der Europäischen Union geltende Armutsgefährdungsschwelle von 60 Prozent des Medianeinkommens als Untergrenze an. Dies hieße für Deutschland, dass der Mindestlohn umgehend auf mehr als 12 Euro steigen müsste.

Die von der Covid-19-Pandemie mit ausgelöste Krise der Ökonomie hat den Stellenwert einer aktiven Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik des Staates unterstrichen. Zu den Maßnahmen, die notwendig sind, um eine Reregulierung des Arbeitsmarktes zu bewirken, gehört die Stärkung der Tarifbindung. Das zuständige Bundesarbeitsministerium sollte Tarifverträge auch dann für allgemeinverbindlich erklären können, wenn die Arbeitgeberseite damit nicht einverstanden ist. Mini- und Midijobs müssen in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt, sachgrundlose Befristungen ausgeschlossen und Leiharbeitsverhältnisse entweder ganz verboten oder wieder stärker reguliert werden.

Da die Arbeitsplatzsicherheit im Gefolge der digitalen Transformation unter dem Stichwort »Industrie 4.0« eher abnehmen wird, wenngleich der Gesellschaft deshalb nicht – wie vielfach befürchtet – die Lohnarbeit ausgeht, gewinnen einige Dinge erheblich an Bedeutung, um humane Lebensverhältnisse zu sichern: der Schutz des soziokulturellen Existenzminimums, die Gewährleistung der Qualifikation von abhängig Beschäftigten durch Weiterbildungs- bzw. Umschulungsmaßnahmen sowie die Bereitstellung von und der allgemeine Zugang zu einer modernen öffentlichen Infrastruktur – vornehmlich im Bereich der Bildung, der Mobilität und der Umwelt.

Zwar ist die Arbeitslosenquote im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs nach dem starken Konjunktureinbruch im Jahr 2009 stetig gesunken, weitere Schritte zur Vollbeschäftigung wären aber gerade nach der Covid-19-Pandemie von zentraler Bedeutung für die Bekämpfung der (Kinder-)Armut. Eine konsequente Beschäftigungspolitik würde nicht bloß die Erwerbslosigkeit verringern, sondern auch der sozialen Ungleichheit nachhaltig entgegenwirken. Sie müsste von Zukunftsinvestitionsprogrammen des Bundes und der Länder bis zur Schaffung eines öffentlich geförderten Dienstleistungssektors alle Möglichkeiten der staatlichen Interventionstätigkeit für die Schaffung von mehr Stellen nutzen.

Löhne und Gehälter für typische Frauenberufe müssen deutlich steigen

Einen wichtigen Hebel zur Verringerung der Erwerbslosigkeit bildet die Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Durch ein gesetzliches Verbot bezahlter Überstunden könnte man erreichen, dass Mehrarbeit nur noch per Freizeitausgleich abgegolten wird. Da sich Kinderarmut in der Regel auf Frauen- bzw. Mütterarmut zurückführen lässt, liegt ein weiteres Instrument zu ihrer Verringerung in einer Steigerung der weiblichen Erwerbsbeteiligung sowie einer Anhebung der Löhne und Gehälter in typischerweise von Frauen ausgeübten Berufen. Dies setzt sowohl eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familienarbeit und Berufstätigkeit durch Schaffung von mehr (Teilzeit-)Stellen wie auch die Schaffung von mehr öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen voraus.

Unabdingbar ist eine (gesetzlich zu regelnde) Rückbindung der Arbeit selbst wie der Arbeitszeitregelungen in Betrieben und öffentlichen Verwaltungen an die Lebensbedürfnisse der Beschäftigten und ihrer Familien, was eine Neujustierung des Normalarbeitsverhältnisses erfordert: Beschäftigte müssten zwischen Vollzeit-, Teilzeitarbeit und Arbeitsunterbrechung ohne Verluste an sozialer Sicherung und Weiterbildungsmöglichkeiten wechseln können, und Arbeitgeber sowohl in der Arbeitszeitgestaltung wie auch beim Arbeitsvolumen auf die unterschiedlichen, im Lebensverlauf wechselnden Interessen der Beschäftigten mehr Rücksicht nehmen.

Die im Januar 2019 eingeführte »Brückenteilzeit« gilt nur in Betrieben mit in der Regel über 45 Beschäftigten und räumt dem Arbeitgeber das Recht ein, den Wunsch nach Verringerung der Arbeitszeit abzulehnen, soweit ihm betriebliche Gründe entgegenstehen. Nötig wäre stattdessen eine Arbeitszeitverkürzung mit Lohn- und Personalausgleich insbesondere für jene, die zu viel arbeiten (müssen), sowie eine Umverteilung von Arbeit, um den Kreis Erwerbstätiger mit existenzsichernden Einkommen zu verbreitern.

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Der Autor:

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Von ihm sind zuletzt erschienen die Bücher: „Armut“ und „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?“ (aktualisierte Neuauflage). Gemeinsam mit Kuno Rinke hat er Buch „Grundeinkommen kontrovers. Plädoyers für und gegen ein neues Sozialmodell“ bei Beltz Juventa 8 herausgegeben und mit Gudrun Hentges sowie Gerd Wiegel den Band „Rechtspopulisten im Parlament. Provokation, Agitation und Propaganda der AfD“ (Westend Verlag) verfasst. Gerade ist auch sein Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ bei Beltz Juventa in einer verbesserten 2. Auflage herausgekommen.

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Am 18.8., erscheint bei Campus das Buch „Kinder der Ungleichheit“ (304 Seiten, 22,95 €), das Carolin und Christoph Butterwegge zusammen verfasst haben.

 

 

 

 

Quelle: https://gegenblende.dgb.de/

Bild: Wohnungslosenhilfe Oldenburg